1. Die
Vorgeschichte, wie sie im Mythos überliefert wird
Antigone gehört zum
Sagenkreis um das Königsgeschlecht von Theben. Als Stammvater der Thebaner gilt
Kadmos, der gemeinsam mit seiner Gattin Harmonia fünf Kinder hatte, unter anderem
jene Semele, mit der Zeus Dionysos zeugte. Aus diesem Grund erfreute sich
Dionysos in Theben immer besonderer Verehrung. Ein Enkel von Kadmos und
Harmonia hieß Labdakos. Daher wird in Sophokles’ Stück bisweilen auch vom
Geschlecht der „Labdakiden“
gesprochen. Ein Sohn des Labdakos war König Laios. Er zeugte gemeinsam mit
seiner Frau Iokaste einen Sohn (Ödipus), den er töten lassen wollte, weil ihm
das Orakel von Delphi mitteilte, dass er von seinem eigenen Sohn getötet werden
wird. Diese Voraussage kann als Folge einer Verfehlung des Laios interpretiert
werden. Er verliebte sich nämlich in Chrysippos, den schönen Sohn des Pelops,
und entführte ihn. Der Fluch des Pelops wurde von Zeus erhört und führte dann
zum Orakelspruch gegen Laios.
Laut griechischer Vorstellung ist es unmöglich, einer
göttlichen Prophezeiung zu entgehen. So ist es auch bei König Laios. Der Hirte,
der den Säugling Ödipus töten soll, führt den Auftrag nicht aus, sondern er
übergibt das Kind dem König von Korinth, der ihn wie einen eigenen Sohn aufzieht.
Als aber Ödipus erfährt, dass er nicht der leibliche Sohn des korinthischen
Königs ist, beginnt er nach seiner wahren Herkunft zu forschen. Auf seinem Weg
erschlägt er einen ihm unbekannten Mann – König Laios von Theben. So gelangt er
nach Theben, befreit die Stadt von der Sphinx und heiratet die Königin,
unwissend, dass Iokaste seine Mutter ist. Aus der Ehe des Ödipus mit Iokaste
stammen die Söhne Eteokles und Polyneikes und die Töchter Antigone und Ismene.
Als Ödipus wahrhaben muss, dass er seinen Vater getötet und seine Mutter
geheiratet hat, blendet er sich. Iokaste begeht Selbstmord. In der Tragödie
„König Ödipus“ (Oidipus tyrannos) dramatisierte Sophokles diesen Mythos.
Die Ödipus-Söhne Eteokles und Polyneikes geraten in
Streit um die Thronfolge. Ein Kompromiss soll den Streit beenden. Die
Herrschaft sollte jährlich wechseln. Aber Eteokles ist nach einem Jahr nicht
bereit die Macht abzugeben, und so sucht Polyneikes militärische Unterstützung
bei seinem Schwiegervater Adrastos, dem König von Argos. Das Heer zieht gegen
Theben und bedroht die Stadt. In dieser Lage fordert der Seher Teiresias die
Stadt Theben dazu auf, das Leben des jüngsten Kreon-Sohns Megareus zu opfern.
Megareus opfert sich für Theben und die Götter stellen sich tatsächlich auf die
Seite des Eteokles. Das feindliche Heer zieht ab. Eteokles und Polyneikes
erschlagen sich allerdings gegenseitig. Kreon, ihr Onkel, übernimmt in Theben
die Herrschaft. Diesen Teil des Mythos dramatisierte Aischylos im Stück „Sieben
gegen Theben“ (Hepta epi Thebas). Und
an diesem Punkt des Geschehens (Kreon hat die Macht übernommen) setzt die
Handlung von Sophokles’ Drama „Antigone“ ein. Die Uraufführung dürfte
ungefähr im Jahr 442 v. Chr. in Athen stattgefunden haben.
2. Handlung und
Aufbau
Sophokles gliedert den Handlungsverlauf in sieben
Szenen. Sie werden von Stasima (Chorliedern) unterbrochen. Die Handlung spielt
durchgehend vor dem thebanischen Königspalast. Die Einheit des Orts wird also
eingehalten; ebenso wie die Einheit der Zeit. Die gespielte Zeit umfasst einen
Tag.
Szene
Antigone und
Ismene betreten den Schauplatz. Antigone berichtet ihrer Schwester, dass König
Kreon, der neue Herrscher, die Bestattung des Polyneikes untersagt hat. Wer
sich nicht an dieses Gesetz hält, wird mit dem Tode bestraft. Antigone ist
trotz der angedrohten Todesstrafe dazu entschlossen, ihren Bruder zu begraben ,
so wie es das göttliche Gesetz verlangt. Ismene versucht sie von diesem Vorhaben
abzubringen. Das Machtwort des Herrschers hat für sie unbedingte Gültigkeit:
Wir müssen einsehn, dass wir Frauen sind,
Mit Männern uns zu messen nicht bestimmt.
