1. HINWEISE ZUM TEXTVERSTÄNDNIS
1.AKT
1. und 2.Szene:
Dicke Luft bei Millers
Die Zuschauer werden am Beginn
des 1.Akts ohne jede Einleitung mit einem Streitgespräch konfrontiert, das
offensichtlich schon eine Weile in Gang ist. „Einmal für allemal“, sagt der
Stadtmusikus Miller zu seiner Frau, die noch im Nachthemd ihren Kaffee
schlürft. „Der Handel wird ernsthaft. Meine Tochter kommt mit dem Baron ins
Geschrei. Mein Haus wird verrufen. Der Präsident bekommt Wind, und – kurz und
gut, ich biete dem Junker aus.“ Noch weiß das Publikum nicht genau, welches
Problem den Musikus quält, aber schon bald werden die Zusammenhänge klarer:
„Nehmen kann er das Mädel nicht“, der Baron nämlich, „Vom Nehmen ist gar keine
Rede nicht, und zu einer daß Gott erbarm? – Guten Morgen!“ (I/1) Miller spricht
in Andeutungen, aber man ahnt, welche Fortsetzung der elliptische Satz haben
sollte: Zu einer Mätresse ist ihm seine Tochter zu schade.
Stadtmusikus Miller ist fest
entschlossen, der Liaison zwischen dem Baron und seiner Tochter ein Ende zu
setzen. Er wird zum Präsidenten, dem Vater des Barons, gehen und wird ihm die
Sache verraten: „Dero Her Sohn haben ein Aug auf meine Tochter; meine Tochter
ist zu schlecht für dero Herrn Sohnes Frau, aber zu dero Herrn Sohnes Hure ist
meine Tochter zu kostbar; und damit basta! – Ich heiße Miller.“ (I/1)
Die Frau des Musikus sieht die
Sache anders. Sie versucht Miller zu beruhigen. Ihm könne man doch keinen
Vorwurf machen. Und seinem Verdacht, dem Baron von Walter ginge es
hauptsächlich darum die Tochter zu verführen, setzt sie entgegen: „Solltest nur
die wunderhübschen Billetter auch lesen, die der gnädige Herr an deine Tochter
als schreiben tut. Guter Gott! Da sieht mans ja sonnenklar, wie es ihm pur um
ihre schöne Seele zu tun ist.“ Sie weiß auch die „Präsenter“ des Barons zu
schätzen. Miller ist aber nicht umzustimmen. Was seine Frau vorbringt,
erscheint ihm lächerlich, dumm und eitel.
Eine weitere Figur tritt auf:
Wurm, der Sekretär des Präsidenten, betrachtet sich offensichtlich als Luises
künftiger Bräutigam. Aber seinem Ansinnen widersetzt sich nicht nur Frau
Miller, die den Sekretär rundheraus wissen lässt, dass „halt der liebe Gott
meine Tochter barrdu zur gnädigen Madam will haben“, sondern auch Miller
selbst, dieser allerdings aus anderen Gründen. Wurm bringt seine Hoffnung zum
Ausdruck, dass der Vater die Tochter überreden wird, den Sekretär zu heiraten,
aber Miller hält dies für ein Zeichen mangelnder Courage. Ein Liebender, der
nicht im Stande ist seine Interessen bei der geliebten Frau selbst zu
betreiben, ist für ihn ein „Hasenfuß“, für den „keine Luisen gewachsen“ sind.
Gekränkt verlässt Wurm Millers Haus. Er weiß jetzt von der Verbindung zwischen
Ferdinand von Walter und Luise Miller und sieht seine eigenen Aussichten auf
Luise erheblich geschmälert. Das wird sich noch rächen.
3.Szene: Die
Heldin tritt auf und spricht nur von ihrer unbedingten Liebe
In der 3.Szene stellt Schiller
die weibliche Hauptfigur vor. Sie kommt von der Kirche. Offen spricht sie vor
ihren Eltern von ihrer heftigen Liebe zu Ferdinand von Walter. „Als ich ihn das
erstemal sah – und mir das Blut in die Wangen stieg, froher jagten alle Pulse,
jede Wallung sprach, jeder Atem lispelte: Er ists (...) Damals – o damals ging
in meiner Seele der erste Morgen auf. Tausend junge Gefühle schossen aus meinem
Herzen, wie die Blumen aus dem Erdreich, wenns Frühling wird. (...) ich wußte
von keinem Gott mehr, und doch hatt ich ihn nie so geliebt.“ In dieser für den
Sturm und Drang so typischen emotional-bildhaften Sprache wird dem Zuschauer
die Absolutheit dieser Liebe klar. In diesem scheinbar paradoxen Bild „ich
wußte von keinem Gott mehr, und doch hatt ich ihn nie so geliebt“ drückt sich
jene Sakralisierung der Liebe aus, die im Zeitalter der Empfindsamkeit
verbreitet war. Man denke in diesem Zusammenhang an Goethes Werther. Im
Liebeserlebnis offenbart sich das Göttliche. Luise ist allerdings nicht so naiv
wie ihre Mutter, die darauf hofft, dass es zwischen ihrer Tochter und Ferdinand
von Walter tatsächlich zu einer ehelichen Verbindung kommen könne. Luise
spricht die „Schranken des Unterschieds“, die „verhaßten Hülsen des Standes“
an. Sie weiß, dass sie Ferdinand „für dieses Leben“ entsagen muss. Dazu ist sie
bereit, weil sie auf eine andere Welt hofft, in der „die prächtigen Titel
wohlfeil werden, wenn Gott kommt, und die Herzen im Preise steigen. Ich werde
dann reich sein.“
4.Szene: Und
jetzt kommt der Held und sagt zunächst einmal: „Du bist blaß, Luise“
Auch für Ferdinand ist die Liebe
zu Luise ein absolutes Gefühl, das keinerlei Einschränkungen erduldet. Im
Gegensatz zu Miller und Luise sieht Ferdinand in der ständischen Zugehörigkeit
kein unüberwindliches Hindernis: Laß doch sehen, ob mein Adelsbrief älter ist
als der Riß zum unendlichen Weltall? oder mein Wappen gültiger als die
Handschrift des Himmels in Luisens Augen? (...) Ich fürchte nichts- nichts –
als die Grenzen deiner Liebe.“
5.-7. Szene:
Schauplatzwechsel: Von der Bürgerstube in den „Saal beim Präsidenten“
Wurm informiert den Präsidenten
darüber, dass sein Sohn Ferdinand eine Beziehung zu Luise Miller unterhält. Der
Präsident ist nicht beunruhigt. Er ist davon überzeugt, dass Ferdinand die
„Bürgerkanaille“ nur mit schönen Worten und Geschenken dazu bringen will, mit
ihm zu schlafen. Dies sei verständlich und zeige, falls die Liaison mit einem
Kind abgeschlossen wird, dass er seine Sache versteht. „(...) so trink ich auf die guten Absichten
meines Stammbaums eine Bouteille Malaga mehr, und bezahle die Skortationsstrafe
für seine Dirne.“ Von einer legitimen Verbindung zwischen Ferdinand und Luise
kann natürlich für den Präsidenten gar keine Rede sein. Er hat mit seinem Sohn
ganz andere Ehepläne. Ferdinand soll Lady Milford heiraten. Sie ist die
Mätresse des Fürsten, und durch diese günstige Verbindung hofft Präsident von
Walter, auf alle Zeiten die Gunst des Fürsten für sich und seine Familie zu
sichern. Damit an dieser Verbindung nicht mehr der geringste Zweifel gelassen
wird, wird der dümmlich-geschwätzige Hofmarschall von Kalb beauftragt, die
Neuigkeit in der ganzen Stadt zu verbreiten.
