1. HANDLUNG UND SZENISCHER AUFBAU
Erster Auftritt
Das Stück spielt zur Zeit des Trojanischen Krieges. Odysseus berichtet
Antilochus (eig. Antilochos), einem griechischen Fürsten und Freund des Achill,
von der seltsamen Entwicklung des Kampfes. Die Griechen hatten erfahren, dass
eine Amazonenheer unter deren Königin Penthesilea anrücke, um die Troer zu
unterstützen. Tatsächlich marschierten die Amazonen heran, nahmen aber mit den
Troern Kampfhandlungen auf. Die Griechen meinten die Amazonenkönigin auf ihrer
Seite, wurden aber auch angegriffen, sodass die größte Verwirrung entstand,
Troer und Griechen gemeinsam gegen Amazonen kämpften – ohne eigentlich zu
wissen warum. Dem Bericht des verwunderten Odysseus ist auch zu entnehmen, dass
Achill auf die Amazonenkönigin einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht hat. Als
sie nämlich den „Peliden“ (d.i. Achill) erblickte, färbte ihr die „Glut (...)
bis zum Hals hinab, / Das Antlitz (...), als schlüge rings um ihr / Die Welt in
helle Flammenlohe auf.“ Rätselhaft ist Odysseus allerdings, warum Penthesilea
Achill auch im Kampf immer wieder sucht:
„So folgt, so hungerheiß, die Wölfin nicht,
Durch Wälder, die der Schnee bedeckt, der
Beute,
Die sich ihr Auge grimmig auserkor,
Als sie, durch unsre Schlachtreihn, dem Achill.“
Als Penthesilea
Achill in ihre Gewalt gebracht hatte, schenkte sie ihm das Leben. Aber Achill
ist auch seinerseits auf die Amazonenkönigin fixiert. Odysseus und Antilochos
sind der Ansicht, man solle diesen Schauplatz verlassen und die griechische
Kampfkraft wieder auf Troja konzentrieren, aber Achill hat geschworen, er
weiche nicht „eher / Von dieser Amazone Ferse (...) / Bis er bei ihren seidnen
Haaren sie / Von dem gefleckten Tigerpferd gerissen.“
Zweiter
bis vierter Auftritt
Im zweiten Auftritt schildert ein griechischer Hauptmann den weiteren
Verlauf des Kampfs zwischen Griechen und Amazonen. Nach einem Unfall mit dem
Pferdewagen ist Achill, so vermutet man, in die Hände der kriegerischen Frauen
gefallen. Odysseus ist entschlossen ihn zu befreien. Aber erneut tritt eine
unerwartete Wendung ein. Der Vorfall wird von Kleist in Form einer Teichoskopie
(Mauerschau) dargestellt: Achill ist am Horizont zu erkennen, er kehrt
offensichtlich mit seinem Viergespann zurück, wird aber wieder von Penthesilea
verfolgt. Als sie Achill fast eingeholt hat, bringt dieser sie durch eine List
zu Fall. Nun eilt auch Odysseus mit seinem Heer zu Hilfe – und Achill ist
gerettet. Der Rückkehr auf den trojanischen Kriegsschauplatz scheint nichts
mehr im Wege zu stehen. Aber Achill hört gar nichts von den weiteren
Kampfplänen, die ihm Diomedes und Odysseus erläutern. Für ihn hat etwas anderes
Priorität: Penthesilea zu seiner Braut zu machen.
„Im Leben keiner Schönen war ich spröd;
Seit mir der Bart gekeimt, ihr lieben
Freunde,
Ihr wißts, zu Willen jeder war ich gern :
Und wenn ich dieser mich gesperrt bis heute,
Beim Zeus, des Donners Gott, geschahs, weil
ich
Das Plätzchen unter Büschen noch nicht fand,
Sie ungestört, ganz wie ihr Herz es wünscht,
Auf Küssen heiß von Erz im Arm zu nehmen.
Kurz, geht: ins Griechenlager folg ich euch;
Die Schäferstunde bleibt nicht lang mehr aus:
Doch müßt ich auch durch ganze Monden noch,
Und Jahre, um sie frein: den Wagen dort
Nicht ehr zu meinen Freunden will ich lenken,
Ich schwörs, und Pergamos nicht wiedersehn,
Als bis ich sie zu meiner Braut gemacht,
Und sie, die Stirn bekränzt mit Todeswunden,
Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen. (...)“
Fünfter
bis siebenter Auftritt
Die Amazonen wollen das Rosenfest feiern. Sie haben zahlreiche Krieger
besiegt und gefangen genommen. Dem üblichen Amazonenritual zufolge werden diese
Männer nun mit Rosen geschmückt und zur Zeugung „verwendet“. Auf diese Weise
stirbt der Amazonen-Staat, der ja nur aus Frauen besteht, nicht aus. Königin
Penthesilea ist aber noch nicht bereit zum Fest. Ihr einziges Ziel, Achill zu
überwinden, hat sie noch nicht erreicht. Ihr unbedingtes Festhalten an diesem
Ziel rechtfertigt Penthesilea durch die angebliche Bedrohung, die für die
Amazonen von Achill ausgeht. Vergebens versucht die Amazonin Prothoe
Penthesilea umzustimmen. Die Auseinandersetzung eskaliert. Letztlich bleibt
Penthesilea bei ihrem Entschluss, den Kampf gegen die Griechen wieder
aufzunehmen. Die Oberpriesterin trifft einstweilen die Vorbereitungen für das
Rosenfest. Die griechischen Gefangenen werden darüber aufgeklärt, dass ihnen
nicht Gefangenschaft oder gar der Tod bevorstehe, sondern ein rituelles
Liebesfest im Tempel der Göttin Artemis (Diana). Mittlerweile ist den Amazonen
auch klar geworden, dass ihre Königin von „Amors Pfeil“ getroffen worden ist.
Gerade die leidenschaftliche Fixierung auf einen bestimmten Mann ist aber den Amazonen verboten. Männer werden nicht
als Individuen geliebt, sondern nur als Mittel zur Fortpflanzung eingesetzt.
Achter und neunter Auftritt
Dadurch dass sie die Kampfhandlungen wieder aufgenommen haben, sind die
Amazonen in eine bedrohliche Lage geraten. Insbesondere ist Penthesilea in
direkter Konfrontation von Achill niedergeschlagen und verletzt worden. Achill
hätte es in der Hand gehabt, die Amazonenkönigin zu töten, aber eine
Heerführerin berichtet folgendes:
„Dreist der Erblassten naht er sich, er beugt
Sich über sie, Penthesilea! Ruft er,
In seinen Armen hebt er sie empor,
Und laut die Tat, die er vollbracht, verfluchend,
Lockt er ins Leben jammernd sie zurück (...)