Der Stärkere hat über uns Gewalt. (V. 61-63)[1]
Antigone sieht in Ismenes Begründung nur einen Vorwand.
Sie selbst fürchtet den Tod nicht, also hat auch die männliche Kraft keine
Gewalt über sie. Nicht einmal um Verheimlichung ihrer Tat will sich Antigone
bemühen.
Parodos (Einzugslied des Chors)
Der Chor
begrüßt den aufgehenden Morgen und erzählt die wesentlichen Teile der
Vorgeschichte: Polyneikes führte ein feindliches Heer gegen Theben. Aber der
Feind ist bereits geflohen. Der Chor interpretiert Thebens Sieg als Willen der
Götter. Zeus selbst habe sich zugunsten von Theben eingemengt. Der Göttervater
habe ein Zeichen gesetzt, indem er einen prahlerischen Angreifer (Kadmeus), der
bereits die Stadtmauer erklommen hatte, durch einen Blitz tötete. Auch Ares
habe Theben unterstützt. Bitter freilich ist, dass die Brüder Eteokles und
Polyneikes einander im Kampf getötet haben. Dennoch fordert der Chor zur
Siegesfeier auf. Da betritt Kreon den Schauplatz.
Szene
Kreon rechtfertigt vor dem Chor seine Anordnungen. Wer
die Stadt Theben gefährdet, muss bestraft werden. Daher wird der Leichnam des
Angreifers Polyneikes nicht begraben, aber der des Eteokles sehr wohl, denn er
verteidigte die Stadt gegen das fremde Heer. Seltsam ist, dass Kreon
verschweigt, dass Eteokles der Verursacher des Konflikts war, weil er nicht –
so wie es vereinbart war – die Herrschaft an seinen Bruder abgetreten hat. Vor
der Schuld des Polyneikes war also die Schuld des Eteokles. Kreon ignoriert
sie, und auch der Chor scheint die Position des Königs zu unterstützen. Er
äußert sich zwar nicht zum Bestattungsverbot, aber er spricht dem König das
Recht zu, nach eigener Sichtweise zu verfahren: „Nach jeglichem Gesetz steht
dir wohl zu, / Mit uns, ob tot, ob lebend, zu verfahren.“ (V. 213f.)
Ein Wächter tritt auf und muss dem König melden, dass
ein Unbekannter das Bestattungsverbot übertreten hat:
„(...) Es war jemand beim Toten,
Der ihn begrub. Er streute durstigen Staub
Auf ihn und weihte ihm, was sich gehört. (V.245-247)
Nach thebanischer Sitte gilt diese symbolische Geste
als vollwertige Bestattung. Bezeichnend ist, dass Kreon sofort einen Mann als
Täter vermutet („Welcher Mann hat das gewagt?“). Der Wächter – eher eine
komische Figur – muss gestehen, dass er ebenso wenig wie die anderen Wächter
weiß, wer diese Tat gewagt hat. Der Chor wird nun unsicher und mutmaßt sogar
die Einflussnahme der Götter: „Herr! Ob nicht gar ein Gott dies Werk betrieb, /
Darüber denke ich schon lange nach.“ Kreon ignoriert diesen Hinweis. Noch
einmal rechtfertigt er das Bestattungsverbot und äußert die Vermutung, seine
Gegner unter den Bürgern Thebens hätten die Wächter bestochen. Sollten sie
nicht im Stande sein, den Täter zu überführen, würde Kreon ihre Tötung
veranlassen. Der Wächter weist die Anschuldigung zurück, aber Kreon ist nicht
zu besänftigen. Er bleibt bei seiner Drohung, als er abgeht. Der Wächter
beschließt in der Flucht sein Heil zu suchen.
Erstes Stasimon (Chorlied)
Im Lied rühmt der Chor die Fähigkeiten des Menschen.
Der Mensch bezwingt die Natur, bringt die Sprache hervor, gründet Staaten. Nur
den Tod hat er noch nicht besiegt. Eine zweite Schwachstelle des Menschen ist,
dass er sich nicht nur für das Gute, sondern auch für das Böse entscheiden
kann. Groß im Volk ist, wer „des Landes Gesetz / Und der Götter beschwornes
Recht“ ehrt (V.368f.). Wer sich hingegen dem Unrecht ergibt, gilt im Volk
nichts. Dieses Urteil des Chors trifft sowohl Antigone als auch Kreon. Denn Antigone
hat das Gesetz des Landes nicht eingehalten. Kreon hat aber durch sein
Bestattungsverbot das göttliche Gesetz missachtet. Der Chor verhält sich also
jetzt schon ambivalent.