7.Szene: Der
Vater-Sohn-Konflikt
Präsident von Walter unterschätzt
die Widerstandskraft seines Sohns. Alle Aussichten auf eine große Karriere bei
Hofe haben für Ferdinand keinen Wert, und den Befehl des Vaters, sich bei Lady
Milford einzufinden und förmlich um ihre Hand anzuhalten, beantwortet Ferdinand
so: „Ja, ich will zu ihr – will hin – will ihr Dinge sagen, will ihr einen
Spiegel vorhalten – Nichtswürdige! und wenn du auch noch dann meine Hand
verlangst – Im Angesicht des versammelten Adels, des Militärs und des Volks –
Umgürte dich mit dem ganzen Stolz deines Englands – Ich verwerfe dich – ein
deutscher Jüngling.“
2.AKT
1.-3.Szene:
Lady Milford – das gar nicht stereotype Bild einer Mätresse
Das Publikum kennt Lady Milford
bisher nur aus Gesprächen. Nun bringt sie der Autor auf die Bühne und revidiert
schrittweise das Vorurteil, das die meisten von der Mätresse des Herzogs
vermutlich haben. Im Gespräch mit ihrem Kammermädchen macht Lady Milford aus
ihrer Abneigung gegen die Menschen bei Hof, ja sogar aus ihrer Distanz zum
Herzog kein Geheimnis. Von „schlechten, erbärmlichen Menschen“ spricht sie
(II/1), von Leuten, deren „Seelen so gleich als ihre Sackuhren gehen“. Der
Herzog scheint ihr ohne jedes „schöne Gefühl“ zu sein. Ihre sinnlichen und
materiellen Wünsche werden zwar rundherum zufrieden gestellt , aber ihr „Herz
hungert bei all dem Vollauf der Sinne“. Lady Milfords Zukunftshoffnung ist
Major Ferdinand von Walter. Geschickt hat sie die künftige eheliche Verbindung
mit ihm in die Wege geleitet. Was die anderen Beteiligten - der Herzog, der Präsident,
der Hofmarschall - für eine pfiffige „Hofkabale“ halten, ist in Wahrheit ein
Herzenswunsch Lady Milfords. Sie liebt Ferdinand von Walter. Bevor Schiller die
Lady mit Ferdinand direkt konfrontiert, schiebt er noch die berühmte
Kammerdiener-Szene ein, in der der Autor scharfe Zeitkritik übt.
Ein Kammerdiener bringt Lady
Milford auf Befehl des Herzogs wertvolle Brillanten. Auf die Frage, was der
Herzog für diese Steine bezahle, antwortet der Kammerdiener: „Sie kosten ihm
keinen Heller“. Lady Milford muss erfahren, dass dieser Luxus, der ihr
zugedacht ist, durch den Verkauf von jungen Männern an die englische Armee
finanziert wird. Sie werden zwangsrekrutiert, um in Amerika gegen die
Aufständischen zu kämpfen. Anschaulich schildert der Kammerdiener, dessen Söhne
auch zu den Rekruten zählen, das menschliche Elend. Wer sich auch nur mit
Worten gegen die Zwangsrekrutierung wehrte, wurde niedergeschossen, heulende
Kinder liefen hinter ihren abmarschierenden Vätern her, Bräutigam und Braut
wurden mit Säbelhieben auseinander gerissen. Lady Milford ist entsetzt über das
Elend, das der Herzog hinter ihrem Rücken (und auch zu ihren Gunsten) unter
seinem Volk anrichtet. Sie will dafür sorgen, dass wenigstens die Söhne des
Kammerdieners zurückgeholt werden. Den Schmuck will sie verwenden um
vierhundert Menschen zu helfen, die kürzlich durch einen Brand in Not geraten
sind.
Ferdinand von Walter kommt zu
Lady Milford – ausschließlich auf Befehl seines Vaters, sagt er, und die Lady
ahnt wohl schon nach den ersten Sätzen, dass diese Unterredung nicht das
Ergebnis bringen wird, das sie sich wünscht. Ferdinand ist sehr offen. Er denkt
gar nicht daran Lady Milford zu heiraten, hält ihr ihr Dasein als Mätresse vor
und macht sie mitverantwortlich für die wachsende Ausbeutung und Unterdrückung
des Volkes. Lady Milford erzählt Ferdinand von Walter daraufhin ihre
Lebensgeschichte: Sie stammt aus einem alten englischen Adelsgeschlecht, dessen
Güter der Krone zufielen, weil der Vater verräterischer Beziehungen mit
Frankreich bezichtigt wurde. Die Familie wurde des Landes verwiesen, die Lady
kam als junges Mädchen fast mittellos nach Deutschland und wurde dort aufgrund
dieser Umstände zur Favoritin des Herzogs. An zahlreichen Beispielen kann Lady
Milford nachweisen, dass ihr Einfluss auf den Herzog vielen Menschen genützt
hat. Dass sie dadurch Leid verhindert, nicht bewirkt hat. Ferdinand hat durch
diese Schilderung sein Bild von Lady Milford korrigiert und er bittet die
unglückliche Frau um Vergebung für seine ungerechtfertigten Vorwürfe, aber an
seinem Entschluss, sich der geplanten Heirat zu widersetzen, ändert dies
nichts.
