Vorbemerkung: Diese Darstellung von Goethes
Faust-Tragödie wendet sich in erster Linie an Neugierige, die sich für dieses
außergewöhnliche Drama interessieren, an Schülerinnen und Schüler, an
theaterinteressierte „Laien“. Eine erste Orientierung kann sie auch für
Studierende der Literaturwissenschaft bieten, eine vertiefende
wissenschaftliche Auseinandersetzung ersetzt sie keinesfalls.
1. Zur Stoffgeschichte
1.1 Mythos und Wirklichkeit - der geschichtliche Faust
Faust, die berühmteste
literarische Figur Johann Wolfgang von Goethes, ist nicht seine Erfindung.
Ausgangspunkt aller Faust-Dichtungen war ein Mann namens Georg (oder Jörg)
Faust, der wahrscheinlich um 1480 in der württembergischen Stadt Knittlingen
geboren wurde und schon zu Lebzeiten als „bunter Hund“ galt. Erzählt man von seinem Leben, hat man sich
schon in den Bereich der Fiktion begeben, denn was als Biographie ausgegeben
wird, ist größtenteils Sage. In Krakau soll Georg Faust Magie studiert
haben. Dann wanderte er durch Deutschland und machte überall, wo er auftauchte,
auf sich aufmerksam, sowohl im positiven wie auch im negativen Sinn des Wortes.
Er rühmte sich verschiedener magischer Fähigkeiten, zum Beispiel der
Handlesekunst, der Luft- und Feuerdeutung, der Astrologie und Totenbeschwörung
sowie der heilkundigen Harnbeschau, einer vorwissenschaftlichen Form der
Urologie.
Faust behauptete
angeblich, die Wunder Christi wiederholen zu können. In Erfurt hielt er
Vorlesungen, bei denen er die Helden aus Homers Epen materialisiert haben soll.
Von erfolgreichen Flugversuchen in Venedig wurde erzählt und davon, dass Faust
für den Kaiser durch Zauberei in Oberitalien militärische Siege erfochten haben
soll. Nachweisbar ist, dass er aus Ingolstadt und Nürnberg ausgewiesen wurde
und eine Anstellung als Schulmeister wegen Knabenverführung verlor. Ein
Franziskaner versuchte Faust zum Guten zu bekehren, aber Faust antwortete
angeblich, er habe einen Teufelspakt geschlossen und sei dazu entschlossen, die
Vereinbarung einzuhalten. Allerdings dürfte die Kirche die fragwürdigen Künste
des Georg Faust nicht nur negativ beurteilt haben. Fürstbischof Georg III. von
Bamberg ließ sich von Faust die Sternzeichen seiner Geburt deuten und zahlte
dafür, wie dem bischöflichen Rechnungsbuch zu entnehmen ist, immerhin zehn
Gulden. Zwischen 1536 und 1539 dürfte Georg Faust gestorben sein,
wahrscheinlich in Verelendung.
1.2 Der literarische Faust
Es ist leicht nachzuvollziehen,
dass schon zu Lebzeiten dieses merkwürdigen Menschen auf den Stadt- und
Marktplätzen, in den Dorfschenken und Braukellern Geschichten über Faust
erzählt wurden, bei denen – ähnlich wie in der heutigen Regenbogenpresse – die
Grenze zwischen Sage und Realität fließend war. Bereits in den fünfziger Jahren
des 16.Jahrhunderts wurden in Erfurter Universitätskreisen Faust-Geschichten in
deutscher und lateinischer Sprache aufgezeichnet und vor allem durch Studenten
verbreitet.
„Historia
von Doktor Johann Fausten“ – das Volksbuch
1587 erschien ein Volksbuch über
Faust, die erste große Sammlung von Faust-Geschichten. Wer sie gesammelt und
niedergeschrieben hat, wissen wir nicht. Gedruckt wurde diese HISTORIA VON DOKTOR JOHANN FAUSTEN von
Johann Spieß in Frankfurt. Das umfangreiche Buch umfasst 69 Kapitel und enthält
neben den epischen Teilen auch halbwissenschaftliche Betrachtungen und
theologische Belehrungen, deren weltanschaulicher Tendenz wir entnehmen können,
dass der Verfasser Protestant war. Eine Kernstelle des Buches ist der
Teufelspakt. Faust verpflichtet sich gegenüber dem Teufel für das Jenseits;
dafür dient ihm dieser im irdischen Leben 24 Jahre lang. Er erfüllt ihm alle
Wünsche außer dem nach der Ehe, führt ihn hinauf in den Sternenhimmel, fährt
mit ihm durch Europa, Asien und Afrika und verhilft ihm zur Beschwörung der
schönen Helena aus der antiken Sagenwelt des Trojanischen Krieges. Mit Helena hat Faust sogar einen Sohn. Nach
24 Jahren wird Faust vereinbarungsgemäß vom Teufel geholt. Seine Studenten
hören in der Nacht ein entsetzliches Klagen und finden in Fausts Zimmer nur
mehr einige Zähne und die Augen des Magiers. Sein Leichnam liegt entstellt auf
dem Mist.
Faust – ein
Bestseller
Das Volksbuch vom Doktor Faust
dürfte eine Art Bestseller gewesen sein. Schon zu Beginn des 17.Jahrhunderts
erschien ein weiteres Faust-Buch von einem gewissen Georg Widmann. Er erweiterte die ersten Faust-Geschichten und kam
dadurch auf stolze 671 Seiten. Faust wurde also wegen des großen
Publikumserfolgs weitererzählt, so wie heute erfolgreiche Fernsehserien
weitergeschrieben und weitergedreht werden. 1674 übergab Nikolaus Pfitzer eine weitere Faust-Version der Öffentlichkeit, die
bis ins 18.Jahrhundert ihre Abnehmer fand.
