Das soziale Gift der Revolution
Am Anfang steht die verlockende Aussicht auf eine starke
Geschichte. Michael Köhlmeier erzählt, er sei im Jahr 2008 zur Geburtstagsfeier
einer Hundertjährigen eingeladen worden, was ihn verwundert habe. Denn zur
berühmten Architektin Anouk Perleman-Jacob habe er bis dahin keinerlei
persönlichen Kontakt gehabt. Die schwerhörige, gebrechliche, aber geistig
frische Jubilarin vertraut dem Autor den Grund der Einladung an. Sie möchte,
dass er sie ab nun täglich besucht, um ihre Geschichte zu hören…
Von Anfang an betreibt Michael Köhlmeier in seinem neuen
Roman „Das Philosophenschiff“ sein geistvolles Spiel mit Fakten und Fiktionen.
Eine reale Anouk Perleman-Jacob gibt es zwar nicht, einige Ähnlichkeiten mit
Margarete Schütte-Lihotzky sind aber kein Zufall. Die Lebensgeschichte der
fiktiven Perleman-Jacob, die sie dem Autor in mehreren Sitzungen anvertraut,
ist zwar in historischen Fundamenten verankert. So manches Teilereignis kann
aber gar nicht so verlaufen sein, wie es die alte Dame erzählt. Sie gesteht,
dass sie manchmal ein bisschen lügt.
Geboren wurde die weibliche Hauptfigur 1908 in St.
Petersburg. Der Vater war Architekt, die Mutter Ornithologin. Abgesehen von
einem nervösen Durcheinander im Liebesleben der Eltern verlief Anouks Kindheit
einigermaßen günstig. Zur ersten schlimmen Bruchstelle kommt es im Jahr 1922.
Lenin lässt etwa 400 Intellektuelle ausweisen. Trotzki rechtfertigt die Ausweisung
als humanitären Akt. Würde man diese möglicherweise unzuverlässigen Leute im
Land lassen, müsste man sie wahrscheinlich irgendwann als „Agenten des Feindes“
liquidieren. Auf einem Luxusdampfer schwimmt nun ein knappes Dutzend Exilierter
gegen Westen, unter ihnen Anouk und ihre Eltern, die in keiner Weise politisch
aktiv waren und sogar mit den Bolschewisten sympathisierten.
Mit seiner wohltemperierten Mischung aus politischem
Scharfblick und erzähltechnischer Meisterschaft seziert Michael Köhlmeier in
seinem neuen Roman die Herrschaftsmechanismen der bolschewistischen Diktatur.
Einerseits die erschreckende Gewaltbereitschaft, andererseits die systematische
Vergiftung sozialer Beziehungen in einer Gesellschaft, in der jeder ein Denunziant
oder ein „Agent des Feindes“ sein könnte. Jede Wahrnehmung wird zum
mehrdeutigen Zeichen. Alles könnte verdächtig sein, sogar das schlichte Naturgedicht
einer Lyrikerin – gerade wegen seiner scheinbaren Harmlosigkeit!
Das Misstrauen wird zur ständigen Begleiterin und legt sich
als partiell lächerliche Kollektivparanoia über die Gesellschaft – bis die
Revolutionsführer anfangen, sich gegenseitig zu misstrauen. Diese Erfahrung
macht letztlich auch Lenin, zumindest im Roman „Die Philosophenschule“, einem ganz
heißen Lesetipp, besonders für Zeitgenossen, die sich noch immer gerne süße,
kleine Lenin-Statuen aufs Bücherregal stellen und sie mit tränenfeuchter
Nostalgie anlächeln.
Erschienen in OÖN am 27.1.24
Michael Köhlmeier: „Das Philosophenschiff“, Roman, Hanser,
220 Seiten, 24,70 Euro
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