4.-7.Szene:
Szenenwechsel: Bei Millers ist der Teufel los
Für die Familie Miller wird die
Lage bedrohlich. Der Präsident hat ja mittlerweile von der Liebe seines Sohns
zu Luise erfahren, und man weiß, dass er alle denkbaren Mittel dagegen
einsetzen wird. Ferdinand versichert Luise seiner unbedingten Treue. „Der
Augenblick, der diese zwo Hände trennt, zerreißt auch den Faden zwischen mir
und der Schöpfung.“ (II/5). In der 6. und 7. Szene setzt Schiller einen
Handlungshöhepunkt, indem er die Hauptbeteiligten am Konflikt in der Stube des
Musikus Miller zusammenführt. In dieser Szene erweist sich Schiller wieder
einmal als Großmeister der Kommunikationspsychologie und der dramatischen
Steigerung. Diese Szenen sollen daher etwas genauer analysiert werden:
Ferdinand, Luise und das Ehepaar
Miller werden in Millers Haus von einem unerwarteten Besuch des Präsidenten
überrascht. Nachdem sich Präsident von Walter über die Identität der Anwesenden
Klarheit verschafft hat, spricht er Luise direkt an: „Wie lang kennt sie den
Sohn des Präsidenten?“ Luise durchschaut die Doppelbödigkeit in dieser
Formulierung und weist die indirekte Unterstellung, es gehe ihr um den sozialen
Rang des Geliebten, zurück, indem sie antwortet: „Diesem habe ich nie
nachgefragt. Ferdinand von Walter besucht mich seit dem November.“ Ferdinand
ergänzt: „Betet sie an.“ „Erhielt sie Versicherungen?“, will der Präsident
wissen und Ferdinand antwortet anstelle Luises: „Vor wenigen Augenblicken die
feierlichste im Angesicht Gottes.“ Immer wieder schaltet sich nun Ferdinand in
das Gespräch ein, bekräftigt und ergänzt, was Luise auf die Fragen des
Präsidenten antwortet. Die ohnedies schon gespannte Kommunikationssituation
wird noch verschärft, indem der Präsident Luise fragt, ob sie von seinem Sohn
nicht „jederzeit bar“ bezahlt worden ist, da doch jedes Handwerk seinen
goldenen Boden habe, „oder wars Ihr vielleicht mit dem bloßen Verschluß
gedient?“ Dieses einigermaßen frivole Bild verstehen alle und reagieren
entsprechend. Ferdinand verlangt Ehrfurcht vor Luises Tugend, was der Vater
höhnisch zurückweist. Luise sagt: „Herr von Walter, jetzt sind Sie frei“ und
Musikus Miller kann die Unterstellung, seine Tochter betätige sich als
Prostituierte, nicht auf sich sitzen lassen. Das bürgerliche Selbstwertgefühl
empört sich gegen die Anmaßung des Aristokraten: „(...) mit Buhlschaften dien
ich nicht. Solang der Hof da noch Vorrat hat, kommt die Lieferung nicht an uns Bürgersleut..(...)
Euer Exzellenz schalten und walten im Land. Das ist meine Stube (...) den
ungehobelten Gast werf ich zu Tür hinaus – Halten zu Gnaden.“
Der Konflikt eskaliert also.
Präsident von Walter will seine Machtposition zur Gänze ausnützen: „Vater ins
Zuchthaus – an den Pranger Mutter und Metze von Tochter!“ Gerichtsdiener treten
auf. Ferdinand ist aber nicht bereit, dem Treiben seines Vaters tatenlos
zuzuschauen. Als alle anderen Mittel versagt haben, greift er zum Äußersten.
„Kein menschliches Mittel ließ ich
unversucht – ich muß zu einem teuflischen
schreiten – Ihr führt sie zum Pranger fort, unterdessen (zum Präsidenten ins Ohr rufend) erzähl ich der Residenz eine
Geschichte, wie man Präsident wird.“ Diese Drohung wirkt. Noch einmal kann
Ferdinand die Katastrophe von Luise und ihrer Familie abwenden (retardierendes
Moment).
3.AKT
1. und 2.
Szene: Wie man eine „Kabale“ spinnt- und
Tragisches mit Komischem vermischt
Präsident von Walter hat die
Entschlossenheit seines Sohns unterschätzt. So ist er in eine unangenehme
Situation geraten. Wenn seine Plan mit Lady Milford nicht aufgeht, ist sein
Einfluss bei Hofe bedroht. Versucht er Ferdinand zu dieser Heirat zu zwingen,
besteht die Gefahr, dass Ferdinand der Residenz tatsächlich eine Geschichte erzählt,
„wie man Präsident wird“ (nämlich durch heimtückische Ermordung eines
Mitbewerbers um dieses Amt). Sekretär Wurm, der bekanntlich seine persönlichen
Interessen am Fall Luise Miller hat, wird nun zum teuflischen Berater und
Helfer. Psychologisch und logistisch geschickt entwickelt er das Konzept für
eine Intrige. Davon überzeugt, dass der maßlos Liebende auch maßlos
eifersüchtig wird, wenn er sich betrogen glaubt, will Sekretär Wurm, der hier
natürlich seinem Namen alle Ehre macht, Luise bei Ferdinand von Walter in den
Verdacht der Untreue bringen. Das Mittel dazu soll ein Liebesbrief von Luise an
einen anderen Mann sein, und Wurm weiß auch schon, wie er Luise dazu bewegen
kann, diesen Brief zu schreiben. Sie hängt sehr an ihrem Vater. Man wird Miller
einsperren und Luise mitteilen, dass er nur dann dem Schafott entgehen könne,
wenn sie sich auf das üble Spiel des Sekretärs einlässt. Damit Ferdinand nicht
die Wahrheit erfährt, muss Luise einen Eid schwören, ihm gegenüber die Echtheit
des Briefs zu bestätigen. „Was wird ein Eid fruchten, Dummkopf?“ wendet der
Präsident gegen den Plan ein, aber Wurm entgegnet: „Nichts bei uns, gnädiger
Herr. Bei dieser Menschenart alles.“ Wurm weiß, dass für ein wohlerzogenes
bürgerliches Mädchen wie Luise ein Eid absolut bindend ist. Die moralische
Überlegenheit des Bürgertums gegenüber der höfischen Welt, im Bürgerlichen
Trauerspiel mehrmals thematisiert, ist auch hier erkennbar.
Zu Luises fiktivem Liebhaber wird
Hofmarschall von Kalb ausgewählt. In der 2.Szene des 3.Akts überzeugt ihn
Präsident von Walter davon, dass dies auch für ihn die einzige Möglichkeit ist,
seine Position am Hof zu behaupten, da er ja das Gerücht von der Verheiratung
der Lady mit Ferdinand überall herumerzählt hat und im Falle des Scheiterns als
Lügner dastehen würde. Der Hofmarschall wird von Schiller satirisch gezeichnet;
der tragische Grundton des Stücks wird von einer komischen Szene unterbrochen.
Die Vermischung der Stilebenen, die in der klassizistischen Ästhetik des 17.
und 18.Jhs. abgelehnt wurde, wird hier zum bewusst eingesetzten Stilmittel. Der
Einfluss Shakespeares auf die junge Dramatikergeneration des 18. Jhs. ist
deutlich erkennbar. Am Beispiel des Hofmarschalls zeigt Schiller die
Oberflächlichkeit und Dummheit des Hoflebens. Die Geschichte, warum er und ein
gewisser von Bock „Todfeinde“ geworden sind, hat geradezu kabarettistische
Qualität. Am Ende der Szene ist Hofmarschall von Kalb – trotz seiner Bedenken
wegen des Standesunterschieds! – dazu bereit, Luises angeblichen Liebhaber zu
simulieren.