Und wirft das Schwert hinweg, das Schild hinweg,
Die Rüstung reißt er von der Brust sich nieder
Und folgt – mit Keulen könnte man, mit Händen ihn,
Wenn man ihn treffen dürfte, niederreißen –
Der Kön’gin unerschrocknen Schrittes nach (...)“
Die schwer verwundete Penthesilea ist sich ihres inneren Konflikts
bewusst. Ihre Liebe zu Achill ist ein schwerer Verstoß gegen die soziale
Ordnung des Amazonenstaates. Die Neigung ist aber zunächst einmal stärker als
die Verpflichtung auf die sozialen Normen. Penthesilea verweigert den Amazonen
das Rosenfest, solange sie Achill nicht für sich gewonnen hat. Es ist
bezeichnend und skandalös, dass sie in ihrem Schmerz nicht Artemis, sondern
Aphrodite anruft! (Den Amazonen war es verboten, Männer mit den Mitteln zu
verführen, die der schönen Liebesgöttin Aphrodite zugeordnet werden!). Flucht
vor der drohenden Gefahr lehnt Penthesilea ab. Letztlich wünscht sich die
Königin sogar, von Achill besiegt und getötet zu werden.
„Lasst ihn mit Pferden häuptlings heim mich schleifen,
Und diesen Leib hier, frischen Lebens voll,
Auf offnem Felde schmachvoll hingeworfen,
Den Hunden mag er ihn zur Morgenspeise,
Dem scheußlichen Geschlecht der Vögel, bieten.
Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt.“
Zehnter bis fünfzehnter
Auftritt
Achill kommt freiwillig, ohne Rüstung und ohne Waffen, in das Lager der
Amazonen. Penthesilea ist aufgrund ihrer Verletzungen zunächst ohne
Bewusstsein. Sie hört nicht, dass Achill Prothoe seine Liebe zu Penthesilea
gesteht und sie bemerkt auch nicht, dass die Griechen das Amazonenheer besiegen
und die Gefangenen, die für das Rosenfest vorgesehen waren, befreien. Als die erwachende Königin
Achill erblickt, glaubt sie zunächst in die Hand der Feinde gefallen zu sein.
Aber Prothoe und der Pelide bemühen sich um die Klärung der Situation: Nicht
Penthesilea sei die Gefangene des Griechenfürsten, sondern Achill wolle sich
seinerseits Penthesilea unterwerfen und zwar „In jedem schönren Sinn (...)
/Gewillt mein ganzes Leben fürderhin, / In deiner Blicke Fesseln zu
verflattern.“ Damit ist freilich das Problem nicht gelöst. Denn nach dem Gesetz
der Amazonen darf sich Penthesilea nur mit einem Mann verbinden, den sie im
Kampf besiegt hat. Prothoe und Achill greifen in heimlicher Übereinkunft zu
einer List. Sie behaupten, Achill sei – nachdem er Penthesilea mit seiner Lanze
niedergeschlagen hatte – selbst von den Amazonen überwältigt worden, folglich
ein Gefangener im Sinne des Amazonengesetzes. So kennt Penthesilea weder die
Umstände, unter denen Achill zu ihr gekommen ist, noch weiß sie etwas von der
Niederlage der Amazonen gegen das Griechenheer. Diese Lügengebäude wird auf
Dauer nicht zu halten sein.
Aber vorderhand steigert sich im 15.Auftritt die Szene beinahe zum
Liebesidyll. Penthesilea erzählt Achill die Geschichte des Amazonenstaates und
klärt ihn über dessen Gesetze auf. Das skythische Volk, dem die Amazonen
entstammen, wurde eines Tages von Äthiopiern überfallen. Alle skythischen Männer
wurden gerettet, und die Eroberer bemächtigten sich der Frauen und des Landes.
Sie rechneten aber nicht mit weiblichem Widerstand. Unter der Führung ihrer
Königin Tanais übten die skythischen Frauen furchtbare Rache. Sie bewaffneten
sich in aller Heimlichkeit und töteten zu einem vereinbarten Zeitpunkt die
Eroberer und die Knaben, die sie aus diesen unerwünschten Verbindungen bekommen
hatten. Nun wurde ein Frauenstaat gegründet. Für den unverzichtbaren Nachwuchs
darf nur nach folgendem Ritual gesorgt werden: Der Kriegsgott Ares (Mars), der
ein Schutzgott der Amazonen ist, wählt jährlich die Frauen aus, die fruchtbar
werden sollen. Sie ziehen gegen Männerheere in die Schlacht und führen die
besiegten und gefangenen Krieger zum Rosenfest in den Tempel. Dort findet die
Zeugung statt. Nachdem die Männer ihre Funktion erfüllt haben, müssen sie
allerdings den Amazonenstaat wieder verlassen. Dieses Gesetz ist auch für
manche Amazone, für die der gefangene Mann mehr ist als ein zeugungsfähiges
Wesen, eine menschliche Härte. Dennoch wird das Gesetz der Stammmutter Tanais
eingehalten. Achill weiß natürlich, dass auch er von diesem Gesetz betroffen
wäre. Aber er weiß auch, dass es dazu nicht kommen wird; und gegen Ende der
15.Szene klärt er Penthesilea über den wahren Sachverhalt auf. Es stimmt zwar,
dass er sie liebt und dass sie seine Königin werden soll, aber nicht in der
skythischen Heimat der Amazonen und nicht beim Rosenfest, sondern in Achills
Königreich Phtia. Denn – so teilt Achill Penthesilea nun offen mit - „ (...)
durch der Waffen Glück gehörst du mir; / Bist mir zu Füßen, Treffliche,
gesunken, / Als wir im Kampf uns trafen, nicht ich dir.“
Sechzehnter bis
einundzwanzigster Auftritt
Da tritt ein griechischer Hauptmann auf und teilt Achill mit, dass sich
die Amazonen, die man schon für besiegt hielt, erneut wehren, vor allem, um
ihre Königin zu befreien. Achill befiehlt, Penthesilea gefangen zu nehmen. Er
selbst will in den Entscheidungskampf gegen die Amazonen eingreifen. Die
Kämpfenden erscheinen aber schon auf dem Schauplatz. Die Amazonen werfen sich
zwischen Penthesilea und Achill, Odysseus „reißt den Achill hinweg“. Penthesilea wird von den Amazonen im Triumphzug zurück ins Lager
geführt. Umso mehr sind alle von ihrer Reaktion erschrocken, denn sie verflucht
jetzt die Stunde ihrer Befreiung. Die Oberpriesterin der Artemis, die in der
sozialen Rangordnung des Frauenstaates eine wesentliche Funktion einnimmt, kann
diesen Fluch nicht unwidersprochen lassen. Um Penthesilea zu befreien, ist
Amazonenblut vergossen worden, die gefangenen griechischen Krieger konnten
entfliehen – und jetzt spricht Penthesilea von einem „schändlichen Triumph“.