Noch im
späten 16.Jahrhundert bearbeitete der englische Dramatiker Christopher Marlowe den Faust-Stoff für die Bühne. Durch die
englischen Komödianten, die im 17.Jahrhundert auch auf dem Kontinent
erfolgreich waren, wurde der dramatisierte Faust-Stoff zurück nach Deutschland
gebracht. Verschiedene Fassungen für die Puppenbühne waren im 18.Jh.
verbreitet. Man kann also getrost sagen, dass Faust zu dieser Zeit vor allem
ein Stoff der Unterhaltungskultur war, und es verwundert nicht, dass ernsthafte
Autoren davor gewarnt wurden, sich an eine Bearbeitung des Faust-Stoffes zu
machen, weil ein kritisches Publikum nur mehr in Hohn und Spott ausbreche, wenn
von der Bühne herunter der pathetische Warnruf „O Fauste!“ erschalle.
Dennoch
interessierten sich im 18.Jh. deutsche Schriftsteller wieder für den Fauststoff
– und zwar nicht die schlechtesten. Der erste war Gotthold Ephraim Lessing, der eine Dramatisierung des alten Stoffs
versuchte. Lessings Faust-Drama blieb allerdings ein schmales Fragment.
Friedrich Maximilian Klinger, der Stürmer und Dränger, schrieb den Roman FAUSTS
LEBEN, TATEN UND HÖLLENFAHRT (1791), und in den frühen siebziger Jahren des
18.Jhs. machte sich jener Autor an den Faust-Stoff, der soeben erst mit seinem Briefroman
„Die Leiden des jungen Werthers“ innerhalb weniger Wochen zum neuen Star der
europäischen Literaturszene geworden war: Johann Wolfgang von Goethe.
2. Zur Entstehungsgeschichte von Goethes Faust-Dichtung
In der ersten Hälfte der siebziger
Jahre schrieb Goethe sein erstes Faust-Drama. Es wurde nicht veröffentlicht und
erst 1887 in der Abschrift eines Weimarer Hoffräuleins wiederentdeckt. Dieses
frühe Faust-Drama Goethes wird URFAUST genannt. Goethe verlor in den nächsten
Jahren das Interesse an diesem Stoff, veröffentlichte allerdings 1790 erstmals
in einer mehrbändigen Werkausgabe „Faust. Ein Fragment“. Nicht zuletzt auf
Anregung des Freundes Friedrich Schiller nahm Goethe in den neunziger Jahren
die Arbeit am Faust wieder auf und beendete den ersten Teil der Tragödie 1806.
Aber bereits vor der Fertigstellung des ersten Teils hatte Goethe Notizen zu
weiteren Szenen angelegt. Faust sollte ihn sein ganzes Leben lang begleiten.
Seit 1816 arbeitete er, abgesehen von wenigen Unterbrechungen, wieder
regelmäßig an der Fortsetzung der Tragödie. Zu Beginn des Jahres 1832 hielt er
die Arbeit im Wesentlichen für beendet. Wenige Wochen nachher starb der
Zweiundachtzigjährige.
3. „Faust. Der Tragödie erster Teil“. Hinweise zum Textverständnis
Seinen 1806 erschienenen „Faust“
leitet Goethe mit einem Gedicht ein, der „Zueignung“:
Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten!
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch’ ich wohl euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
(Vers 1-4)
Diese und die folgenden Zeilen
sind nur zu verstehen, wenn man die Entstehungsgeschichte kennt. Die
schwankenden Gestalten der Faust-Tragödie, die Goethe als junger Schriftsteller
mit noch „trübem Blick“ gestaltet hat, nahen sich wieder. Goethe ist sich aber
nicht sicher, ob er sich noch einmal an die schwere Aufgabe aufbürden soll.
Auch die Freunde und Weggefährten der Sturm-und-Drang-Zeit, denen er damals
diese „Gesänge“ vortrug, sind nicht mehr da. Heute sieht er sich mit einem
unbekannten Publikum konfrontiert. Wird man ihn überhaupt noch verstehen? Aber
die Gestalten drängen sich dem Dichter auf, und er gibt ihrem Drängen nach.
Eine neue Faust-Tragödie wird entstehen.
Vor dem
Beginn der eigentlichen Faust-Handlung erleben die Zuschauer ein „Vorspiel auf dem Theater“. Goethe lässt
darin den Theaterdirektordirektor, den Theaterdichter und einen Komödianten
auftreten. Ihrem Gespräch ist zu entnehmen, dass sie mit unterschiedlichen
Einstellungen an ihre gemeinsame Arbeit herangehen. Der Theaterdirektor ist vor
allem daran interessiert, dass die Kasse stimmt. Er erwartet sich vom
Theaterdichter handlungsstarke Stücke, die den Massengeschmack treffen. Der
Theaterdichter will von der Masse nichts wissen, denn allzu oft gerät deren
Geschmack mit seinen künstlerischen Anliegen in Konflikt. Der schnelle Erfolg
sagt über die Qualität einer Dichtung manchmal nicht sehr viel aus. Was der
Mitwelt unverständlich bleibt, wird manchmal von der Nachwelt doppelt hoch
geschätzt. Von der Nachwelt will aber der Schauspieler nichts hören. Er ist auf
die Mitwelt und ihren Beifall, angewiesen. Möglich, dass Dichter erst nach
ihrem Tod zu großem Ruhm gelangen, der Schauspieler kann drauf nicht warten.
