Montag, 19. Februar 2024

Kulturbrief 14: "Wir sitzen im Dickicht und weinen" - ein lesenswertes Romandebüt

 Meine Rezension zum gelungenen Roman von Felicitas Prokopetz (OÖN 17.2.24)

Valerie hat es nicht leicht. Ihre Mutter, zu der sie ohnedies eine durchwachsene Beziehung hat, erkrankt an Krebs. Valeries sechzehnjähriger Sohn Tobias hält sich für einen Erwachsenen und möchte mit zwei Freunden ein Schuljahr in England verbringen, was Valerie für zu gefährlich hält. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt Felicitas Prokopetz den Plot ihres Debütromans „Wir sitzen im Dickicht und weinen“. Unterbrochen wird die Haupthandlung durch markante Rückblenden in die Familiengeschichte bis zu den Urgroßmüttern.

Valeries Mutter Christina stammt aus einer konservativen Schweizer Lehrerfamilie. Sie gehört zur Pioniergeneration der Frauenemanzipation. Ihre Ehe mit Roman ist bald zerbrochen, und Roman hat nicht nur das Interesse an seiner Ex-Frau, sondern auch an seiner Tochter verloren. Christina wiederum verbraucht viele Lebensjahre für ein Langzeitstudium, das aber keine Grundlage für ein solides finanzielles Auskommen liefert.

Dennoch ist Christina davon überzeugt, dass sie für ihre Tochter immer das Bestmögliche getan hat, eine Überzeugung, die Valerie nicht teilen kann. Den antiautoritären Erziehungsstil ihrer Mutter erlebte sie vor allem als Vernachlässigung aus egoistischen Motiven. Der emotionale Anker des Kindes war Großmutter Charlotte. Aus der Tochter-Perspektive ist Christina eine emotional labile Frau, selbstgerecht und selbstmitleidig, empfindlich, aber unsensibel im Umgang mit anderen.

Dass Valerie als Jugendliche fast den Boden unter den Füßen verloren hätte, sieht sie auch als Versagen ihrer Mutter. Aus der dunklen Welt von Schulabbruch, Alkohol- und Drogenmissbrauch hat sie die Liebesbeziehung mit Benedikt und die frühe Schwangerschaft befreit. Dass ihr ausgerechnet Christina jetzt vorwirft, perfektionistisch und kühl zu sein, empört Valerie. So belastet die Mutter-Tochter-Beziehung aber auch ist, ausgerechnet jetzt, in den Monaten nach Christinas Krebserkrankung, hätte es nicht zum Zerwürfnis kommen dürfen.

Das ist ein Stoff, aus dem andere Autorinnen ein voluminöses Generationenepos machen würden. Felicitas Prokopetz, eine Meisterin der Verdichtung, bringt ihn auf 200 Seiten unter. Sie schreibt skizzenhaft und episodisch, reduziert die Fülle des Materials auf Wesentliches. Die Autorin hat an der Universität Wien Sprachkunst und am deutschen Literaturinstitut Leipzig Literarisches Schreiben studiert, und sie hat Praxiserfahrung als Gebrauchstexterin. Diese solide „handwerkliche“ Grundlage erkennt man. Mit Gespür für eine kompakte Textstruktur gestaltet Felicitas Prokopetz die Zeitsprünge. Durch gezielten Perspektivenwechsel verdeutlicht sie, wie sehr die Figuren in ihrer Selbstwahrnehmung befangen sind. Ihre Erzählsprache ist scheinbar einfach, tatsächlich aber von schlichter, unaufdringlicher, mitunter heiterer Eleganz; und in den knappen Dialogen sitzt wirklich jeder Satz. Kurzum, „Wir sitzen im Dickicht und weinen“ ist ein überaus gelungenes, lesenswertes Debüt.

Felicitas Prokopetz: „Wir sitzen im Dickicht und weinen“, Eichborn, 204 Seiten, 22,80 Euro

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