Die Oberpriesterin setzt Penthesilea als Königin ab:
„Frei, in den Volkes Namen, sprech ich dich,
Du kannst den Fuß jetzt wenden, wie du willst,
Kannst ihn mit flatterndem Gewand ereilen,
Der dich in Fesseln schlug (...)“
Da kommt ein Bote aus dem griechischen Lager. Achill fordert
Penthesilea noch einmal zum Zweikampf. Auf diese Weise soll entschieden werden,
wer wem in seine Heimat folgen soll. Penthesilea interpretiert diese Forderung
zum Kampf als herzlose Machtpose Achills. Sie ist bereit den Kampf anzunehmen.
Aufs äußerste in Wut gebracht ruft sie den Kriegsgott Ares an. Vergeblich
versucht Prothoe sie zurückzuhalten. Achill vertraut Odysseus und Diomedes an, dass er mit dem Zweikampf
lediglich dem Gesetz der Amazonen Genüge tun will. Wenn Penthesilea nur einen
besiegten Krieger zum Mann nehmen darf, dann wird sich Achill eben besiegen
lassen.
„(...) Auf einen Mond bloß will ich ihr,
In dem, was sie begehrt, zu willen sein;
(...) Frei bin ich dann,
Wie ich aus ihrem eignen Munde weiß,
Wie Wild auf Heiden wieder; und folgt sie mir,
Beim Jupiter! Ich wär ein Seliger,
Könnt ich auf meiner Väter Thron sie setzen.
Odysseus versteht Achills Handlungsweise nicht. Penthesilea erscheint,
begleitet von Kampfhunden, Elefanten und einem Reitertross, zum Kampf. Dennoch
ist Achill davon überzeugt, dass diese martialische Aufmachung lediglich eine
Inszenierung ist, die dem Amazonengesetz Rechnung trägt. Tatsächlich drohe ihm
von Penthesilea keine Gefahr.
Zweiundzwanzigster und
dreiundzwanzigster Auftritt
Aus dem Gespräch einiger Amazonen mit der Oberpriesterin erfährt man,
dass Penthesilea in einen bedrohlichen Zustand der „Raserei“ geraten ist. Sie
sei eine „Hündin“, sagt die Oberpriesterin, „mit schaumbedeckter Lipp“, „der
Mänade gleich“. Außerhalb der Szene wird plötzlich das Triumphgeheul des
Amazonenenheers hörbar. Achill ist gefangen worden. Die Vermutung der Amazonen,
Penthesilea werde nun – dem Ritual gemäß – „Mit Rosen (..s) seine Scheitel
kränzen“ bewahrheitet sich freilich nicht. Die in äußerste Aggression
umgeschlagene leidenschafliche Liebe führt zu einem schrecklichen Ende. In
Teichoskopie schildert eine Amazone den nicht darstellbaren Vorfall: „Sie
liegt, den grimgen Hunden beigesellt, / Sie, die ein Menschenschoß gebar, und
reißt, - / Die Glieder des Achills reißt sie in Stücke!“
Meroe, die unmittelbare Zeugin des Vorfalls war, betritt nun die Szene
und erzählt die Tötung des Achill ausführlich. Von Penthesileas Pfeil in den
Hals getroffen getroffen sank Achill zu Boden ...
„Den Pfeil, den weit vorragenden, im Nacken,
Hebt er sich röchelnd auf, und überschlägt
sich,
und hebt sich wiederum und will entfliehn;
Doch, hetz! schon ruft sie: Tigris! hetz,
Leäne!
Hetz, Sphinx! Melampus! Dirke! Hetz, Hyrkaon!
Und stürzt - stürzt mit der ganzen Meut, o
Diana!
Sich über ihn, und reißt - reißt ihn beim
Helmbusch,
Gleich einer Hündin, Hunden beigesellt,
Der greift die Brust ihm, dieser greift den
Nacken,
Daß von dem Fall der Boden bebt, ihn nieder !
Er, in dem Purpur seines Bluts sich wälzend,
Rührt ihre sanfte Wange an, und ruft:
Penthesilea! meine Braut! was tust du?
Ist dies das Rosenfest, das du versprachst?
Doch sie - die Löwin hätte ihn gehört,
Die hungrige, die wild nach Raub umher,
Auf öden Schneegefilden heulend treibt;
Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe
reißend,
Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust,
Sie und die Hunde, die wetteifernden,
Oxus und Sphinx den Zahn in seine rechte,
in seine linke sie; als ich erschien,
troff Blut von Mund und Händen ihr herab.“
24 Auftritt (Schlussszene)
Penthesileas Tat stößt bei den Amazonen auf Abscheu und Verurteilung.
Nicht einmal Prothoe kann sich vorstellen, künftig an der Seite dieser Frau zu
sein. Das ist nicht mehr die Penthesilea, die sie zu kennen meinen, „So
reizend, wenn sie tanzte, wenn sie sang! / So voll Verstand und Würd und
Grazie!“. Auch die Oberpriesterin, die ja Penthesileas Liebe zu Achill als Gesetzesverstoß
verurteilt hat, fühlt sich nicht für diese Entwicklung der Dinge
verantwortlich. „Diana ruf ich an / Ich bin an dieser Greueltat nicht
schuldig!“ Zur zurückkehrenden Penthesilea sagt sie: „Hinweg, du Scheußliche! /
Du Hadesbürgerin! Hinweg, sag ich!“ Penthesilea steht lange starr und
schweigend – wie abwesend - da. Plötzlich fällt ihr der Bogen aus der Hand,
zuckt am Boden „Und stirbt, ! Wie er der Tanais geboren ward.“ Diesen Vorfall
deutet die Oberpriesterin als Zeichen der Artemis (Diana): „Du, meine große
Herrscherin, vergib mir! / Diana ist, die Göttin, dir zufrieden, / Besänftigt
wieder hast du ihren Zorn.“ Die Tötung Achills ist offensichtlich als
Sühneopfer zu verstehen, das die Göttin gefordert hat, weil Penthesilea das
Gesetz des Amazonenstaates, der Artemis (Diana) verpflichtet ist, nicht
eingehalten hat.
Nach langem
Schweigen, einem Zustand der Entrückung, in dem Penthesilea außer sich war,
kehrt ihr langsam das Bewusstsein zurück und sie findet ihre Sprache wieder.