Erst der „Prolog im Himmel“ bringt die
eigentliche Faust-Handlung in Gang. Die Erzengel singen das Lob der Schöpfung,
der „Herr“ regiert inmitten seiner Heerscharen die Welt wie ein
absolutistischer Fürst der Barockzeit, und er empfängt Mephistopheles, den
Teufel, den Geist, der stets verneint. Er stellt dem Lob der Schöpfung durch
die Erzengel sogleich seine prinzipielle Kritik gegenüber. „Herzlich schlecht“
findet er alles auf der Erde, und er sieht nur, „wie sich die Menschen plagen“.
Die Rede kommt auf Doktor Faust. Mephisto wettet mit dem Herrn, dass er diesen
außergewöhnlichen, aber unzufriedenen Mann auf seine Straße führen kann. Der
Herr lässt Mephisto freie Hand, Fausts Seele zu gewinnen, denn er weiß, dass
Mephisto sein Ziel nicht erreichen wird:
Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab,
Und führ ihn, kannst du ihn erfassen,
Auf deinem Wege mit herab,
Und steh beschämt, wenn du bekennen mußt:
Ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange,
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt. (Vers
323-329)
Szene: Nacht
Seinen unzufriedenen Helden zeigt
uns Goethe zum ersten Mal im nächtlichen Studierzimmer. Im berühmten
Einleitungsmonolog beklagt Faust sein unerfülltes Leben. Er hat sich alles
verfügbare Wissen seiner Zeit angeeignet, hat Philosophie, Juristerei, Medizin
und („leider“) auch Theologie studiert und muss am Ende seiner Studien sehen,
dass „wir nichts wissen können“. Der wissenschaftlich-rationale Zugang zur
Welt, dem sich Faust so lange gewidmet hat, ist allzu begrenzt. Er spürt, dass
hinter der Wirklichkeit, die ihm die Wissenschaften aufschließen, eine andere
liegen muss. Darum hat er sich nun „der Magie ergeben“ (Vers 377). Er holt das
Buch des Nostradamus hervor, erblickt das magische Symbol des Erdgeistes, und
tatsächlich gelingt ihm dessen Beschwörung. Aber die Erscheinung überfordert
seine Kraft. „...wie nah fühl ich mich dir“ sagt er zum Erdgeist. Der weist ihn
aber höhnisch zurück: “Du gleichst dem
Geist, den du begreifst / Nicht mir!“ (Vers 512-513). Der Erdgeist
verschwindet, Faust bleibt desillusioniert in der Studierstube zurück. Da
klopft es. Wagner, Fausts „Famulus“ (=Assistent), besucht den Meister noch zu
später Stunde, um von ihm in der Rhetorik unterrichtet zu werden. Für Faust ist
Rhetorik ein äußerliches, eitles Unterfangen, dem seine ganze Abneigung gilt:
„Ja, eure Reden, die so blinkend sind,
In denen ihr der Menschheit Schnitzel
kräuselt,
Sind unerquicklich wie der Nebelwind,
Der herbstlich durch die dürren Blätter
säuselt!“ (Vers 554-557)
Nicht nur über Sinn oder Unsinn
der Redekunst, auch über das menschliche Wissen sind Faust und sein Assistent
unterschiedlicher Meinung. Wagner ist mit dem Wissen, das er in Büchern findet,
durchaus zufrieden. Von den Problemen mit den grundlegenden Grenzen
menschlicher Erkenntnis, die Faust quälen, weiß Wagner nichts.
Als Faust
wieder allein ist, verdüstert sich sein Gemütszustand so sehr, dass er knapp
vor dem Selbstmord steht. Der Tod erscheint ihm als Erlösung aus irdischer
Begrenztheit. Entfesselt von materieller Bindung könnte doch sein Geist „Auf neuer Bahn den Äther(...) durchdringen,
/ Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit.“ (Vers 704-705)
Und selbst wenn das Nichts droht,
Faust ist entschlossen zu diesem größten Wagnis. Doch da hört er die religiösen
Gesänge der Osternacht. Die Auferstehungshoffnung in den frommen Liedern
erinnert ihn an den Glauben seiner Kindheit, den er mittlerweile verloren hat.
Zutiefst berührt von der Erinnerung macht er seinen Entschluss zum Selbstmord
rückgängig.
Szenen: Vor dem Tor /
Studierzimmer I und II
Ein schöner,
warmer Ostertag lockt Faust und seinen Famulus in die Natur, wo sich das Volk
über den Frühlingsbeginn freut. Auch in dieser Szene zeigt Goethe die
Unterschiede zwischen den beiden Männern. Wagner begleitet Faust nur, weil ihm
der Spaziergang die Möglichkeit zu interessanten Gesprächen eröffnet. Faust
hingegen ist zum echten Naturgefühl fähig. Angesichts der untergehenden Sonne
äußert er seine Sehnsucht, sich in die Luft zu erheben und einem ewigen
Sonnenuntergang nachzufliegen. Wagner, der Rationalist, reagiert auf dieses für
ihn unverständliche romantische Gefühl mit dem Satz : „Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden / Doch solchen Trieb hab ich
noch nie empfunden.“ (Vers 1100-1101) Wagners befremdeter Reaktion begegnet
Faust mit einem berühmten Einwand:
Du bist dir nur des einen Triebs bewußt:
O lerne nie den andern kennen!