Szene
Der Wächter führt Antigone vor. Sie hat sich ein
zweites Mal um die Bestattung des Polyneikes gekümmert und ist dabei ertappt
worden. Kreon schickt den Wächter weg und stellt Antigone zur Rede. Weder
leugnet sie die Tat, noch bittet sie Kreon um Vergebung. Nicht ganz zu Unrecht
mutmaßt daher der Chor, dass sich bei Antigone des „Vaters trotzige Art
verrät“. Antigone sucht nicht Schuld bei sich selbst, sondern sie wirft Kreon
vor, dass er das staatliche Gesetz über das göttliche stelle. Ein Toter – egal,
wer er ist – muss nach göttlichem Gesetz begraben werden. Und wenn es sich um
den eigenen Bruder handelt, gilt dies umso mehr. Die Art und Weise, in der
Antigone mit Kreon spricht, erachtet er als „zweiten Frevel“:
„Hohnlachend prahlt sie noch mit ihrer Tat.
Wenn sie sich ungestraft das leisten darf,
Bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann.“ (V. 483-485)
Selbst durch die ernsthafte Androhung der Todesstrafe
ist Antigone nicht zu erschrecken. Sie rechnet ohnedies damit. Kreon versucht
ihr noch einmal durch Argumente beizukommen. Sein Standpunkt ist bekannt:
Polyneikes hat die Stadt angegriffen. Er ist Thebens Feind. Auf Kreons Satz
„Nie, auch nicht, wenn er starb, lieb ich den Feind“ entgegnet aber Antigone:
„Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil.“ (V 523) Und sie behauptet auch,
dass die öffentliche Meinung Thebens auf ihrer Seite steht. Nur Furcht vor dem
Tyrannen hindere die Menschen daran, ihre Meinung zu äußern.
Kreon vermutet, dass auch Ismene an der
Gesetzesübertretung beteiligt war. Im Unterschied zur ersten Szene, in der
Ismene die Beteiligung verweigert hat, gesteht sie jetzt eine Tat, die sie
tatsächlich nicht begangen hat. Das Vorbild der Schwester hat sie offenbar tief
beeindruckt, und sie ist bereit, mit Antigone zu sterben. Aber weder Antigone
noch Kreon wollen dieses Opfer annehmen. Daraufhin versucht Ismene, Kreon von
seinem Entschluss abzubringen. Immerhin sei es die Verlobte seines Sohnes
Haimon, über die Kreon das Todesurteil ausspreche. Auch der Chor mischt sich
ein: „So willst du deinem eignen Sohn sie rauben?“ (V. 574). Trotz allem rückt
Kreon nicht von seinem Urteil ab.
Zweites Stasimon
„ (...) wo Gott ein Haus erschütterte, schwillt ihm /
Unablässig durch alle Geschlechter Unheil.“ (V. 584f.). Mit diesem Satz
verweist der Chor auf die Vorstellung vom gottgewollten Schicksal, dem man
nicht entrinnen kann. Über „Labdakos’ Stamm“ liegt seit Generationen ein Fluch.
Diese pessimistische Sicht wird sogar ins Universale erweitert: „Keines
Menschen Leben erfüllt sich frei von Unheil.“ (V. 614) Die Hoffnung des
Menschen ist zwar Trost, aber oft bleibt sie ein Trugbild der Ahnungslosen, und
selbst der, welcher das Gute will, ist nicht davor geschützt in Schuld zu
geraten, denn „Nur eine Spanne treibt er’s frei von Unheil.“ (V.625)
Szene
Das Gespräch
Kreons mit seinem Sohn Haimon kann man getrost als frühes Meisterwerk der
Kommunikationspsychologie bewerten. Am Anfang steht der Wille beider
Gesprächspartner, den anderen nicht zu verletzen und ihn auf diese Weise
günstig zu stimmen. Haimon bejaht das Prinzip der Sohnesliebe und unterwirft
sich zunächst den Plänen des Vaters:
Dein bin ich, Vater. Du lenkst meinen Sinn
Mit weiser Einsicht, und ich folge dir.