Sie erinnert sich nicht an ihren rasenden Angriff auf Achill, fragt sogar, ob
sie den Geliebten für das Rosenfest gewonnen habe. Dann entdeckt sie mit
Entsetzen Achills Leichnam und fordert wütend die Aufklärung dieser Freveltat.
Nach und nach bringen ihr die Amazonen bei, dass sie selbst die Täterin sei. Ob
sie Achill totgeküsst habe, fragt sie. „Küßt ich nicht? Zerrissen wirklich?
sprecht!“ Die Amazonen geben ihr keine Antwort auf diese Frage, aber
Penthesilea scheint die Antwort zu ahnen:
„So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,
Das reimt sich, und wer recht von Herzen
liebt,
Kann schon das eine für das andre greifen.
(...)
Sie läßt sich auf Knieen vor der Leiche nieder
Du Ärmster aller Menschen, du vergibst mir!
Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen,
Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin;
Doch jetzt sag ich dir deutlich, wie ichs
meinte:
Dies, du Geliebter, wars, und weiter nichts.
Sie
küßt ihn
Penthesilea kündigt
an Achill zu folgen. Prothoe will, dass ihr die Königin ihre Waffen aushändigt,
aber die Waffen braucht Penthesilea nicht mehr zur Selbsttötung. Ihr Sterben an
gebrochenem Herzen schildert sie so:
„Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder,
Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie
Erz,
Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.
Dies Erz, dies läutr' ich in der Glut des
Jammers
Hart mir zu Stahl; tränk es mit Gift sodann,
Heißätzendem, der Reue, durch und durch;
Trag es der Hoffnung ewgem Amboß zu,
Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch;
Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust
:
So! So! So! So! Und wieder! -Nun ists gut.
Sie
fällt und stirbt.
Die letzten Sätze
spricht Prothoe, die Amazonin, der Penthesilea am nächsten gestanden ist:
„Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig
blühte!
Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,
Doch die gesunde stürzt er schmetternd
nieder,
Weil er in ihre Krone greifen kann.“
2. WEITERE HINWEISE ZUM TEXTVERSTÄNDNIS
Entstehungsumstände
Kleist begann mit der Arbeit an der Penthesilea im Sommer 1806 in
Königsberg, fertiggstellt wurde sie im Dezember 1807. Das Manuskript liegt in
drei Varianten vor, von denen die der Buchaugabe aus dem Jahr 1808 (Cotta) als
die „formal ausgereifte“ gilt (Thomas Wichmann: Heinrich von Kleist.
Stuttgart:Metzler 1988). Uraufgeführt wurde „Penthesilea“ erst im Jahr 1876 in
Berlin. Dem Geschmack der Entstehungszeit, insbesondere dem harmonisierenden
Antike-Verständnis im Anschluss an Winckelmann und die Weimarer Klassik
widersprach das „barbarische“ Stück in mancher Hinsicht. Goethes distanzierte
Reaktion auf die Zusendung des Manuskripts durch Kleist (siehe unten!) ist für
diese kritische Rezeption wohl repräsentativ.
Dramatische Form und Sprache
Sowohl der antike Mythos, auf den Kleist zurückgreift, als auch der
Blankvers, dessen er sich bedient, scheinen darauf hinzuweisen, dass wir es
hier mit einer typischen Tragödie im Sinne der antikisierenden Weimarer Klassik
zu tun haben. Diese Zuordnung ist allerdings bei genauerer Untersuchung nicht
aufrecht zu erhalten. Kleist verzichtet auf eine Einteilung in Akte und auf die
aristotelische Forderung nach Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Das
Geschehen, das er thematisiert, sprengt die Grenzen der klassischen
dramatischen Form. Dies ist Kleist wohl selbst bewusst geworden. Als er
„Penthesilea“ an Johann Wolfgang von Goethe schickte, in der Hoffnung, dieser
werde sich des ungewöhnlichen Stücks annehmen, schrieb er in seinem
Begleitbrief: „(...) es übrigens ebenso wenig für die Bühne geschrieben, als
jenes frühere Drama: der Zerbrochne Krug, und ich kann es nur Ew. Exzellenz
gutem Willen zuschreiben, mich aufzumuntern, wenn dies letztere gleichwohl in
Weimar gegeben wird. Unsre übrigen Bühnen sind weder vor noch hinter dem
Vorhang so beschaffen, daß ich auf diese Auszeichnung rechnen dürfte (...)“.
Goethe führte „Penthesilea“ nicht am Weimarer Hoftheater auf. Ausschlaggebend
dafür war gewiss nicht nur die wenig bühnenfreundliche formale Gestaltung,
sondern auch die archaische Thematik, die Goethes humanistischem
Griechen-Ideal, das er in „Iphigenie auf Tauris“ dramatisiert hatte, geradezu
entgegenstand.
Was die Wirkung von Kleists Stück erschwert, ist vor allem der
gewaltige Anteil an Teichoskopien (Mauerschau) und Botenberichten. Einen
Großteil des Geschehens erfährt das Publikum auf diese Weise. Die Gründe für
dieses ästhetische Verfahren liegen vermutlich auf zwei Ebenen. Zunächst einmal
lässt Kleist Schlachtenszenen schildern, die in dieser Form (z.B. Achills
Quadriga!) auf der Bühne reinm technisch nicht darstellbar sind. Zum anderen
ist ein Teil des Geschehens so grauenhaft (vor allem die Zerfleischung Achills
durch Penthesilea und ihre Hunde), dass an eine unmittelbar visuelle Umsetzung
auch aus Geschmacksgründen nicht zu denken ist. Ob das mit den Verfahren der
Mauerschau und der Teichoskopie dargestellte Geschehen gerade durch die auf
diese Weise enstehenden Perspektivierungen besonders interessant wird, bleibe
dahingestellt. Manche Interpreten behaupten es. Andere sehen gerade darin eine
Schwäche des Stücks (Gabriele Brandtstetter: Penthesilea. In:Kleists Dramen.
Hg. von Walter Hinderer. Stuttgart: Reclam 1997, S.75-115)
Kleist verwendet,
wie bereits erwähnt, den Blankvers. Die Sprache wirkt aber an vielen Stellen
anders als der harmonische klassische Stil. Die Zerstückelung der Sätze ist
zweifellos gewollt. Kleist macht die Affekte der Sprechenden erkennbar. Meroe
berichtet beispielsweise auf folgende Weise von Achills schrecklichem Tod:
„(...) hetz! schon ruft sie: Tigris! hetz,
Leäne!
Hetz, Sphinx! Melampus! Dirke! Hetz, Hykaon!
Und stürzt – stürzt mit der ganzen Meut, o
Diana!