4. Szene:
Hintergründe einer zertrümmerten Violine
Ferdinand ist nach wie vor
entschlossen, seiner Liebe zu Luise nicht zu entsagen. Er schlägt ihr vor, mit
ihm zu fliehen. Ferdinand fühlt sich dazu berechtigt, seinem Vater Geld zu
entwenden, um diese Flucht finanzieren zu können. Luises ersten Einwand, sie
könne ihrem Vater das nicht antun, weist Ferdinand zurück. Der alte Miller soll
eben mitkommen. Luise macht aber noch weitere Einwände geltend. „Und der Fluch
deines Vaters uns nach? – ein Fluch (...) der uns Flüchtlinge, unbarmherzig wie
ein Gespenst, von Meer zu Meer jagen würde?“ Luise ist im Gegensatz zu
Ferdinand dazu bereit, die sozialen Konventionen und die ständische Ordnung als
letztlich gottgewollte Weltordnung anzuerkennen und sich dieser zu unterwerfen:
„(...) dein Herz gehört deinem Stande – Mein Anspruch war Kirchenraub.“ Sie
will „einem Bündnis entsagen, das die Fugen der Bürgerwelt auseinandertreiben,
und die allgemeine ewige Ordnung zugrund stürzen würde.“ Während sich Ferdinands
Aggression mach außen wendet, gegen eine in seinen Augen ungerechte und vor
allem herzlose Gesellschaft, die ständische Strukturen über die viel
beschworene „Stimme des Herzens“ stellt, richtet sich Luises Aggression gegen
sich selbst. „Ich bin die Verbrecherin“, sagt sie, und ihr Unglück empfindet
sie als letztlich gerechte Strafe. Ferdinand von Walter fühlt wohl den Riss,
der nun seine Beziehung zu Luise zu zerstören droht. In der Regieanweisung
setzt Schiller deutliche Zeichen: Ferdinand „hat in der Zerstreuung und Wut
eine Violine ergriffen und auf derselben zu spielen versucht – Jetzt zerreißt
er die Saiten, zerschmettert das Instrument auf dem Boden und bricht in ein
lautes Gelächter aus.“ Die zerschlagene Violine wird zum Symbol der zerstörten
Harmonie zwischen Luise und Ferdinand. Am Schluss der Szene setzt Schiller
(hier wieder einmal ein Meister psychologischer Kausalität!) einen Akzent, den
er überzeugend vorbereitet hat und der gleichzeitig die Voraussetzung dafür
schafft, dass Ferdinand im vierten Akt so leichtgläubig auf die Intrige des
Präsidenten hereinfällt. Ferdinand verdächtigt Luise der Untreue: „Schlange, du
lügst (...) Kalte Pflicht gegen feurige Liebe! – Und mich soll das Märchen
blenden? – Ein Liebhaber fesselt dich, und Weh über dich und ihn, wenn mein
Verdacht sich bestätigt.“
5. und 6.
Szene: Der erfolgreiche Intrigant
Ferdinand „geht schnell ab“,
Luise bleibt allein zurück – ein kurzer Monolog, dann betritt Sekretär Wurm das
Zimmer. Wurms Intrige (siehe III/1) scheint zu glücken. Aus Angst um den
geliebten Vater ist Luise bereit, den folgenreichen Liebesbrief an Hofmarschall
von Kalb zu schreiben.
4.AKT
1.-5. Szene:
Der Brief ist angekommen, der Held wütet
Schiller beschleunigt nun den
Ablauf, indem er einen Zeitsprung macht. Luises verhängnisvoller Brief ist in
die richtigen Hände gekommen: „Ferdinand allein, den Brief durchfliegend, bald
erstarrend, bald wütend herumstürzend“ – so die Regieanweisung. Ferdinand von
Walter fühlt sich in dem Verdacht, den er gegen Luise bereits in der 4.Szene
des 3.Akts hegte, bestätigt. Durch einen großen Monolog bringt Schiller
Ferdinands Gefühlszustand und das Bild, das er jetzt von Luise hat, zur
Sprache. Es ist das Bild einer berechnenden Heuchlerin, die Liebe,
Leidenschaft, Angst vor Entdeckung usw. meisterhaft zu spielen weiß, die
Zeichen wie Tränen, Erröten und ohmächtiges Niedersinken virtuos setzen kann
und deren Herz an nichts anderem hängt als an der eitlen Lust des Geschlechterspiels.
In seiner verzweifelten Wut sucht Ferdinand die Begegnung mit seinem
vermeintlichen Konkurrenten. Nach einem hitzig geführten Dialog setzt er
Hofmarschall von Kalb die Pistole an die Schläfe. Er soll gestehen, wie „weit“
er bei Luise gekommen ist. In seiner Todesangst verrät von Kalb, dass Ferdinand
vom eigene Vater betrogen worden ist, Wahrheitsgemäß bekennt der Hofmarschall,
dass er Luise noch nie gesehen hat. Aber Ferdinand will die Wahrheit nicht
glauben. Er stößt von Kalb aus dem Zimmer und fasst nun den Entschluss zu Mord
und Selbstmord, zu dem er sich berechtigt fühlt, weil diese Liebe für ihn alles
war. „Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel!“ Die
grauenhafte Vision einer Vermählung in der Hölle kommt ihm in den Sinn (Regieanweisung:
„Die Augen graß in einen Winkel geworfen“): „Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad
der Verdammnis geflochten – Augen in Augen wurzelnd – Haare zu Berge stehend
gegen Haare – Auch unser hohles Wimmern in eins
geschmolzen – Und jetzt zu wiederholen meine Zärtlichkeiten, und jetzt ihr
vorzusingen ihre Schwüre- Gott! Gott! Die Vermählung ist fürchterlich – aber
ewig!“
6.-10. Szene:
„Schrecklich harmonisches Fühlen“: Luise Miller begegnet Lady Milford
Bevor Schiller den
Haupthandlungsstrang weiterführt, fügt er noch zwei Szenen ein, in denen er
Luise Miller mit Lady Milford konfrontiert. Die Lady hat Luise unter dem
Vorwand, sie als Zofe anzustellen, zu sich kommen lassen. Sie sieht dieser
Begegnung mit gespaltenen Gefühlen entgegen. Einerseits will sie die Frau
kennen lernen, die von dem Mann so heftig geliebt wird, der sie selbst
zurückweist. Andererseits fürchtet sie diese Begegnung, denn sie weiß, dass sie
keine gute Ausgangsposition hat. Die Ermutigung des Kammermädchens Sophie, sich
doch an Herkunft, Rang und Macht zu erinnern, tut sie mit Recht als Geschwätz
einer Närrin ab, denn alle diese Vorzüge machen den wesentlichen Nachteil nicht
wett: den Nachteil, die ungeliebte Frau zu sein.
Luise Miller betritt das Zimmer.