Denn mir wird keine Ehe köstlicher
Als deine Führung sein – auf rechtem Weg. (V. 635-638)
Man beachte die Einschränkung „auf rechtem Weg“ am
Schluss der vier Verse. Nur wenn Kreon „auf rechtem Weg“ ist, will sich Haimon
seiner Führung unterwerfen. Diese Einschränkung überhört Kreon. Er will nur die
Bereitschaft zur Unterwerfung heraushören und bemüht sich, diese Haltung seines
Sohnes zu bekräftigen: „Ja, Kind, so halte es in deinem Herzen fest: / Des
Vaters Wille gehe vor in allem.“ (V.639f.) Diese „Einsicht“ soll Haimon ja
nicht preisgeben, schon gar nicht wegen „eines Weibs, das dir gefiel“. Denn
dieses Weib – also Antigone – ist „böse“. Sie untergräbt Kreons Autorität – und
das sei das Schlimmste für ein geordnetes Staatswesen. Wortreich versucht Kreon
seinen Sohn von dieser Sichtweise zu überzeugen. Dass Antigone eine Frau ist,
wirkt sich erschwerend aus, denn „Wenn’s sein muss, besser, mich verdrängt ein
Mann, / Dann heißt es nicht, ich lasse Weiber herrschen.“ (V 679f.)
Der Chor spendet Kreon Beifall. Haimons Position ist
schwierig. Er betont, dass er die Aussagen des Vaters nicht in Zweifel zieht,
legt ihm aber nahe, auch andere Stimmen zu hören, denn ihm sei zu Ohren
gekommen, „Wie sich die Stadt um dieses Mädchen härmt: / Sie, die Unschuldigste
(sic!) von allen Frauen, / Soll elend sterben für die schönste Tat!“ (693-695)
Ähnlich wie Antigone weist also auch Haimon darauf hin, dass die öffentliche
Meinung kein Verständnis für Kreons Härte hat. Aber aus Furcht sprechen die
Menschen ihre Ansichten nicht offen aus. Kreon soll daher im eigenen Interesse
Meinungsfreiheit zulassen: „Drum lass nicht nur die eine Denkart gelten, / Die
du für richtig hältst, und keine andre!“ (705f.) Der Chor schließt sich der
Aufforderung zur Toleranz an: „Herr! Trifft sein Wort, ziemt dir, darauf zu
hören - / Und dir auf ihn, denn beide spracht ihr gut.“ (V. 724)
Kreon empört sich über Haimons Kritik. Daraus
entspinnt sich ein Grundsatzgespräch über Herrschaft und Staatswesen. Der König
besteht auf absoluter Herrschaft, doch Haimon beantwortet Kreons rhetorisch
gemeinte Frage „Gilt nicht der Staat als Eigentum des Fürsten?“ eindeutig mit
einem Nein: „Allein herrscht du am besten in der Wüste.“ (738f.); und vorher
sagte er schon: „Das ist kein Staat, der einem nur gehört.“ (737). Da sich
Kreons Position immer mehr verhärtet, wird Haimon deutlich: „Ich sehe, dass du
dich am Recht versündigst.“ Er übernimmt Antigones Argumentation: „(du) trittst
der Götter Recht mit Füßen“, sagt er. Kreon setzt sich nicht mit Haimons
Argumenten auseinander, er verdächtigt ihn lediglich, „in Weibes Fron“ zu
stehen, und verlangt umso vehementer Antigones Tod. Haimons indirekte
Ankündigung seines eigenen Todes für diesen Fall überhört Kreon:
„Mich aber wirst du nie mehr
Vor deinen Augen sehen. Such dir Freunde,
Die deinen Wahnsinn sich gefallen
lassen.“ (V. 763-765)
Kreon wird Antigone in ein Felsengrab sperren lassen:
„Dort mag sie Hades, ihren einzigen Gott, / Anflehn, vielleicht erlässt er ihr
das Sterben.“ (V. 777f.)
Drittes Stasimon
Der Chor interpretiert das Geschehen als Macht des
Eros und der Aphrodite. „Siegend bezeugt sich / Auf bräutlichem Lager /
Lieblicher Augen Reiz.“ Haimons Liebe zu Antigone ist es, die ihn mit dem Vater
entzweit. „Unbekämpfbar treibt ihr Spiel / Göttin Aphrodite.“ (V. 798f.)
Szene
Antigone wird vom Palast weggeführt. Der Chor
verheimlicht seinen Schmerz über diesen Anblick nicht:
„(...) ich hemme den Quell der Tränen nicht mehr,
Seh ich Antigone ziehn
Zur alle bettenden Kammer.“ (V.802-805)
Antigone beklagt ein letztes Mal ihr Schicksal. Sie
hat gegen kein göttliches Gebot verstoßen und muss jetzt „Unbeweint, ungeliebt,
unvermählt“ in ihr Felsengrab steigen. Irritierend wirkt die Textstelle, an der
Antigone sagt, weder für ein eigenes Kind noch für einen Gatten hätte sie so
eine Tat gewagt, denn sowohl Kind als auch Gatte seien zu ersetzen, aber „ruhn
im Hades Mutter schon und Vater, / Da kann ein Bruder niemals mehr erblühn.“
(V.911f.) Nicht zum ersten Mal wird auch die unheilvolle Verstrickung in die Familiengeschichte
angesprochen. Antigone sieht sich selbst als Mitglied jener Familie, auf
welcher die Schuld von Ödipus und Iokaste lastet.