Sich über ihn, und reißt – reißt ihn beim
Helmbusch,
Gleich einer Hündin, Hunden beigesellt,(...)“
Die
Amazone als Mythos und als literarisches Motiv
Die Überlieferungen zur Geschichte der Amazonen sind dem Bereich des
Mythos zuzuordnen. Aller realen Grundlage entbehrt dieser Mythos allerdings
nicht. In Südrussland wurden zahlreiche Gräber bewaffneter Frauen aus dem 7.
bis 5.Jh. v.Chr. gefunden. Angeblich soll ein Amazonenstaat am Fluss Thermodon
in Kleinasien existiert haben. Die antike Überlieferung weist mehrere Varianten
auf. Die von Kleist verwendete Variante erklärt die Entstehung des
Amazonenstaates aus einem männlichen Gewaltakt. Fremde Krieger fielen in ein
von Skythen bewohntes Gemeinwesen ein, töteten alle Männer, bemächtigten sich
ihrer Frauen und errichteten eine Gewaltherrschaft. Dies führte zu einer
Verschwörung der Frauen. Unter der Führung ihrer Königin Tanais töteten sie die
Eroberer und gründeten einen Frauenstaat. Das Problem der Nachkommenschaft
lösten sie folgendermaßen: Einmal im Jahr ziehen die Kriegerinnen zum Kampf
aus, „benützen“ die besiegten und gefangenen Krieger zur Fortpflanzung und
lassen sie nachher wieder frei. Individuelle Partnerwahl durch Liebe kommt
nicht in Frage. Ohne Ansehung der Person werden Männer unterworfen und zum
Beischlaf veranlasst. Die Fortpflanzung ist ein ritueller Akt unter dem Schutz
der Göttin Artemis in deren Tempel („Rosenfest“).
Homer erwähnt die
Amazonen in der „Ilias“. Sie greifen auf troischer Seite in den Kampf ein. Zur
Begegnung zwischen Achill und Penthesilea gibt es voneinander abweichende
Versionen. Der bekannteren Version zufolge wird Pethesilea von Achill im Kampf
getötet. Der Held verliebt sich in die Sterbende, die als schöne Frau
geschildert wird. Eine andere Variante erzählt, dass Achill von Penthesilea
getötet wird (z.B. bei Ptolemaios Xennos).
Die „Amazone“ wurde
schon bald – unabhängig von realen historischen Umständen - zum literarischen Typus, der uns in
unterschiedlichen Figuren begegnet. In seiner Tragödie „Die Schutzflehenden“
(um 463 v.Chr.) zeigt Aischylos die fünfzig Töchter des Danaos, die in der
Hochzeitsnacht alle Männer töten, an die sie verheiratet werden sollen. Neben
das kriegerische Attribut tritt hier auch das Jungfräulichkeitsmotiv. Der
Komödiendichter Aristophanes schuf mit den „Ekklesiazusen“ und den
„Thesmophoriazusen“ komische Versionen des Mythos. In beiden Fällen scheitert
der Wille der Frauen, die Macht zu übernehmen, am Eigenutz und am sexuellen
Verlangen. Beim Römer Properz wird Penthesilea von Achill im Kampf besiegt. Sie
siegt aber dann ihrerseits durch ihre Schönheit, der Achill nicht widerstehen
kann, also eher mit den Mitteln der Aphrodite (Venus) als mit denen der
Amazonen-Göttin Artemis (Diana).
Kriegerische Frauen,
die den Amazonen ähnlich sind, findet man auch in der germanischen Mythologie.
Kriegerinnen sind in den germanischen Stammessagen keine Seltenheit. Die
bekannteste ist Brünhild. Sie will nur den Mann heiraten, der sie im
sportlichen Wettstreit besiegt. Im Nibelungenlied wird Brünhild bekanntlich
durch Gunther und Siegfried überlistet. Für diese Schandtat muss Siegfried
sterben. Schon im Brünhild-Mythos steht die Frau als kriegerisches Einzelwesen
im Mittelpunkt, die Frage eines Frauenstaates, der auf weiblicher
Kriegstüchtigkeit beruht, tritt deutlich in den Hintergrund.
Auch in irischen und
slawischen Sagen fehlen kriegerische Frauen nicht. Im böhmischen Libussa-Mythos
repräsentiert die Fürstin Libussa ein pazifistisches, naturnahes und
vorzivilisatorsches Matriarchat, das
nach dem Machtantritt des Primislaus durch eine männlich-zivilisatorische
Ordnung ersetzt wird. Aber nicht alle Frauen beugen sich der Männerherrschaft.
Unter der Führung von Vlasta ziehen sich die zum Widerstand bereiten Frauen auf
eine Burg zurück. Primislaus kann aber den weiblichen Widerstand durch eine
List brechen. Vlasta fällt im Kampf, ihr Leichnam wird den Hunden vorgeworfen.
Fasst man den Typus
der Amazone begrifflich sehr weit, also im Sinne der kriegerischen,
kampfbereiten Frau, so kann man auch die alttestamentarische Judith hier
einreihen. Sie erschlägt den gegnerischen Feldherrn Holofernes, der ihr Volk
bedroht.
Überaus verbreitet war das Amazonen-Motiv in der europäischen Literatur
des 16. und 17.Jahrhunderts. Dazu mag die Rezeption der antiken Mythen im
Gefolge von Renaissance und Humanismus einiges beigetragen haben. Weibliche
Figuren dieser Art findet man sowohl bei Ariost, Lope de Vega, Calderon de la
Barca und Tasso als auch in G. Rodríguez‘ Bestseller „Amadis".
Das bürgerliche 18.Jh. zeigte im Vergleich
zu Renaissance und Barock am Amazonen-Mythos wenig Interesse. Erst in der
Romantik findet man den Typus der autonomen, starken und – wenn es sein muss –
auch kämpfenden Frau wieder öfter. Friedrich Schillers Darstellung der
Johanna-Figur aus dem Jahr 1801 ist hier zu erwähnen, zumal ja Schiller selbst
sein Drama eine „romantische Tragödie“ genannt hat. Auch in Goethes Wilhelm
Meister-Romanen findet man den Typus der eigenständigen, wenn auch nicht
kriegerischen Frau. Insbesodere die Figur der Gutsbesitzerin Therese ist hier
zu erwähnen. Aber auch Natalie, Wilhelm Meisters spätere Frau, betritt zum
ersten Mal im Kontext eines Kampfs den Schauplatz und wird von Wilhelm explizit
als „Amazone“ wahrgenommen. Heinrich von Kleists Bearbeitung des
Penthesilea-Mythos rückt wieder den Frauenstaat und seine Gesetze in den
Mittelpunkt.