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält in derber Liebeslust
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
zu den Gefilden hoher Ahnen. (Vers
1110-1117)
Die berühmten zwei Seelen, von
denen Faust spricht, sind Wagner wohl beide fremd. Der „derbe“, sinnliche
Genuss der materiellen Welt, das Vergnügen am Natürlichen und Lebendigen, ist
Wagner ohnehin unverständlich, aber auch die Sehnsucht nach dem Geistigen, das
Faust mit dem Bild „Gefilde hoher Ahnen“ andeutet, verweist wohl auf eine
andere Art „Geistigkeit“ als sie Wagner liebt. Wagners Geist ist Ratio,
Wissenschaftlichkeit und Gelehrsamkeit; Fausts Geist überschreitet diese Grenze
hin zu einer transrationalen Spiritualität.
Es wird
Abend. Auf ihrem Heimweg werden Faust und Wagner von einem schwarzen Pudel
begleitet, der sich merkwürdig gebärdet. Faust nimmt das Tier mit in sein
Studierzimmer. Der unglückliche Gelehrte scheint nun doch zur Ruhe zu kommen.
In der Abendstimmung schlägt er die Bibel auf und bekommt Lust, das Evangelium
des Johannes aus dem griechischen Original ins Deutsche zu übersetzen: Im Anfang war das Wort... Schon die
Übersetzung der ersten Zeile bereitet Faust Probleme. Das altgriechische
„logos“ will er nicht - wie üblich - mit „Wort“ übersetzen, denn das Wort schätzt
Faust nicht so hoch ein, dass er es an den Anfang alles Seins stellen möchte.
Er erprobt noch die Übersetzungsvarianten „Sinn“ und „Kraft“, entscheidet sich
aber letztlich für „Tat“. Dass Faust die Tat als Ursprung sieht, hat wohl auch
für den Ausgang des Stücks einige Bedeutung und wird in diesem Zusammenhang
noch einmal angesprochen werden.
Während
Faust das Evangelium übersetzt, knurrt der schwarze Pudel unwillig.
Zurechtweisungen nützen nichts, und Fausts Verdacht, dass dieser Pudel von
besonderer Art sei, erhärtet sich. Durch einen magischen Akt zwingt Faust den
Pudel dazu, seinen wahren Kern zu zeigen. Aus dem Hund wird ein Teufel.
Mephistopheles erscheint und bietet – nach kurzem Verschwinden – in der Szene Studierzimmer II Faust ein „Geschäft“
an, den Teufelspakt. Faust willigt ein, obwohl er davon überzeugt ist, dass der
Teufel nicht imstande ist, das „hohe Streben“ eines Menschen überhaupt zu
begreifen, geschweige denn zu befriedigen. Den Inhalt des Pakts, der mit Blut
besiegelt wird, fasst Faust folgendermaßen zusammen:
Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett
legen;
So sei es gleich um mich getan!
Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
Daß ich mir selbst gefallen mag,
Kannst du mich mit Genuß betrügen;
Das sei für mich der letzte Tag!
(...)
Werd’ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zu Grunde gehn! (Vers
1692-1702)
Gelingt es Mephisto, Faust ein
Erlebnis zu verschaffen, das diesen so sehr befriedigt, dass er sich dessen
ewige Dauer wünscht, dann hat er den Pakt erfüllt und bekommt Fausts Seele.
Szenen: Auerbachs Keller in
Leipzig / Hexenküche
Vor allem muss Mephisto seinen
„Geschäftspartner“ zuerst einmal aus seiner engen Studierstube herausholen und „in
lustige Gesellschaft bringen“. Auerbachs
Keller scheint ihm dafür geeignet zu sein, aber Faust findet am Zechen und
Zotenreißen, an makabren Scherzen und Saufliedern wenig Gefallen. Mephisto
ahnt, dass er Faust verjüngen muss, wenn er ihm den schönsten Augenblick durch
sinnlichen Genuss verschaffen will. In der Hexenküche leistet eine
professionelle Hexe mit einem Zaubertrank ganze Arbeit. Und nun, in deutlich
verjüngtem Zustand, verändert sich Fausts Erlebnisfähigkeit ganz entscheidend.
In einem Spiegel sieht er eine Frau, die er für wunderschön hält und die er
augenblicklich begehrt. „Du siehst mit
diesem Trank im Leibe / Bald Helenen in jedem Weibe“ (Vers 2603-2604), spottet Mephisto, hofft aber
gleichzeitig, seinem Ziel etwas näher gekommen zu sein.
Szenen: Straße / Abend /
Spaziergang / Der Nachbarin Haus / Straße / Garten / Ein Gartenhäuschen / Wald
und Höhle / Gretchens Stube / Marthens Garten
Im soeben angedeuteten erotisch
aufgeladenen Zustand begegnet Faust erstmals Margarete, einem naiven Mädchen
aus einfachen Verhältnissen. „Mein
schönes Fräulein, darf ich wagen, / Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“
fragt Faust die Vorübergehende, und sie antwortet: „Bin weder Fräulein, weder schön, / Kann ungeleitet nach Hause gehn.“ (Vers
2605-2608) Dass sie behauptet, nicht schön zu sein, mag bloße Koketterie
sein, ein Fräulein ist Margarete tatsächlich nicht, denn der Begriff Fräulein
bezeichnete auch noch um 1800 junge Damen aus der Aristokratie. Wie auch immer,
Faust verlangt von Mephisto, er müsse ihm die „Dirne schaffen“, so schnell wie möglich. Tatsächlich gelingt es Mephisto die Verbindung zwischen Faust und
Margarete herzustellen. Er bedient sich zu diesem Zweck vor allem eines
Schmuckkästchens, das Margarete gefügig machen soll, und er findet Zugang zu
Frau Marthe, Margaretes Nachbarin. Der Garten der Frau Marthe wird zum
heimlichen Treffpunkt des Paares.