Viertes Stasimon
Der Chor erzählt von mythologischen Gestalten, die –
so wie Antigone – eingekerkert wurden. Lykurg starb in einer Felsenhöhle den
Hungertod. König Phineus ließ seine Söhne aus erster Ehe im Felsengrab
verhungern, weil seine zweite Frau dies forderte. König Akrisios von Argos
sperrte seine Tochter Danae in einen Turm, weil ihm das Orakel von Delphi prophezeit
hatte, sein eigener Enkel werde ihn töten. Akrisios konnte aber durch diese
Vorsichtsmaßnahme ebenso wenig sein Schicksal abwenden wie andere von
unangenehmen Orakelsprüchen Betroffene. Zeus machte sich an die eingeschlossene
Danae in Gestalt eines goldenen Regens heran und zeugte Perseus.
Szene
Eine Wendung im Handlungsverlauf bringt der Auftritt
des blinden Sehers Teiresias. Er klärt Kreon darüber auf, dass sich die Götter
von Theben abgewandt haben:
(...) die Altäre und die Herde alle
Sind voll von dem, was Hund und Vogel fraß
Vom armen toten Sohn des Ödipus.
Und darum will kein Gott mehr unser Opfer
Und unsre Bitten bleiben unerhört,
Unheil verkündet jeder Vogelschrei. (V. 1016-1020)
Teiresias appelliert eindringlich an Kreon, seine
Entscheidungen rückgängig zu machen. Tote müssen begraben werden. Kreon leistet
anfangs noch Widerstand gegen Teiresias’ Appell, er unterstellt auch ihm – so
wie anfangs den Wächtern, dass er bestochen worden sei. „Die ganze Seherzunft
liebt doch das Geld.“ (V. 1055) Teiresias bleibt aber bei seiner Ansicht und
appelliert noch einmal an Kreons Einsicht. Der König hat durch das
Bestattungsverbot die göttliche Ordnung gestört. Weicht er davon nicht ab,
zieht er den Fluch der Erinnyen auf Theben. Teiresias wird noch deutlicher:
Kreon wird jemanden aus seiner Familie verlieren. Der Seher tritt ab, und der
Chor mahnt nun auch den König, Teiresias’ Auskünfte nicht länger zu ignorieren.
Schließlich gibt Kreon dem Drängen des Chors nach. Er will selbst hinauseilen,
um Antigone zu befreien.
Fünftes Stasimon
Der Chor geht davon aus, dass eine glückliche Wendung
noch möglich ist. Dionysos, der Schutzgott der Stadt Theben, wird angerufen.
Schlussszene
Die Schlussszene steht in hartem Kontrast zur
Hoffnung, die der Chor soeben noch formuliert hat. Ein Bote meldet den Tod
Haimons. Kreons Sohn hat sich selbst getötet. Eurydike, Kreons Frau, will die
Umstände erfahren, unter denen ihr Sohn gestorben ist. Der Bote berichtet, man
habe zunächst Polyneikes bestattet und sei dann zu Antigones Felsengrab
gezogen, um sie zu befreien. Aber man habe Antigone erhängt gefunden. Daraufhin
habe sich Haimon mit dem Schwert auf Kreon gestürzt, letztlich aber von ihm
abgelassen und sich selbst getötet. Daraufhin geht Eurydike wortlos ab. Kreon
kommt mit der Leiche seines Sohns zurück. Er sieht nun ein, dass er zu lange an
seinem Irrtum festgehalten hat. Da muss er auch noch erfahren, dass Eurydike
Selbstmord begangen hat und vor ihrem Tod ihm, Kreon, die Schuld an der
Katastrophe gegeben habe. Der König möchte am liebsten auch sterben, aber die
Götter haben für ihn ein anderes Schicksal vorgesehen. Das letzte Wort hat der
Chor:
Alles Segens Anfang heißt Besinnung,
Was der Götter ist, entweihe keiner!