Sexualität
und Gewalt
Der Zusammenhang von Sexualität und Gewalt
ist im Stück ständig präsent. Schon die Gründung des Amazonenstaates – so wie
ihn Penthesilea im 15.Auftritt des Kleist-Stücks erzählt – beruht auf dieser
verhängnisvollen Synthese. Die skythischen Männer sind von den Eroberern
getötet worden, die Frauen vergewaltigt. Und die Frauen antworten auf diese
Ungeheuerlichkeit mit der Tötung der Eroberer. Die Erinnerung an die Gräuel werden
in Feiern wach gehalten, die Gewalt und Sexualität rituell verbinden. Die
Selbstverstümmelung der Amazonen – sie entfernen sich eine Brust – wurde
bereits von der ersten Königin des Staates vorgelebt. Die pragmatische
Begründung, das Schleudern des Speers fiele (für Rechtshänderinnen) leichter,
wenn die rechte Brust entfernt worden ist, ist wohl von sekundärer Bedeutung.
Wichtiger dürfte sein, dass die Entfernung der Brust eine Art Initiationsritual
darstellt, dem sich die Mädchen des Amazonenstaates unterziehen müssen. Auch
ihre Zugehörigkeit zur „normalen“ Frauenwelt wird auf diese Weise in Frage
gestellt. Besonders deutlich wird die Verbindung von Sexualität und Gewalt im
Rosenfest. Die Männer, mit denen sich die Amazonen sexuell vereinigen, müssen zuerst
im Kampf besiegt werden. Unabhängig von eventuellen Gefühlen wird nach
erfolgter Zeugung die Verbindung wieder gelöst. Selbstbeherrschung bis zur
Selbstverleugnung und konsequenter Verzicht auf eigene Bedürfnisse zugunsten
der Gesetze des Kollektivs – das ist die Lebenswelt der Amazonen. Und aus
dieser Konstellation entsteht letztlich auch der tragische Konflikt, dem Achill
zum Opfer fällt. Denn seine Tötung hat den Charakter eines Schlachtopfers für
Artemis, deren Gesetz durch Penthesialeas Liebe gebrochen worden ist.
Das
staatliche Recht und das „Recht des Herzens“
Penthesilea hat als
Königin des Amazonenstaates besonders genau die sozialen Normen dieses
Gemeinwesens einzuhalten. Ausgerechnet sie ist aber in hohem Maße gefährdet,
die zentrale Norm des Kollektivs zu verweigern. Der Verzicht auf eine
dauerhafte Liebesbeziehung zu einem Mann über das Begattungsritual des
Rosenfestes hinaus ist ein absolutes, religiös legitimiertes Gesetz, ohne das
der Amazonenstaat aufhören würde zu sein, was er seinem Wesen nach ist. Daher
ist es nur folgerichtig, dass die Oberpriesterin Penthesilea absetzt, als sie
nahe daran ist, ihrer Liebe zu Achill zu folgen. Aus der Konfrontation der
natürlichen Gefühle mit der kollektiven Ordnung entsteht das Tragische. Der Sturm
und Drang hätte im Anschluss an Rousseau an dieser Stelle gewiss das „Recht des
Herzens“ eingefordert. Kleist kann sich die Sache nicht so einfach machen.
Weder die staatliche Ordnung der Amazonen noch die natürlichen Gefühle
Penthesileas werden von ihm grundsätzlich diffamiert. Berechtigung mag beides
haben, aber eine Versöhnung ist unmöglich. Der Konflikt ist nicht lösbar, die
Tragödie ist unausweichlich.
3.
HEINRICH VON KLEIST – EIN DICHTERLEBEN
(aus: Christian Schacherreiter: Man muss nur Aug und Ohren dafür haben.
Warum Theater so faszinierend ist. Band 1, Linz: Grosser 1997)
Dichter der
deutschen Romantik wie Novalis oder Friedrich Schlegel erhoben den Anspruch,
ihre Kunstauffassung sei nicht nur eine Sache des Schreibstils, sondern auch
eine des Lebensstils. Wer Romantiker in der Kunst ist, der ist auch im Leben
Romantiker. Mit Recht stellt man daher immer wieder die Frage, wie denn ein
romantisches Leben zu führen sei. Die Vorstellungen darüber mögen
unterschiedlich sein, in einem werden sie sich allerdings treffen : Ein
behaglich-biederes Bürgerdasein mit idyllischem Sonntagskaffee und
Beamtenpension entspricht nicht dem Bild der poetischen Existenz, das die
meisten von uns im Kopf haben.
Der deutsche Dichter Heinrich von Kleist,
1777 in Frankfurt an der Oder geboren, schrieb seine Werke in der Blütezeit der
deutschen Romantik. Er selbst trug kein romantisches Literaturprogramm vor sich
her. Und an seinen eigenwilligen Werken finden wir teils etwas mehr, teils
etwas weniger, teilweise gar nicht die typischen Kennzeichen der romantischen
Epoche. Ob man seine Werke eher der Romantik oder einer Spätform der Klassik
zuordnen soll, oder ob sie gar als Pionierleistung einer damals noch gar nicht
existenten Moderne des 20.Jhs. bezeichnet werden können, darüber wird seit
langem ebenso kenntnisreich wie ergebnislos diskutiert. Aber wie auch immer die
literaturgeschichtliche Typisierung seiner Werke vorgenommen wird, eines kann
als sicher gelten : Wenn es so etwas wie einen romantischen Lebenslauf gibt,
dann denjenigen des Heinrich von Kleist.