Frau Marthe
ist ein Typus, der an unterhaltsame Schwankdichtung erinnert. Sie ist die
unbefriedigte Witwe, die sich wieder einen Mann angeln möchte, die geschwätzige
Kupplerin mit der bösen Zunge. Ihre Dialoge mit Mephisto sind durchaus komisch
und gipfeln in ihrer Werbung um den scheinbar edlen Fremdling, in dem sie
natürlich nicht den Herrn der Hölle erkennt. Mephisto spielt mit ihr eine Weile
das Spiel der Geschlechter, muss sich aber letztlich mit Umsicht ihrer
eindeutigen Werbung entziehen. Er sagt:
„Nun mach ich mich beizeiten fort / Die hielte wohl den Teufel selbst beim
Wort.“ (Vers 3004-3005)
Faust und
Margarete sind ein recht ungleiches Paar. Hier der Intellektuelle, dort das
naive, kleinbürgerliche Mädchen. Die Distanz wird im berühmten
Religionsgespräch recht deutlich (Szene „Marthens Garten“). Margarete, die
streng nach den Regeln der Kirche erzogen worden ist, fragt Faust, wie er es
denn mit der Religion halte. Völlig zu Recht vermutet sie, dass ihr Geliebter „kein
Christentum“ habe. Faust versucht Margarete seine „Religion“ zu erklären: Wer
kann schon etwas Gültiges über Gott aussagen! Wir sind doch alle, egal ob
Priester oder Weise, auf unser Gefühl angewiesen. Dieses mehr oder weniger
religiöse Gefühl sei „alles“, der Name, dem wir dem Gefühl geben, sei
nebensächlich, sei „Schall und Rauch“:
„Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich hab keinen Namen / Dafür!“
Margarete ist durch diese Erklärung, die sie wohl auch nicht zur Gänze
versteht, nicht wirklich beruhigt, denn sie ahnt ganz richtig, dass Fausts
Religionsauffassung nicht christlich im Sinne der Kirche ist. Warum nicht? Faust
hat ja kein personales Gottesbild und kümmert sich nicht um kirchliche
Interpretationen und Regeln. Seine Religiosität bleibt – kirchlich betrachtet –
im Unverbindlichen. Am ehesten passt dafür der Begriff „Pantheismus“.
Szenen: Marthens Garten / Am
Brunnen / Zwinger / Nacht. Straße vor Gretchens Türe / Dom
Im Anschluss an das
Religionsgespräch – noch in der Szene „Mathens Garten“ – kommt es zwischen
Faust und Margarete zu einer folgenschweren Abmachung. Um endlich eine
ungestörte Liebesnacht miteinander verbringen zu können, soll Margaretes Mutter
mit einem Schlafmittel vorübergehend aus dem Verkehr gezogen werden.
Das Schlafmittel ist wirksamer
als erwartet. Die Mutter erwacht nie mehr. Eine weitere Folge dieser
Liebesnacht ist, dass Margarete schwanger wird. In der Szene „Am Brunnen“ wird
die bedrückende Lage, in die sie geraten ist, bereits angedeutet.
Offensichtlich wird sie in den Szenen „Zwinger“ und „Dom“. Für eine ledige
junge Frau ist in dieser Zeit eine Schwangerschaft eine schwere „Schande“,
dringend würde Margarete jetzt die Unterstützung und Liebe von Faust brauchen,
aber dieser steht nicht zu seinem Kind und dessen Mutter.
Margaretes Bruder Valentin, ein
hanebüchener Soldat, dem seine gekränkte Ehre viel wichtiger ist als die
Notlage seiner Schwester, kommt nach Hause – aber nicht um seiner Schwester zu
helfen, die er als „Hure“ beschimpft, sondern um Rache zu nehmen an Faust. Er fordert
ihn zum Duell, aber dem von Mephisto geführten Degen ist Valentin nicht
gewachsen. Er wird getötet.
Szene: Walpurgisnacht
/Walpurgisnachtstraum / Trüber Tag. Feld / Nacht, offen Feld
Um Faust aus der in mehrfacher
Hinsicht unerträglich gewordenen Situation herauszuziehen, nimmt ihn Mephisto
mit zur Walpurgisnacht. Die Walpurgisnacht ist der Sage nach die Nacht vom
30.April auf den 1.Mai, in der sich die Hexen und Hexenmeister mit dem Teufel
treffen, um eine wüste Orgie zu feiern. Goethe scheute sich nicht, diesen
Vorgang zur Bühnenszene zu machen, und er sparte in der Handschrift durchaus
nicht mit deftigem Vokabular und obszöner Metaphorik, die allerdings in den
„gereinigten“ Faust-Ausgaben keuscher Klassizität meistens gestrichen wurden.
Mephistos Hoffnung, er könne Faust im orgiastischen Treiben der Walpurgisnacht
seinen schönsten Augenblick ermöglichen, erfüllt sich freilich nicht. Faust
wird plötzlich von einer Vision bedrängt, die nicht so recht ins ekstatische
Treiben passen will. Er sieht das Bild eines Mädchens, dem der Kopf vom Körper
getrennt wird, und erkennt in dieser Erscheinung Margarete. Dem sinnlichen
Rausch der Walpurgisnacht folgt die totale Ernüchterung. „Trüber Tag. Feld“ -
so überschreibt Goethe die nächste Szene, bezeichnenderweise die einzige
Prosaszene des Versdramas. Fausts Gewissen regt sich. Er verlangt von Mephisto,
mit ihm gemeinsam Margarete zu retten.