Überhebung büßt mit großem Falle
Großes Wort, dem Alter zur Besinnung. (V. 1349-1352)
3. Aspekte der
Interpretation
3.1. Der Konflikt Antigone-Kreon
Der handlungsbestimmende Konflikt des Stücks ist der
zwischen staatlichem Gesetz, repräsentiert durch Kreon, und göttlichem Recht,
repräsentiert durch Antigone. Kreon beansprucht das Recht auf Gesetzgebung und
auf die richterliche Gewalt. In diesem Kompetenzanspruch wird er anfangs noch
vom Chor unterstützt. Kreon befindet, dass Polyneikes gegen die Interessen
Thebens verstoßen hat, indem er ein feindliches Herr gegen die Stadt geführt
hat. Polyneikes hat also Hochverrat begangen. Die für diese Schuld angemessene
Strafe ist laut Kreon die Verweigerung der Bestattung. Schon über Kreons Urteil
könnte man geteilter Meinung sein, denn immerhin war ja der Verursacher des
Kampfs nicht Polyneikes, sondern Eteokles, der die Vereinbarung über die
Machtübernahme nicht einhalten wollte.
Aber nicht das Urteil über Polyneikes‘ Verhalten,
sondern die Art der Strafe ist Kreons schwer wiegender Irrtum. Der tote Mensch
hat, auch wenn er ein Feind war, das Recht begraben zu werden. Und dieses Recht
des Toten wird naturgemäß zur Pflicht der Lebenden. Die Götter, insbesondere
die Erdgötter, fordern den Leichnam. Er soll in den Hades eingehen. Dass
Antigone für die Bestattung des Bruders sorgen will, ist nur allzu
verständlich. Sie beruft sich dabei nicht nur auf ihre schwesterliche Liebe,
sondern auf das göttliche Recht. Das göttliche Recht steht nach antiker
Vorstellung über dem staatlichen Recht. Es ist ja das ewige Recht, das die
universale Ordnung garantiert. Kreon ist zwar in Theben der König, aber er darf
kein Gesetz erlassen, das nicht im Einklang mit dem ewigen Recht der Götter
steht. Und genau das macht Antigone dem König zum Vorwurf. Das göttliche Recht
steht in dieser Gesellschaft an der Stelle, in der in säkularen Demokratien die
Verfassung steht.
Geradezu unerträglich ist Kreons Sturheit. Er hätte
genug Möglichkeiten, seinen Irrtum zu erkennen. Aber er verweigert den Dialog.
Er setzt sich inhaltlich mit Antigones Argumenten gar nicht auseinander. Gegen
jede Vernunft beharrt er einfach nur auf seinem Machtanspruch. Ähnlich verfährt
er mit seinem Sohn. Kreon prüft nicht die Meinung Haimons, sondern er
unterstellt ihm, dass er in eines „Weibes Fron“ stehe, dass er also seine
Argumente lediglich vorschiebe, um die Braut zu retten. Obwohl es mehr als
verständlich wäre, wenn Haimon alles täte, um die Frau, die er liebt, vor dem
Tod zu bewahren, trifft Kreons Vorwurf nur teilweise zu. Gewiss geht es Haimon
auch darum, Antigone zu retten, aber unabhängig davon weist er seinen Vater –
in dessen eigenem Interesse - auch auf einen eklatanten politischen Fehler hin.
Nicht nur der Verstoß gegen das göttliche Recht ist Kreons Fehler, sondern auch
sein absolutistisches Regierungsverständnis, seine Ignoranz gegenüber der
öffentlichen Meinung. Selbst Teiresias kann den König kaum von seinem Irrtum
überzeugen, der Chor muss noch zusätzliche Überzeugungsarbeit leisten. Kreons
langes Zögern bewirkt letztlich das tragische Ende mit drei Toten.
3.2. „Allein herrscht du am besten in der Wüste“
Mehrmals wird Kreon darauf hingewiesen, dass er beim
Volk keine Sympathien für das Bestattungsverbot hat. Daraus ergeben sich im
Gespräch Kreons mit Haimon, aber auch im Dialog mit dem Chor Grundsatzfragen
des Regierens. Obwohl der Chor an keiner Stelle den legitimen Anspruch Kreons
auf sein Königtum in Zweifel zieht, relativiert er doch dessen Macht. Erstens
findet diese Macht ihre Grenzen an unumstößlichen Geboten der Götter, gegen die
kein Sterblicher verstoßen darf, und zweitens – und dies ist wohl aus dem
politischen Kontext der Entstehungszeit zu verstehen – zweitens darf ein König
nicht allein seiner Sichtweise trauen, sondern er soll sich kritisch (und vor
allem selbstkritisch!) mit anderen Meinungen auseinander setzen, um eigene
Irrtümer korrigieren zu können.
Als Sophokles „Antigone“ schrieb, war Athen – nach den
siegreichen Kriegen gegen die Perser – zur Großmacht im Mittelmeer geworden.
Die außenpolitischen Erfolge verliefen parallel zur demokratiepolitischen
Entwicklung der Polis. Insbesondere zur Zeit des Perikles erreichte der Ausbau
Athens zur Demokratie seinen Höhepunkt. Maßgebliche Kompetenzen lagen beim Rat,
bei den Geschworenengerichten und bei der Volksversammlung. Ein absolut
herrschendes Königtum wäre unter diesen Bedingungen ein völliges Unding. Alfred
Polgar nannte daher „Antigone“ aus gutem Grund eine „demokratische Dichtung“.