Soldatenleben
Kleist stammte aus einer preußischen
Offiziersfamilie, deren Söhne üblicherweise das königliche Militär zu
bereichern hatten. Heinrich war natürlich auch für eine ähnliche Laufbahn
vorgesehen. Der Vater starb früh. Der Elfjährige wurde in einer Pension
erzogen, der ein Prediger vorstand. 1792 trat Kleist in das Garderegiment des
Königs ein, nahm schon 1793 am Rheinfeldzug gegen die französischen
Revolutionäre teil und wurde 1797 zum Leutnant befördert. Einer militärischen
Karriere schien also nichts im Wege zu stehn, außer einem,Kleist selbst. Er
verabscheute den militärischen Drill und machte sich auch nichts aus den
üblichen Vergnügungen der Soldaten. 1799 zog er die Konsequenzen. Er quittierte
den Dienst. In einem Brief an seinen Hauslehrer begründete er seinen Schritt
damit, daß ihm der ständige Konflikt zwischen seiner menschlichen Vernunft und
seiner beruflichen Pflicht unerträglich geworden sei. Beide Pflichten, also die
des Menschen und die des Offiziers zu vereinen, hielt er „bei dem jetzigen Zustande der Armeen für unmöglich.“
Keine Sicherheit. Nirgends
Schon während seiner letzten beiden Jahre
beim Militär hatte sich Kleist mit naturwissenschaftlichen und mathematischen
Studien beschäftigt. Ein Jahr lang setzte er das Studium noch fort. 1800
verlobte er sich mit Wilhelmine von Zenge, einer Offizierstochter. Die
angestrebte Verehelichung machte es unumgänglich, an eine Berufslaufbahn zu
denken. Noch im Jahre 18oo trat er eine Beamtenstelle im Preußischen
Wirtschaftsministerium an. Aber bereits im April 1801 reichte er seine
Kündigung ein. Werkspionage, die zu seinen vorrangigen Aufgaben gehört haben
dürfte, war wohl nicht so ganz die Sache des Dichters. Im Jahr 1801 geriet
Kleist obendrein in eine philosophisch begründete Krise, die durch die
Beschäftigung mit Kants Erkenntnistheorie ausgelöst worden war. Daß dem
Menschen die Erkenntnis der Welt an sich nicht möglich sein sollte, weil er als
Gattungswesen auf seine begrenzten fünf Sinne angewiesen ist und sich die
erfahrbare Welt nach den subjektiven Kategorien Zeit, Raum und Kausalität
zurechtlegt, diese Kantsche These verunsicherte Kleist zutiefst. Er dürfte Kant
dahingehend interpretiert (und mißverstanden) haben, daß sich der Mensch immer
nur beliebige Scheinwirklichkeiten konstruiere, die er in läppischer
Selbsttäuschung für objektive Erkenntnisse halte. So betrachtet, geht natürlich
jede sichere Grundlage des Denkens, aber des Lebens verloren.
Kleists preußisch-militärische Familie hatte
für persönliche Krisen philosophischer Natur wenig Verständnis, und auch die
Verlobte und deren Familie dürften nicht darüber nachgedacht haben, wie man dem
armen Heinrich über seine Kant-Lektüre hinweghelfen könne. Man interessierte
sich vorwiegend dafür, wie Kleist materiellen Boden unter die Füße bekommen
wolle. Darauf wußte aber der zweifelhafte Bräutigam keine Antwort. Heinrich von
Kleist ging auf Reisen. In Begleitung seiner älteren Schwester Ulrike, die ihm
von den Familienmitgliedern am nächsten stand, hielt er sich einige Zeit in
Frankreich auf, las dort die Schriften Rousseaus und fühlte sich spontan vom
Zurück-zur-Natur!-Programm des französischen Philosophen angesprochen. In der
Schweiz wollte er sich als einfacher Bauer niederlassen, wollte, wie er an die
Verlobte schrieb, „ein Feld bebauen,
einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen“. Die Verlobte, die seit mehr als
einem Jahr auf ein geregeltes Einkommen des Bräutigams wartete, dürfte aber zur
Bäuerin weder Lust noch Anlage gehabt haben. 1802 wurde die Verlobung
gelöst.Eine weitere Verbindung, die Kleist im folgenden Jahr mit einer anderen
Frau anbahnte, führte auch zu keinem stabileren Ergebnis.
1803 erfolgte ein völliger seelischer und
körperlicher Zusammenbruch. Kleist, der mittlerweile schon erste
schriftstellerische Arbeiten vorlegen konnte,insbesondere sein erstes
vollendetes Drama FAMILIE SCHROFFENSTEIN, vernichtete in diesem labilen
psychischen Zustand sein zweites Drama ROBERT GUISKARD. Erst Jahre später
versuchte er das Stück zu rekonstruieren. Es erschien 1809 als Fragment. Erst
neunzig Jahre nach Kleists Tod wurde es uraufgeführt, konnte sich aber nicht
auf den Bühnen halten. Als Kleist durch ärztliche Hilfe wieder
einigermaßen zu Kräften gekommen war, bewarb er sich erneut um Aufnahme in den
Staatsdienst. Im Mai 1805 wurde er Beamter der preußischen Domänenkammer, ein
Jahr später beendete er das Dienstverhältnis. Er erlebte den Brotberuf zu sehr
als Einschränkung seiner literarischen Arbeit, die nun doch, trotz regelmäßig auftretender
Selbstzweifel, zum Zentrum seines Lebens geworden war.
Patriot und Napoleonhasser
Trotz seines gestörten persönlichen
Verhältnisses zum Militär und zur Beamtenlaufbahn war Kleist grundsätzlich
preußischer Patriot. Die Zerrüttung des Staates während der napoleonischen
Kriege belastete ihn. Obendrein wurde er auch noch von den Franzosen wegen
angeblicher Spionage verhaftete und erst nach einem halben Jahr wieder
freigelassen. Kleists Abneigung gegen Napoleon zeigt sich im Drama DIE HERMANNNSSCHLACHT
(1808). Das Stück war nicht zuletzt wegen seiner problematischen politischen
Tendenz von den Bühnen schon völlig verschwunden. Erst Claus Peymann hat es in
einer überraschend spannenden Inszenierung in den Achtziger Jahren des
20.Jhs.wieder zum Leben erweckt. DIE HERMANNSSCHLACHT spielt im ersten nachchristlichen Jahrhundert
und handelt von den Kämpfen zwischen Römern und Germanen, repräsentiert durch
den Feldherrn Varus und der Cheruskerfürsten Hermann. In historischer
Verkleidung behandelte Kleist allerdings Probleme seiner Zeit. Die Germanen
sind die Deutschen, die Römer die Franzosen, und in seinem negativen Bild des
römischen Feldherrn Varus lebte Kleist seine Antipathie gegen Napoleon aus.
Eine kleine Pension, die ihm Königin Luise
verschaffte, ermöglichte es Kleist, ab 1807 als freischaffender Autor zu leben.