Schlussszene: Kerker
Margarete hat mittlerweile ihr
Kind getötet, ist halb wahnsinnig geworden und wartet im Kerker auf ihr
weiteres Schicksal. Faust gelingt es zwar mit Mephistos Hilfe zu Margarete
vorzudringen, aber sein Rettungsversuch kommt zu spät. Margarete will den
Kerker nicht mehr verlassen, insbesondere nicht, als sie Mephisto erblickt. Sie
ist bereit, das Urteil, das sie erwartet anzunehmen. Der Morgen dämmert. Mephisto
drängt zum Aufbruch. Faust ist verzweifelt, muss aber Margarete zurücklassen. „Sie ist gerichtet“, sagt Mephisto.
Eine Stimme von oben korrigiert ihn: „Ist
gerettet“. „Her zu mir! schreit Mephisto und zieht Faust mit sich fort. Die
Tragödie endet also mit einem offenen Schluss, denn der Ausgang des Paktes
zwischen Mephisto und Faust ist nach wie vor ungeklärt. Der schönste Augenblick
hat noch nicht stattgefunden, und Goethe setzte seine Bühnengeschichte daher
aus gutem Grunde fort.
4. Sprache und dramatische Form
Allein die fast 60-jährige
Entstehungsgeschichte von Goethes Faust-Dichtung ist ein Grund dafür, dass wir
es nicht mit einem formal und stilistisch homogenen Werk zu tun haben. „Faust.
Der Tragödie erster Teil“ entspricht jener offenen
dramatischen Bauform, die in der Dramatik des Sturm und Drang üblich war.
Es gibt keine Akt-Gliederung, die Einzelszenen werden lose aneinandergereiht,
Szenenwechsel und Zeitsprünge sind selbstverständlich, denn die klassische
Forderung nach „Einheit von Ort und Zeit und Handlung“ wird bewusst ignoriert,
übrigens ganz ähnlich wie in Goethes Jugenddrama „Götz von Berlichingen“.
Goethe nennt sein Werk eine
„Tragödie“, und der Grundton des Werks ist tragisch. Aber immer wieder
unterläuft ihn Goethe durch komische Akzente, für die vor allem Mephisto sorgt.
Faust I ist nicht ausschließlich, aber zum überwiegenden Teil in der
Bühnensprache der Sturm und Drang-Dramatik geschrieben: bilderreich und nahe an
der Volkssprache. Der Bilderreichtum dient vor allem dem subjektiven
Gefühlsausdruck, zum Beispiel in Fausts Monologen.
„Was fasst
mich für ein Wonnegraus!
Hier möchte
ich volle Stunden säumen.
Natur! Hier
bildetest in leichten Träumen
Den
eingebornen Engel aus; […]“ (V 2709-2712)
Volkssprache kann man
insbesondere in den Szenen erkennen, die im Volk spielen, in der Szene „Vor dem
Tor“, in „Auerbachs Keller“, im Umfeld von Frau Marthe und Margarete. Aber auch
Mephisto, dem Pathos und hoher Stil zuwider sind, greift gern zum volkstümlichen
Sprachgebrauch. Schon seinen Besuch beim Herrn kommentiert er mit dem Satz „Von
Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern“. Und wenn es um Sexualität und Erotik
geht, bedient er sich gern einer deftigen Sprache.
Der Nähe zur Volkssprache
entspricht auch die häufige Verwendung des Knittelverses, der aus der
Volksdichtung kommt. Der Knittelvers (4 Hebungen, freie Zahl der Senkungen,
paarweise gereimt) ist aber nicht das einzige Versmaß, das Goethe im Faust
verwendet. Mehrmals geht der Knittelvers in den Madrigalvers über. Das ist zwar
auch eine relativ freie Versform, aber die Regelmäßigkeit von Senkung und
Hebung ergibt doch eine harmonischere Klangwirkung, als sie der Knittelvers
erzeugt. Zum Vergleich zwei Textstellen:
„Heiße
Magister, heiße Doktor gar,
Und ziehe
schon an die zehen Jahr,
Herauf,
herab und quer und krumm,
Meine
Schüler an der Nase herum.“ (V. 360-363, Knittelvers)
„O sähst du,
voller Mondenschein,
Zum letzten
Mal auf meine Pein,
Den ich so
manche Mitternacht
An diesem
Pult herangewacht.“ (V. 386-389, Madrigalvers)
Wenn Faust Margarete sein
Religionsverständnis erklärt (Szene „Garten“), spricht er im freien Rhythmus
hymnischer Dichtung. Margaretes Monolog am Spinnrad hat volksliedähnlichen
Charakter. Eine Szene „Trüber Tag. Feld“ ist in Prosa geschrieben.
In „Faust. Der Tragödie zweiter
Teil“ sind Form und Sprache noch vielfältiger und komplexer. Auf eine Analyse
verzichte ich hier. Ich begnüge mich damit, die grobe Handlungsstruktur und
einige Schlüsselszenen des zweiten Teils zu erklären.
5. „Faust. Der Tragödie zweiter Teil“. Verständnishinweise zur
Handlungsstruktur und zu einigen Schlüsselszenen
Diese
Darstellung ist in den meisten Abschnitten übernommen aus Christian
Schacherreiter/Ulrike Schacherreiter: Das neue Literaturbuch. 65 Fenster zur
Literatur. 1. Auflage, Linz: Veritas 2011
1. Akt
Nach dem schrecklichen Ende des
ersten Teils gönnt Goethe seinem Bühnenhelden erst einmal eine kleine
Ruhepause. Er legt ihn auf den grünen Rasen einer idyllischen Landschaft. Der
Schlafende vergisst, wird geheilt und damit reif zu neuen Taten. Im ersten Teil
der Tragödie versuchte Mephisto Faust vor allem durch sinnliche Genüsse das
Erlebnis des schönsten Augenblicks zu ermöglichen. Das Ergebnis war dürftig.