Die Wertvorstellungen der Demokratie werden deutlich erkennbar.
3.3. Schicksal und freier Wille
Ein weiterer Aspekt der Dichtung ist das
Spannungsverhältnis zwischen unveränderlichem Schicksal und freier Willensentscheidung.
Noch ist die traditionelle griechische Vorstellungswelt eines unerbittlichen
Schicksals lebendig. Mehrmal wird darauf hingewiesen, dass die Ödipus-Tochter
Antigone aus dem Geschlecht der „Labdakiden“ in eine unheilvolle
Familiengeschichte verstrickt ist, der sie – obwohl sie persönlich schuldlos
ist – nicht entrinnen kann. Sie selbst sieht ihr Dasein in diesem Zusammenhang.
Andererseits wäre der Handlungsverlauf des Stücks nicht denkbar ohne die
Vorstellung von der Willensfreiheit der Person. Schon die erste Szene, in der
Ismene und Antigone über die Bestattung des Bruders reden, zeigt dies in aller
Deutlichkeit. Antigone entscheidet sich aus freien Stücken für den Verstoß
gegen das königliche Verbot, Ismene entscheidet sich dagegen. Antigone setzt
also aus sittlichem Pflichtgefühl eine Willenshandlung. Ähnlich frei ist auch
Kreon. Von seiner Entscheidung ist sehr viel abhängig. Und in keiner Phase
erhält man den Eindruck, Kreon wäre Gefangener eines unabwendbaren Schicksals.
Sein persönliches Versagen führt zur Katastrophe.
4. Die antike
Tragödie
Zu Ehren des Gottes Dionysos wurden im antiken Athen
zweimal im Jahr staatliche Feste veranstaltet. Zu Beginn des Kalenderjahres
fanden die Lenäen statt, und zum Frühlingsbeginn (März/April) wurden die
„Großen Dionysien“ gefeiert. Dieses Dionysos-Fest, das fünf Tage lang dauerte,
war das wichtigste öffentliche Fest im Stadtstaat Athen. Religiöse, kulturelle
und politische Funktionen wurden hier miteinander verbunden. Nicht ohne Grund
hatte der oberste Beamte des Staates, der Archon Eponymos, das Gelingen des
Festes zu verantworten. Neben einer Reihe von Staatsakten, von
Opferprozessionen bis zur Ehrung verdienter Bürger, waren auch künstlerische
Beiträge fester Bestandteil der Dionysien.
Den Höhepunkt bildeten - zumindest seit dem 6.
Jahrhundert v.Chr. - die Theateraufführungen. An drei aufeinander folgenden
Tagen wurden drei tragische Tetralogien verschiedener Dichter aufgeführt. Die
Komödien, die erst im 5.Jahrhundert in die Dionysien integriert wurden, waren
kürzer und beanspruchten vermutlich nur einen Tag. In Urkunden, die
Aufführungen dramatischer Werke dokumentieren, wird vor dem eigentlichen
Dichter meistens der Chorege genannt. Der Chorege war - um einen Ausdruck aus
dem heutigen Filmgeschäft zu gebrauchen - der „Produzent“ des
Theaterspektakels. Es handelte sich um einen besonders reichen Bürger Athens,
der die Aufführung im wesentlichen finanzierte und der nach dem Grundsatz „Wer bezahlt, schafft an“ auch in
Inszenierungsfragen maßgeblich mitzureden hatte. Erst im 4.Jahrhundert v.Chr.
übernahm ein vom Staat bestellter Mann die Organisation der
Theateraufführungen. Die finanziellen Mittel stellte die Staatskasse zur
Verfügung. Man sieht also, dass die Frage, ob Kultur besser aus öffentlichen Mitteln
oder durch private Sponsoren zu finanzieren sei, auch in der Antike schon
Gegenstand der öffentlichen Diskussion gewesen sein dürfte.
Dem großen öffentlichen Interesse an
Theateraufführungen entsprach die institutionelle Form des antiken Theaters.
Die größte Bühne war bekanntlich das Dionysostheater am Südostabhang der
Akropolis. Zu den Festspielen dürften sich etwa 15.000 Zuschauer in diesem
riesigen Freilichttheater eingefunden haben. Der Grieche empfand die Teilnahme
an den Spielen als eine religiös-sittliche Pflicht, und sie galt in der Polis
auch als staatsbürgerliches Recht. (...)