Der Dialog wird zum Machtkampf. Lady Milford tut anfangs so, als würde sie sich
nur mit Mühe an den Namen ihrer Besucherin erinnern und spricht explizit von
der „armen Geigerstochter“. Luises Selbstachtung wird durch diese Redestrategie
nicht beeinträchtigt. Schon in Schillers Regieanweisungen zu Luises
(Sprech-)verhalten ist immer wieder der ungebrochene Stolz spürbar, den er
seiner Protagonistin wünscht („groß, mit entschiednem Ton“, „gelassen und
edel“; „fein und scharf ihr in die Augen sehend“, „standhaft“). Zur
Überlegenheit der geliebten Frau kommt bei Luise auch noch das bürgerliche
Selbstbewusstsein, das sich auf die Gewissheit moralischer Überlegenheit
stützt. Als Lady Milford ihr die Stelle des Kammermädchens in Aussicht stellt
und gleichzeitig meint, nur so könne Luise „Manieren und Welt lernen“ und sich
ihrer „bürgerlichen Vorurteile entledigen“, entgegnet Luise: „Auch meiner
bürgerlichen Unschuld, Mylady?“ Ohne Furcht vor möglichen Konsequenzen weist
Luise das Angebot zurück. Unter anderem begründet sie dies damit, dass es für Lady
Milford wohl unerträglich sein müsse, ein Beispiel weiblicher Unschuld um sich
zu haben, wenn sie selbst gerade auf dem Wege zu ihrem Vergnügen sei oder von
dort zurückkomme. Lady Milford hat erhebliche Probleme mit Luises souveränem
Auftreten. Sie wird von unterschiedlichen und durchaus gegensätzlichen Gefühlen
beherrscht. Augenblicke der verständnisvollen Zuwendung zu einer jungen Frau,
die ähnlich fühlt wie sie selbst, wechseln mit Phasen, in denen sie
(wirkungslos) die Überlegenheit des Standes hervorkehren will; und letztlich
wird sie in ihren düstersten Minuten zur tödlich gekränkten Frau, die ihre
Machtmittel für eine fürchterliche Rache missbrauchen will. „Felsen und
Abgründe will ich zwischen euch werfen ; eine Furie will ich mitten durch euren
Himmel gehen; (...) Ich kann nicht mit ihm glücklich werden – aber du sollst es
auch nicht werden – Wisse das, Elende! Seligkeit zerstören ist auch Seligkeit.“
Luise reagiert gelassen: „Sie sind nicht fähig ein Geschöpf zu quälen, das
Ihnen nichts zuleide getan hat, als daß es empfunden hat wie Sie.“ Und mit dem
großmütig-verzeihendem Gestus der unbedingten Siegerin fügt sie hinzu: „Aber
ich liebe Sie um dieser Wallung willen, Mylady.“
Am Schluss des 4.Akts will Lady
Milford mit ihren Brillanten Luise dazu bewegen, auf Ferdinand von Walter zu
verzichten. Luise wird verzichten, aber freiwillig. Geld und Schmuck haben
keine Bedeutung mehr für sie. Am Schluss der Szene greift Luise ein Bild auf,
das Lady Milford soeben noch verwendet hat. „(...)mein Name soll eure Küsse,
wie ein Gespenst Verbrecher auseinanderscheuchen: deine junge blühende Gestalt
unter seiner Umarmung welk wie eine Mumie zusammenfallen“, sagte die Lady in
einem Anfall rasender Eifersucht. Von einem Gespenst spricht jetzt auch Luise:
„Jetzt ist er Ihnen! Jetzt, Mylady, nehmen sie ihn hin! Rennen Sie in seine
Arme! Reißen Sie ihn zum Altar – Nur vergessen Sie nicht, daß zwischen Ihren
Brautkuß das Gespenst einer Selbstmörderin stürzen wird.“
Für Lady Milford wird dieses
Gespräch zum entscheidenden Wendepunkt. Sie entschließt sich, ihre Beziehung
zum Herzog zu lösen und das Land zu verlassen.
5.AKT
1.-8.Szene:
Durchwegs starke Abgänge
Luise ist nach wie vor zum
Selbstmord entschlossen. Der Tod löst sie auch von der Verpflichtung, den
Schwur einzuhalten, den sie Wurm geleistet hat. Sie schreibt einen klärenden
Brief an Ferdinand, vertraut sich aber ihrem Vater an, und Miller ist natürlich
nicht bereit, dem geplanten Freitod seiner Tochter einfach zuzuschauen. Hin-
und hergerissen zwischen ihrer unglückseligen Liebe zu Ferdinand und der Liebe
zum Vater entscheidet sie sich letztlich dazu, Millers verzweifeltem Drängen
nachzugeben. Sie zerreißt den Brief und will gemeinsam mit dem Vater die Stadt
verlassen. Da kommt Ferdinand von Walter und konfrontiert Luise mit ihrem Brief
an den Hofmarschall. Luise fühlt sich durch ihren Eid gebunden und bestätigt
Ferdinand, dass sie den Brief geschrieben habe. Ferdinand ist dazu entschlossen
Luise und sich selbst zu ermorden. Er lässt sich eine Limonade zubereiten,
schickt den alten Miller mit einer Botschaft an den Präsidenten weg und ist nun
mit Luise allein. In einem unbeobachteten Augenblick schüttet er Gift in die
Limonade, trinkt selbst davon und veranlasst auch Luise die Limonade zu kosten.
„Du wirst nicht aus dem Zimmer gehen“, sagt Ferdinand und Luise wird
schlagartig klar, dass sie sterben wird. Nun, angesichts des unausweichlichen
Todes, fühlt sie sich nicht mehr an den Eid gebunden. Ferdinand muss erfahren,
dass er eine Unschuldige getötet hat.
Luise ist bereits gestorben, als
Miller mit dem Präsidenten zurückkommt. Ferdinand konfrontiert seinen Vater mit
den Folgen seiner „Kabalen“. „Weide dich an der entsetzlichen Frucht deines
Witzes, auf dieses Gesicht ist mit Verzerrungen dein Name geschrieben, und die
Würgengel werden ihn lesen – Eine Gestalt wie diese (Anm. Luise) ziehe den Vorhang von deinem Bette, wenn du schläfst,
und gebe dir ihre eiskalte Hand – Eine Gestalt wie diese stehe vor deiner
Seele, wenn du stirbst, und dränge dein letztes Gebet weg (...)“. Der Präsident
will die Schuld auf Wurm überwälzen, aber der weiß sich zu wehren. Nun wird er
tun, was Ferdinand einmal angedroht hat, nämlich der Residenz eine Geschichte
erzählen, wie man Präsident wird. So ist am Ende alles zerstört. Den sterbenden
Ferdinand fleht der Präsident noch um einen verzeihenden Blick an. Ferdinand
reicht ihm tatsächlich „seine sterbende Hand.“ Der Präsident liefert sich den
Gerichtsdienern aus.
2. ENTSTEHUNGSUMSTÄNDE
2.1.