Mephisto greift zu anderen Mitteln. Er führt Faust im ersten Akt des zweiten Teils
zunächst einmal an den kaiserlichen Hof, wo Ratlosigkeit und Verdrossenheit
herrscht, denn die Staatskasse ist leer. Der junge Kaiser, für seine schwere,
verantwortungsvolle Aufgabe noch zu unreif, ärgert sich vor allem darüber, dass
er den Karneval nicht ungestört feiern kann. In dieser Notlage erweist sich
Mephisto als fragwürdiger Helfer. Er beseitigt den Hofnarren, tritt selbst in
dieser Rolle auf und erfindet für den jungen Kaiser das Papiergeld. So geht
eine finanzielle Scheinblüte auf, die später noch fatale Folgen haben wird,
denn die Papierscheine sind nicht wertgedeckt. Und jeder einigermaßen finanzpolitisch
Gebildete weiß, dass der Druck von nicht wertgedecktem Papiergeld eher früher
als später eine Inflation auslösen muss. Vorübergehend ist allerdings alles
eitel Wonne, und der „Mummenschanz“ (Karnevalsumzug) kann endlich inszeniert
werden.
Während des
Festumzugs gerät der Bart des Kaisers in Flammen, Mephisto löscht ihn bravourös
mit einem Zauberregen, und als der Kaiser den ersten Schock überwunden hat,
möchte er noch mehr magische Kunststücke sehen. Er wünscht sich die
Materialisierung des Paris und der Helena. Sie sind Gestalten aus der
altgriechischen Sage. Paris soll Helena wegen ihrer Schönheit geraubt und
dadurch den Trojanischen Krieg ausgelöst haben. Im Zusammenhang, in den Goethe
die beiden Gestalten stellt, sind sie die Urbilder des Schönen. Mephisto weiß
um die Schwierigkeiten, die diese Aufgabe mit sich bringt. Die Urbilder des
Schönen müssen aus dem sogenannten „Reich der Mütter“ geholt werden. Dieses
Reich ist ein rein ideeller Bezirk, in dem es keine Materie, also auch nicht
Raum und Zeit gibt. Es handelt sich um
eine im Grunde nicht vorstellbare Welt oder besser gesagt „Nicht-Welt“.
Mephisto kann nicht dorthin gelangen, denn er als Teufel ist an die Materie
gebunden. Faust muss die magische Unternehmung wagen. Tatsächlich gelingt sie
ihm. Paris und Helena erscheinen vor der höfischen Gesellschaft, die allerdings
zu oberflächlich ist, um die ganze Größe der Erscheinung zu würdigen. Faust ist
von Helena geradezu verzaubert:
„Du bist’s, der ich die Regung aller Kraft,
Den Inbegriff der Leidenschaft,
Dir Neigung, Lieb, Anbetung, Wahnsinn zolle!“
In seiner Hingabe an die
Schönheit berührt er Helena. Er löst damit eine Explosion aus, und die
Erscheinung ist verschwindet. Für Faust ist aber das Ziel klar. Er muss Helena
wiedersehen.
2. Akt
Für Mephisto eröffnen sich
dadurch neue Möglichkeiten. Es ist ihm zwar nicht gelungen, Faust in der großen
Welt des kaiserlichen Hofes den schönsten Augenblick zu vermitteln, aber
vielleicht ist die neuerliche Begegnung Fausts mit Helena der entscheidende
Schritt zur Erfüllung der Paktbedingungen.
Bevor die
Zeitreise zurück ins alte Griechenland angetreten wird, bringt Mephisto seinen
Schützling noch einmal zurück in sein altes Studierzimmer, wo mittlerweile
Wagner, der ehemalige Famulus, Fausts
Stelle eingenommen hat. Wagner, der ja immer schon den natürlichen Phänomenen
eher mit Abneigung gegenübergestanden ist, ist gerade dabei, einen Traum der
Alchemisten wahr zu machen: die künstliche Erzeugung von Leben. Das Produkt aus
Wagners aufwendigem Experiment heißt Homunkulus. Es handelt sich also um ein
„Menschlein“, das aufgrund seiner Unnatur nur in einem abgeschlossenen Behälter
lebensfähig ist, das aber über hohe geistige Fähigkeiten verfügt, Zugang zur
antiken Welt hat und Faust und Mephisto mitnimmt auf seine Zeitreise ins
griechische Altertum.
Altgriechischen
Boden betreten Faust, Mephisto und Homunkulus gerade zur Zeit der „Klassischen
Walpurgisnacht“, die mit der Walpurgisnacht des ersten Teils nichts zu tun hat.