Die erste theatralische Form der Darstellung waren
ekstatische Maskentänze, die später durch chorische Teile erweitert wurden. Die
Entwicklung der eigentlich dramatischen Form fällt in die Regierungszeit des
Tyrannen Peisistratos. Er regierte zwar autoritär, war aber nicht nur ein
sozial handelnder Politiker, sondern auch ein Förderer der Kunst. Im Jahre 535
v.Chr. betraute Peisistratos den Dionysos-Priester Thespis aus Ikara bei Marathon mit der Intendanz der Dionysien, und
dieser Thespis soll den entscheidenden Schritt zur dramatischen Grundstruktur
der Aufführungen gesetzt haben, indem er den so genannten „Antwortenden“ als
eigenständige Figur einführte und dem Chor gegenüberstellte. Es gab nun einen
Schauspieler, der mit dem Chor in eine Wechselrede eintrat. Der Dialog, also der grundlegende Baustein des Dramas,
war damit geboren. Der griechische Dramatiker Aischylos stellte gut zwanzig
Jahre später noch einen zweiten Schauspieler neben dem Chor auf die Bühne, und
Sophokles einen dritten, wobei jeder Schauspieler mehrere Rollen übernahm.
Logischerweise konnten aber nie mehr als drei Bühnenfiguren gleichzeitig
agieren.
Im Jahre 510 fand die Tyrannis unter Umständen, die
hier nicht weiter ausgeführt werden sollen, ihr Ende. Die Demokratie führte die
Dionysien in ähnlicher Form weiter. Allerdings dürfte die Gestaltung der
Theateraufführungen als Dramatikerwettkampf erst jetzt üblich geworden sein. In
dieser Phase sind die großen griechischen Tragödien entstanden, in denen wir
den Beginn des europäischen Dramas sehen. Aus dem 5. Jh. sind verschiedene
Dramatikernamen und auch fragmentarische Überreste vieler Werke erhalten, aber
nur von drei Tragödiendichtern sind uns Werke in ihrer Gesamtheit überliefert,
von Aischylos, Sophokles und Euripides. (...)
Aischylos ist der große
alte Mann der griechischen Tragödie. 525 v.Chr. wurde er als Sohn eines
begüterten Adeligen geboren. Etwa 90 dramatische Werke soll er geschrieben haben,
sieben Tragödien sind vollständig erhalten, darunter die einzige erhaltene
griechische Dramentrilogie, die „Orestie“, in der Aischylos die Sagen um den
König Agamemnon, seine Frau Klytaimnestra und deren Sohn Orest auf die Bühne
bringt. (...) Die Uraufführung dürfte zu einem handfesten Theaterskandal
geworden sein. Aischylos wurde vorgeworfen, er entweihe die Eleusinischen
Feste. Der Dichter ging ins sizilianische Exil, wo er 456 starb.
Sophokles wurde 496
v.Chr. als Sohn eines wohlhabenden Gewerbetreibenden geboren. Von seinen 123
Dramen sind nur sieben erhalten. Achtzehn Mal soll er den Dramatikerwettbewerb
in Athen gewonnen haben. Als Freund des Perikles, der damals der mächtige Mann
in der athenischen Polis war, stand er auch politisch mehrmals im Rampenlicht.
Er war u.a. Bundesschatzmeister und Stratege. Sein Ruhm und sein Ansehen sollen
so groß gewesen sein, dass feindliches Militär, das zur Zeit seines Todes Athen
belagerte, die Belagerung kurzfristig aufhob, damit der soeben verstorbene
Sophokles in Ruhe beerdigt werden konnte.
Der jüngste
bekannte Tragödiendichter ist Euripides.
Auch er war aus begütertem Haus und sehr gebildet. Seine Stücke, insgesamt 88,
von denen uns 18 erhalten geblieben sind, galten als provokante, umstrittene
Werke. Das mag daran liegen, daß die Wahrheit - wie der Theatertheoretiker
Siegfried Melchinger schreibt - von keinem Tragödiendichter der Antike
schonungsloser gezeigt worden ist als von Euripides. Seine letzten beiden
Lebensjahre verbrachte der Dramatiker im mazedonischen Exil. Als er 406 v.Chr.
starb, soll der damals bereits neunzigjährige Sophokles demonstrativ in
Trauerkleidung das Theater betreten haben.
5. Spätere
dramatische Bearbeitungen des Antigone-Stoffs
Martin Opitz: Antigone (teilweise freie Übersetzung,
1636), Jean Racine: La Thébaide ou Les Frères ennemis (1664), Walter
Hasenclever: Antigone (UA 1917), Jean Anouilh: Antigone (1942), Bertolt Brecht:
Die Antigone des Sophokles (1947/48), Janusz Glowacki: Antigone in New York
(1993)
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