Historisch-biographischer Kontext
Das Fürstentum Württemberg wurde
während der Regierungszeit des Herzogs Karl Eugen (1745-1793) zum typischen
Beispiel absolutistischer Machtausübung und eines damit verbundenen
Repräsentationsstils. Der Hofstaat des Herzogs umfasste etwa 2000 Personen. Ging
der Herzog auf Reisen, begleiteten ihn 700 Personen und 600 Pferde. Große
Festveranstaltungen der Aristokratie verschlangen bis zu 400 000 Gulden. [1]
Bei der Geldbeschaffung war Karl
Eugen nicht skrupulös. Seit dem Siebenjährigen Krieg war es in Deutschland
nicht ungewöhnlich, junge Männer als „freiwillige“ Soldaten an ausländische
Herrscher zu verleihen oder zu verkaufen. In der Kammerdiener-Szene von „Kabale
und Liebe“ thematisiert Schiller diese menschenverachtende Politik der
Geldbeschaffung. Im Jahr 1776 versuchte auch der Herzog von Württemberg 3000
Soldaten an England zu „liefern“, damit sie im amerikanischen
Unabhängigkeitskrieg gegen die aufständischen Kolonien eingesetzt werden
können. Aus dem Handel wurde allerdings nichts, weil Württemberg mittlerweile
schon so verarmt war, dass es nicht im Stande war, die 3000 Mann angemessen
auszurüsten.
Auch das Mätressenwesen, das in
„Kabale und Liebe“ dargestellt wird, konnte man am württembergischen Hof
eingehend studieren. Herzog Karl Eugens „Favoritin“ war zunächst die
Venezianierin Katharina Bonafini, die 1771 dem Herzog einen Knaben gebar und
daraufhin an einen Rittmeister von Poeltzig verheiratet wurde. Seit etwa 1780
war Franziska von Leutrum, Reichsgräfin von Hohenheim, die Mätresse des Herzogs,
der nebenbei auch verheiratet war. Man sagt Franziska von Leutrum einen
günstigen Einfluss auf Karl Eugen nach. Sie soll das Vorbild für die Gestaltung
der Lady Milford gewesen sein.
Der 1759 in Marbach (Württemberg)
geborene Friedrich Schiller verspürte schon als Jugendlicher die Folgen
absolutistischer Herrschaft und schrankenloser fürstlicher Machtpolitik. Auf
Befehl des Herzogs Karl Eugen musste er 1773 die Ludwigsburger Lateinschule
verlassen und auf der herzoglichen Militärakademie zunächst Jura, dann Medizin
studieren. 1780 schloss er das Studium ab und wurde Regimentsarzt. Seine
heftige Abneigung gegen die Willkür des gesellschaftlichen Establishments
zeigte sich schon in Schillers erstem Drama „Die Räuber“. Die Hauptfigur Karl
Moor ist ja nicht nur mit seinem Vater zerstritten, sondern generell von der
ihn umgebenden Gesellschaft angewidert.
Als Schiller 1782 heimlich nach
Mannheim reiste, um bei der Aufführung der „Räuber“ dabei sein zu können,
beantwortete der Herzog diese unerlaubte Reise mit generellem Schreibverbot,
worauf Schiller über Mannheim nach Thüringen floh. Er versuchte nun als freier
Schriftsteller zu leben, schrieb zunächst sein zweites, nicht sonderlich
erfolgreiches Stück „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“ (UA 1783) und kurze
Zeit später „Kabale und Liebe“ (1784, ursprünglicher Titel: „Luise Millerin“).
2.2. Direkte
literarische Einflüsse
Handlungsführung und
Figurenzeichnung von „Kabale und Liebe“ sind zu einem nicht unerheblichen Teil
an Vorbildern orientiert, die literaturästhetisch deutlich schwächer sind als
Schillers Stück, die aber nicht unerwähnt bleiben sollen. Zunächst ist hier
Heinrich Leopold Wagners Drama „Die Reue nach der Tat“ (1775) zu erwähnen, das
Schiller nachweislich kannte. Der Handlungsverlauf von „Kabale und Liebe“ hat
deutliche Ähnlichkeiten mit diesem Stück. Die Hauptfigur Ferdinand von Walter
wiederum hat ein Vorbild in „Julius von Tarent“ (1776) von Johann Anton
Leisewitz. Ähnlichkeiten in der Personenkonstellation und im Hinblick auf
einige Handlungselemente ergeben sich auch mit dem rührseligen Schauspiel „Der
deutsche Hausvater“ von Otto von Gemmingen und mit dem Unterhaltungsroman
„Sigwart“ (1776) von Johann Martin Miller. In allen diesen Werken ist das
Spannungsfeld Adel-Bürgertum handlungsprägend.
Als hochwertiges literarisches
Vorbild muss natürlich Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“ genannt
werden. Bis in einzelne Formulierungen hinein kann man den Einfluss Lessings
auf Schillers Drama nachweisen[2]. Lessing war es ja zu verdanken, dass das in England beheimatete
„Bürgerliche Trauerspiel“ auch in der deutschen Bühnenliteratur ihren Platz
fand.
Die Tragödie des 17. und frühen
18.Jahrhunderts zeigte im Mittelpunkt der Handlung stets eine Hauptfigur, die
der Aristokratie angehörte. Tragische Schicksale - so scheint es - konnten nur
Angehörige des ersten Standes haben, während die Schicksale niederer
Standespersonen, also der Bürger und Bauern, als unerheblich galten. Bürger und
Bauern taugten als komische Figuren. Die lächerlichen Bühnenhelden des
französischen Komödiendichters Moliere,
vom eingebildeten Kranken bis zu Tartuffe, waren Bürger, und die komische Figur
der Volkskomödie war ein Bauer.
England war das erste Land in
Europa, in dem dieses vorwiegend ungeschriebene, teilweise aber auch
geschriebene Gesetz seine Gültigkeit verlor. Dafür gibt es überzeugende
sozialgeschichtliche Erklärungen. Englands wirtschaftliche Entwicklung verlief
aus unterschiedlichen Gründen rascher als die des Kontinents. Handel und
Gewerbe wurden schon bald zum wesentlichen wirtschaftlichen Faktor, und die
industrielle Produktionsweise setzte nirgendwo so früh ein wie auf der Insel.
Parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung vollzog sich daher die soziale
Strukturveränderung. Das wirtschaftstreibende Bürgertum wurde neben dem Adel
immer mehr zur herrschenden gesellschaftlichen Klasse, die Städte wurden neben
den Fürstenhöfen zu kulturellen Zentren, und das Bürgertum fand nach und nach
zu eigenständigen künstlerischen Ausdrucksweisen. Diesen Umständen verdankt das
„Bürgerliche Trauerspiel“ seine Entstehung. Als Beispiel für diese Art von
Dramatik soll hier kurz das Stück GEORGE BARNWELL OR THE MERCHANT OF LONDON
erwähnt werden, das ein Juwelier namens George Lillo geschrieben hat und das in
London im Jahr 1731 seine erste Aufführung erlebte.
George Barnwell ist ein junger, bislang unbescholtener Mann aus
bürgerlichem Haus, der auf die sprichwörtliche schiefe Bahn gerät, weil er
einer verruchten Frau namens Millwood verfallen ist. Um ihre Zuneigung und
Leidenschaft zu erkaufen, läßt er sich auf allerlei Unredlichkeiten ein. Als
selbst die auf diese Weise erworbenen finanziellen Mittel nicht ausreichen, um
die Luxusbedürfnisse der niederträchtigen Millwood zu befriedigen, scheut
George Barnwell nicht einmal vor dem Mord zurück. Das Opfer dieser Tat ist ein
Onkel, der sterbend noch ein Gebet für den mißratenen Neffen spricht. Der junge
Barnwell wird von der Polizei gefaßt und stirbt am Galgen, aber die
hexenähnliche Millwood entgeht letztlich auch nicht der verdienten Strafe,
sodaß das empörte Publikum doch noch zufrieden den Heimweg antreten kann.