Nun begann seine produktivste literarische Phase. Gemeinsam mit dem
Staatstheoretiker Adam Müller gab er die Kunstzeitschrift Phöbus heraus. Im
Juli 1807 erschien die Tragödie PENTHESILEA und die Bearbeitung des AMPHITRYON
von Moliere. Beide Bühnenwerke wurden allerdings zu Kleists Lebzeiten nicht
aufgeführt. Im selben Jahr schrieb Kleist die Novellen DIE MARQUISE VON O. und
DAS ERDBEBEN VON CHILI. 1808 enstanden
DAS KÄTHCHEN VON HEILBRONN und DIE HERMANNSSCHLACHT, 1810/11 erschienen
mehrere Erzählungen, darunter der bekannte MICHAEL KOHLHAAS, und das Schauspiel
PRINZ FRIEDRICH VON HOMBURG im Druck. Die rege Produktivität brachte Kleist zu
Lebzeiten leider nicht die wünschenswerte Anerkennung. Er sah nur drei seiner
Werke auf der Bühne, nämlich seinen dramatischen Erstling DIE FAMILIE
SCHROFFENSTEIN, weiters DAS KÄTHCHEN VON HEILBRONN und das Lustspiel DER
ZERBROCHENE KRUG. Doch auch diese Aufführungen standen nicht immer unter günstigen
Vorzeichen:
Der Goethe-Antipode
Um Kleists Lustspiel hatte sich das Weimarer
Hoftheater angenommen. Das hörte sich vielversprechend an. Goethe selbst führte
Regie. Das Stück fiel aber beim Publikum durch. Kleist machte Goethe, der dem
realistischen Stück eine ungeeignete, nämlich klassizistisch-pathetische
Sprechweise verpaßt haben soll, für den Mißerfolg verantwortlich und soll sogar
gedroht haben, den damals immerhin fast sechzigjährigen Geheimrat zum Duell zu
fordern. Überhaupt wurde Goethe für Kleist zum bevorzugten Feindbild. Das
dürfte auch darauf zurückzuführen gewesen sein, daß Goethe das Drama
PENTHESILEIA, das ihm Kleist zur Beurteilung vorgelegt hatte, als fremdartige
und bühnenfremde, kaum realisierbare Arbeit bezeichnet und zurückgewiesen
hatte. In der Zeitschrift „Phöbus“ ließ Kleist seinen Anti-Goethe-Gefühlen
freie Bahn, eine Zügellosigkeit, die ihm nicht gut bekommen sollte. Goethe war
ein Gegner mit zu viel Einfluß, eine Identifikationsfigur des Kulturpublikums,
nicht nur des konservativen. Angriffe gegen ihn galten in weiten Kreisen der
Kulturöffentlichkeit sozusagen als Gotteslästerung. Diese Kreise dürften Phöbus boykottiert haben. Ein Jahr nach
der Veröffentlichung des ersten Heftes mußte die Zeitschrift wegen finanzieller
Probleme eingestellt werden. Goethes Abneigung gegen Kleist war durchaus
dauerhaft. Noch 1821, also zehn Jahre nach dem Tod des Antipoden, schrieb
Goethe: „Mir erregte dieser Dichter, bei
dem reinsten Vorsatz einer aufrichtigen Teilnahme, immer Schauder und Abscheu,
wie ein von der Natur schön intentionierter Körper, der von einer unheilbaren
Krankheit ergriffen wäre.“
Selbstmord am Wannsee
Alle Hoffnungen Kleists auf Anerkennung
schienen also unerfüllt zu bleiben. 1810 schien sich noch einmal eine Laufbahn als
Journalist anzubahnen, als er die Berliner
Abendblätter redaktionell betreute, aber das Blatt wurde schon im folgenden
Jahr eingestellt. Ohne Aussicht auf Erfolg, in bedrückender finanzieller Lage,
plante Kleist seinen Selbstmord. Gemeinsam mit der Freundin Henriette Vogel,
der depressiven Gattin eines Beamten, schied Heinrich von Kleist am 21.11.1811
aus dem Leben. Er dürfte - soweit der Hergang rekonstruierbar ist - zunächst
Henriette erschossen haben und dann sich selbst. An seine Schwester Ulrike hatte
er knapp vor der Tat geschrieben: „..die
Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.“ Die deutsche
Erzählerin Christa Wolf hat den Doppelselbstmord zum Ausgangspunkt ihrer
Kleist-Erzählung KEIN ORT.NIRGENDS gemacht.
4. GLOSSAR
Amazonen: (siehe Abschnitt 2)
Ares: griechischer Gott des wilden, regellosen Kampfes, bei den Griechen eher
verabscheut als verehrt, allerdings sol er sich gern bei den barbarischen
Trakern und bei den Amazonen aufgehalten haben, seine römische Entsprechung Mars
genoss höheres Ansehen
Artemis: Tochter des Zeus und er Leto, bedeutende Muttergottheit des
Mittelmeerraums, gütig und grausam zugleich, herrin der Tierwelt, Mond- und
Todesgöttin, jungfräuliche Jagdgottheit
Atride, der: Agamemnon, der Sohn des Atreus
Automedon: Wagenlenker des Achill
Dardaner: Bezeichnung für die Troer, geht zurück auf König Dardanos, den
Stammvater des trojanischen Königsgeschlechts
Deiphobus: Sohn des Priamos, Hektors Lieblingsbruder, bei der Eroberung Trojas
durch Menelaos getötet
Deukalion: Sohn des Prometheus, schuf nach einer Sintflut, mit der Zeus die
ganze Menschheit außer Deukalion und seiner Frau Pyrrha vernichtet hatte, ein
hartes Menschengeschlecht aus dem Material Stein.
Diana (siehe Artemis)
Eumeniden: Damit die Erinyen (Rachegöttinen) Orestes in Ruhe lassen, verspricht
ihnen die Göttin Athene, sie würden künftig als „Eumeniden“ („gnädige
Göttinnen“) dieselbe Verehrung genießen wie sie selbst.
Furien: römische Bezeichnung für die griechischen Rachegöttinnen (Erinyen)
Hades (lat. Orkus): Gott der Unterwelt, auch Bez. für die Unterwelt als solche
Ilium (eig. Ilion): anderer Name für Troja
Kronide: Sohn des Kronos, auch „Kronios“, Beiname des Zeus
Laertiade, der: gemeint ist Odysseus, Sohn des Laertes
Mänaden: die „Rasenden“, Bezeichnung für die Verehrerinnen des Rauschgottes
Dionysos
Mars (siehe Ares)
Myrmidonen: thessalisches Volk, das von Achill gegen Troja geführt wurde
Ner(e)idensohn: Achill wird als Neridensohn bezeichnet, weil die Meergöttin Thetis
seine Mutter ist. (Der Vater ist Peleus, siehe: „Peleide“). Thetis ist eine
Tochter des Meergottes Nereus. Daher wird sie als Nereide oder Neride
bezeichnet.
Orkus: siehe: Hades
Pelide, der: Achill, Sohn des Peleus
Priamiden: Söhne des Priamos
Priamus (eigentlich: Priamos): König von Troja
Quadriga, die: (römisches!) Viergespann, vier Pferde werden nebeneinander
geführt
Styx:
Wasser des Grauens, Fluss in der
Unterwelt
Teukrer: König Teukros war ein Stammvater der Trojaner, die daher auch Teukrer
genannt
werden
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