Diese Art des Theaters, für das GEORGE BARNWELL steht, erfreute sich in
England großer Beliebtheit und erweckte aufgrund des Erfolgs nach und nach auch
das Interesse des Kontinents. In Frankreich bemühte sich zum Beispiel der
vorwiegend als Philosoph und Enzyklopädist bekannte Denis Diderot um das bürgerliche Drama und schuf selbst zwei Stücke
dieser Art, DER NATÜRLICHE SOHN (Le fils naturel,1757) und DER FAMILIENVATER
(Le pere de famille, 1758). Und Pierre Augustin Caron, besser bekannt unter dem
Namen Beaumarchais, schuf mit seinem
Figaro eine bürgerliche Komödienfigur, die für selbstbewußte französische
Bürger durchaus ein Identifikationsangebot war.
Die Bürger der deutschen Städte hatten zwar weder im ökonomischen und
politischen noch im kulturellen Bereich den Entwicklungsstand der englischen
Standesgenossen erreicht, aber selbst in Deutschland entstand im 18.Jahrhundert
ein eigenständiges bürgerliches Drama. Den Anstoß dafür gab Gotthold Ephraim
Lessing. Lessing sah 1754 in Hamburg die deutsche Erstaufführung des oben
erwähnten Stücks GOERGE BARNWELL, und er ging sofort daran, ein deutsches
Trauerspiel dieser Art zu schreiben. Schon ein Jahr später, am 10.7.1755, wurde
in Frankfurt an der Oder das Trauerspiel MISS SARA SAMPSON uraufgeführt.
Die tragische Hauptfigur des Stücks ist ein Mädchen aus dem Bürgertum,
das den Verführungskünsten des Aristokraten Mellefont nicht widerstehen kann.
Er hat sie dazu gebracht, mit ihm in einem Provinzgasthof abzusteigen. Sara
erhofft sich eine ständige Bindung, Mellefont hält sie hin, indem er auf eine
Erbschaftsklausel verweist. Während Sara und Mellefont im Provinzgasthof ihren
Leidenschaften frönen, hat aber Marwood, Mellefonts ehemalige Geliebte, mit der
er auch ein Kind hat, William Sampson, Saras Vater, über die Situation
aufgeklärt. Beide, die Marwood und William Sampson, reisen unabhängig
voneinander in die Provinz. Marwood will Mellefont zurückgewinnen. Sampson
will, daß die Verbindung zwischen Sara und Mellefont legalisiert wird. Beider
Vorhaben wird vereitelt. Als Mellefont Marwood zurückweist, vergiftet die
tödlich beleidigte Frau ihre Nebenbuhlerin. Als Vater Sampson eintrifft, liegt
seine Tochter bereits im Sterben. Angesichts des Unglücks, das er verschuldet
hat, ersticht sich Mellefont neben Saras Leiche.
MISS SARA SAMPSON war ein enormer Publikumserfolg. Berichte über die
Uraufführung geben Auskunft über herzzerreißende Szenen im Zuschauerraum. Die
Menschen sollen in Tränen ausgebrochen und Wildfremde sollen einander in die
Arme gesunken sein. Diese starke emotionale Wirkung ist wohl nur dadurch zu
erklären, daß Lessing in seinem Drama Probleme angesprochen hat, die den
Menschen aus ihrem eigenen Erfahrungsbereich geläufig waren. Solch ein Problem
der Zeit war wohl die Verführung naiver Bürgermädchen durch Aristokraten. Es
ist sicher kein Zufall, daß dieses Motiv in mehreren deutschen Dramen des
18.Jahrhunderts handlungstragend geworden ist, so zum Beispiel in Heinrich
Leopold Wagners KINDERMÖRDERIN, in Jakob Michael Reinhold Lenz’ SOLDATEN, in
Friedrich Schillers KABALE UND LIEBE und natürlich auch in Goethes CLAVIGO und
im FAUST.
Auch Lessing selbst hat die Handlungsstruktur
des bürgerlichen Trauerspiels noch einmal zur Grundlage eines Bühnenstücks
gemacht. Bereits im Jahre 1757 wollte er die altrömische Geschichte der
Virginia als modernes bürgerliches Trauerspiel bearbeiten. Sein Vorhaben wurde
vorläufig vereitelt, als das von ihm geführte Deutsche Nationaltheater in
Hamburg, das als Novität, nämlich als öffentliches bürgerliches Theater,
gegründet worden war, schon nach drei Jahren nicht mehr finanzierbar war.
Lessing musste nun einen Brotberuf annehmen und wurde Bibliothekar beim Herzog
in Braunschweig. Der Plan, die Virginia-Sage zu modernisieren, musste unter
diesen ungünstigen Bedingungen aufgeschoben werden. Erst fünfzehn Jahre später,
am 13.3.1772, erlebte Lessings bürgerliches Trauerspiel EMILIA GALOTTI in Braunschweig
seine Uraufführung.
Ähnlich
wie in MISS SARA SAMPSON ist auch in EMILIA GALOTTI ein Mädchen aus
gutbürgerlicher Familie die tragische Hauptfigur. Emilia ist die tugendreiche
Tochter des Obersten Galotti. Ihr Verhängnis ist, dass Prinz Gonzaga leidenschaftlich
in sie verliebt ist. Gonzaga ist kein Tyrann, kein zynischer Herrscher, der
vorsätzlich seine Macht missbraucht. Lessing zeigt ihn eher als Schwärmer, der
sich nicht dessen bewusst ist, dass Schwärmereien und Leidenschaften, die ein
Fürst hat, ungleich schwerwiegendere Auswirkungen haben können als die anderer
Menschen. Wie ein Kind will er das Objekt seiner Begierde unbedingt für sich
haben. Als er von seinem Kammerherrn Marinelli erfährt, dass Emilia bereits
versprochen ist, dass sie demnächst den Grafen Appiani heiraten soll, fühlt er
sich zutiefst verletzt und schreckt in dieser Stimmung nicht davor zurück,
Marinelli freie Hand zu geben, die Verbindung zwischen Emilia und Appiani zu
verhindern. Marinelli versucht zuerst, einen Aufschub der Hochzeit zu
erreichen, indem er Appiani eine diplomatische Mission des Prinzen in Aussicht
stellt. Als Appiani darauf nicht eingeht, schreckt Marinelli nicht davor
zurück, die Kutsche, in der Emilia und ihr künftiger Mann reisen, von Banditen
überfallen zu lassen. Appiani wird bei diesem Überfall erschossen, Emilia
entführt und nach Dosalo, auf das Lustschloss des Prinzen, gebracht. Dort kommt
es zur eigentlichen Tragödie. Zunächst erscheint die eifersüchtige Orsina, die
ehemalige Mätresse des Prinzen, die Lessing als zutiefst enttäuschte Frau
gezeichnet hat. Dann erscheint Odoardo Galotti, der Vater. Emilia gesteht ihm
ihre Angst, der Verführung des Prinzen zu erliegen, und fordert den Vater daher
auf, sie zu töten, damit sie vor Schande bewahrt wird.
3. ANREGUNGEN ZUR TEXTERSCHLIESSUNG
Die Fragestellungen sollen Ihnen
lediglich als Hilfestellung dienen. Notieren Sie auch eigene Leseeindrücke und
Gedanken, die sich während der Lektüre einstellen.
Lesen Sie den ersten Akt und erschließen Sie Ihr Textverständnis:
1.
Welches Problem
quält Musikus Miller?
2.
Welche
Unterschiede hinsichtlich der Beurteilung des Problems erkennen Sie zwischen
Miller und seiner Frau?
3.
Schillers
Sprache ist für Sie wahrscheinlich nicht leicht zu verstehen. Machen Sie sich
die Gründe dafür bewusst. Erstens verwendet Schiller teilweise Ausdrucksweisen
seiner Zeit, die heute nicht mehr üblich sind. Zweitens lässt er insbesondere
Miller in einer kraftvoll-bildhaften Sprache reden. Analysieren Sie die
Bildhaftigkeit der Textstelle „Aber sag mir doch, was wird bei dem ganzen
Kommerz auch herauskommen“ bis „Jesus Christus!“ (1.Szene) und formulieren Sie
Ihr Verständnis der einzelnen Sprachbilder.
4.
Auftritt des
Sekretärs Wurm. In welchem Verhältnis steht er zur Familie Miller? Wie wird er
von Herrn und Frau Miller behandelt?
5.
In der dritten
Szene tritt Luise auf. Wie sieht sie ihre Liebe zu Ferdinand von Walter? Weisen
Sie den Zusammenhang von religiösem Erlebnis und Liebeserlebnis nach.
6.
In der vierten
Szene tritt der männliche Held auf. Welches Bild machen Sie sich von ihm?
7.
Wurm verrät
Ferdinands Liebe zu Luise an den Präsidenten. Wie reagiert dieser darauf?
Welche Ehepläne hat er für seinen Sohn?
8.
Erläutern Sie
den Vater-Sohn-Konflikt, das zentrale Motiv des Stücks, anhand der 7.Szene,
Lesen und erschließen Sie den
zweiten Akt
1.
Welches Bild
von Lady Milford erhalten Sie nach der Lektüre der ersten drei Szenen?
Geschichtlicher Hinweis zum Verständnis der Kammerdiener-Szene: Im 18.Jh. war
es in deutschen Fürstentümern üblich, Soldaten an kriegführende Länder zu
vermieten oder zu verkaufen. Auch der Herzog von Württemberg, in dessen
Fürstentum Schiller lebte, wollte einen Teil seiner aufwendigen Hofhaltung
durch dieses fragwürdige Mittel der Geldbeschaffung finanzieren. Er bot 1776
England für den Krieg gegen die amerikanischen Kolonien (Amerikanischer
Unabhängigkeitskrieg) Truppen an, konnte sie allerdings nicht einmal mehr
ausrüsten, weil die Staatskasse leer war.
2.
In der 6. und
7.Szene führt Schiller die Handlung an einen vorläufigen Höhepunkt, indem er
die Hauptbeteiligten am Konflikt zusammentreffen lässt. Analysieren Sie genau
das Sprachverhalten der einzelnen Personen. Mit welcher Drohung kann Ferdinand
davon abhalten, die Familie Miller verhaften zu lassen?
Lesen und erschließen Sie den
dritten Akt
1.
„Kabale“ ist
ein mittlerweile nicht mehr gebräuchliches Wort für „Intrige“. Erläutern Sie
den Inhalt der Kabale, die Wurm für den Präsidenten ersinnt.
2.
Welche Rolle
soll Hofmarschall von Kalb in Wurms Plan einnehmen? Wie zeichnet Schiller die
Figur des Hofmarschalls? Die klassizistische Ästhetik des 17. und 18.Jhs.
lehnte die Vermischung von Tragischem und Komischem in ein und demselben Stück
ab. Was halten Sie von der Mischung der Stilebenen?
3.
Analysieren Sie
den Verlauf des Gesprächs zwischen Ferdinand und Luise in der 4.Szene. Die
zerschlagene Violine wird zum Symbol für Ferdinands seelischen Zustand. Welche
Folgen hat das Gespräch für seine Liebe zu Luise?
4.
Wie bringt Wurm
Luise dazu, den verhängnisvollen Brief zu schreiben? Hat Luise keine anderen
Handlungsmöglichkeiten?
Lesen und erschließen Sie den 4.
und 5. Akt
1.
Wie reagiert
Ferdinand, als er den fingierten Brief findet? Hofmarschall von Kalb wird von Ferdinand
bedroht und gesteht die Wahrheit. Ferdinand glaubt ihm aber nicht. Ist das für
Sie psychologisch nachvollziehbar?
2.
Analysieren Sie
die emotionale Sprache in Ferdinands Monolog (4.Akt, 2.Szene). Achten Sie
insbesondere auf folgende stilistischen Eigenarten: Satzbau, unvollständige
Sätze, Ausrufe, Sprachbilder, Wortwiederholungen u.a.m.
3.
Ferdinand hält
sich dazu berechtigt, über Luises weiteres Schicksal zu entscheiden. „Das
Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel“. Wie beurteilen Sie diese
Haltung?
4.
Im 4. Akt
(Szene 6 bis 10) bringt Schiller Lady Milford und Luise zusammen. Analysieren
Sie diese Szenen unter Beachtung folgender Aspekte genau: Wie tritt Lady
Milford Luise am Beginn des Gesprächs entgegen? Wie begegnet Luise dieser Frau,
die um so viel mächtiger ist als sie selbst? Lady Milford wird während des
Gesprächs von wechselnden Emotionen beherrscht. Versuchen Sie diese
unterschiedlichen, ja teilweise gegensätzlichen Emotionen zu beschreiben. Wie
endet das Gespräch? Welche Konsequenzen zieht Lady Milford in der 10.Szene?
5.
Luise ist zum
Selbstmord entschlossen. Warum kommt es nicht dazu?
6.
Schildern Sie
den tragischen Höhepunkt und den Schluss der Tragödie.
[1] siehe dazu: VON BOEHN Max: Deutschland im 18.Jahrhundert. Berlin 1922
(zitiert bei SCHAFARSCHIK 1980)
[2] Genauer nachlesbar bei: SCHAFARSCHIK Walter: Friedrich Schiller.
Kabale und Liebe. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1980 (RUB 8149)
[3] Die Darstellung des Genres ist entnommen aus SCHACHERREITER: Man muß
nur Aug und Ohren dafür haben. Warum Theater so faszinierend ist. Teil 1. Linz
1997 (Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Grosser) Das Buch ist in alter
Rechtschreibung verfasst. Die Schreibweise wurde in diesem Abschnitt
angepasst.
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