Die klassische Walpurgisnacht ist der Tummelplatz der antiken Mythologie. Es
würde den Rahmen dieser Darstellung weit überschreiten, wollte man das komplexe
Geschehen und das umfangreiche Figurenarsenal, das Goethe, ein hervorragender
Kenner antiker Mythologie, in der klassischen Walpurgisnacht verwendet und
gestaltet hat, auch nur einigermaßen sinnvoll erklären. Aus den Geschehnissen
der klassischen Walpurgisnacht sei nur eines herausgegriffen. Homunkulus, dem die
Unnatur seines Daseins bewusst ist und der sich nach natürlicher Entstehung
sehnt, kommt zum großen Meeresfest, das Nereus für seine Tochter, die schöne
Wassernymphe Galatee, veranstaltet hat. Homunkulus sieht Galatee auf ihrem
Muschelwagen, wird offensichtlich von großer Sehnsucht erfasst und bewegt sich
auf die Schöne unter heftigem Dröhnen und Leuchten zu. Die Anstrengung
überfordert ihn. Er explodiert, aber sein Ende wird als eigentlicher Anfang
gedeutet. Aus dem Wasser, dem Urstoff des Lebens wird der zerstörte Homunkulus
in neuer, natürlicher Gestalt wieder geboren werden. Dieser Vorgang könnte auch
ein Streitgespräch klären, das Goethe die Philosophen Thales und Anaxagoras in
der klassischen Walpurgisnacht führen lässt. Thales hält das Wasser für den
Urstoff allen Daseins, Anaxagoras das Feuer. Homunkulus’ Schicksal scheint
beiden Recht zu geben, denn das künstliche Menschlein ist zunächst mit der
Kraft des Feuers explodiert, um dann aus dem Wasser in neuer Gestalt
hervorzugehen. Die Natur schafft nicht nur mit einer Kraft ihre Gestalten, sondern mit beiden, mit Feuer und
Wasser, mit Revolution und Evolution, mit destruktiver Sprunghaftigkeit und
organischem Wachstum. Homunkulus hat also seine Erfüllung gefunden, Faust hat
allerdings sein Ziel nicht erreicht. Er ist der schönen Helena trotz intensiver
Suche im zweiten Akt nicht begegnet, es bedarf also eines dritten.
3. Akt
Goethe führt uns nun zum
königlichen Palast in Sparta. Der Trojanische Krieg ist beendet worden, König
Menelaos hat seine von Paris geraubte Gattin Helena wieder heimgeholt. Ein
Dankopfer soll vorbereitet werden, um die Götter günstig zu stimmen, aber kein
Opfertier ist zu sehen. Die alte, hässliche Verwalterin bestärkt Helena und
ihre Begleiterinnen in der Befürchtung, sie selbst seien als Schlachtopfer
vorgesehen. Hinter der Gestalt der Verwalterin verbirgt sich Mephisto. Er
schlägt Helena vor, sie vom spartanischen Königspalast wegzubringen. In der
Nähe hätten zugewanderte Germanen eine feste Burg errichtet, und der Burgherr
werde ihnen Schutz gewähren. Helena nimmt das Angebot an, und so kommt sie, die
Frau aus dem Altertum, nun zu einer gotischen, christlich-abendländischen Burg.
Der germanische Heerführer aus dem Norden, von dem der verkleidete Mephisto
gesprochen hat, ist kein anderer als Faust. In der Begegnungsszene Faust-Helena
deutet Goethe die Vereinigung nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch
an. Helena bewundert den ihr unbekannten Endreim in der Redeweise der Fremden.
Faust schlägt ihr vor den Endreim in Wechselrede spielerisch zu üben Faust
spricht einen Satz und Helena antwortet mit einem Reimwort, das dem ersten
„liebzukosen“ scheint.
Aus der
Vereinigung zwischen Faust und Helena geht Euphorion hervor, ein lieblicher
Genius. In arkadischer Landschaft scheint die Jungfamilie glücklich vereint,
aber Euphorions Übermut zerstört das trügerische Idyll. Er wirft sich zu hoch
in die Lüfte und stürzt wie der mythische Ikarus ab. Als die Seele des Toten
entschwindet, hört man noch ihre Bitte „Laß mich im düstern Reich, / Mutter,
mich nicht allein.“ Helena folgt Euphorion. Die arkadische Landschaft
verschwindet, und Faust bleibt - ohne den schönsten Augenblick erlebt zu haben
- einsam zurück.
Die
Faust-Helena-Handlung ist, wie sehr viele Handlungselemente in Faust II,
symbolisch zu verstehen. Faust auf seiner gotischen Burg repräsentiert die
christlich-abendländische Kultur, Helena die heidnisch-antike Kultur. Ihre
Vereinigung ist ein Bild für den kulturhistorisch nachvollziehbaren Versuch,
den Geist der Antike im postantiken Europa wieder lebendig werden zu lassen,
die Antike der unter den Bedingungen der „Moderne“ zu adaptieren. Solche
Versuche gab es immer wieder, angefangen von der Renaissance bis hin zur
Weimarer Klassik des späten 18.Jhs., deren Kunstprogramm ganz maßgeblich von
Goethe selbst geprägt wurde. Zur Figur Euphorion, die diese kulturhistorische
Synthese von Moderne und Antike symbolisiert, regte Goethe nach eigener Aussage
der englische Romantiker Lord Byron an, der aus Begeisterung für Griechenland
als Freiwilliger am griechischen Freiheitskampf gegen die Türken teilnahm und
dabei den Tod fand.
4. Akt /5.
Akt
Faust und Mephisto haben die
antike Welt verlassen. Sie stehen auf einem Hochgebirge. Mephisto verweist
Faust auf die „Reiche der Welt und ihre
Herrlichkeiten“, und fragt, ob ihn denn nach gar nichts gelüste. Diese
Szene erinnert an jene Stelle im Evangelium des Matthäus, in der Jesus vom
Teufel versucht wird: „Der Teufel zeigte
ihm (Jesus) alle Reiche der Welt und ihre Pracht und sagte zu ihm: Das alles
will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.“
Jesus antwortet schlicht und einfach: Weg
mit dir, Satan! Faust antwortet auf Mephistos Frage, er wünsche sich ein
Stück Meeresstrand, das er kolonisieren will. Was Faust reizt, ist also nicht
der Genuss des Vorhandenen, sondern die Tätigkeit, die schöpferische
Gestaltung. Mephisto verschafft Faust das gewünschte Stück Land, und Faust
macht sich nun an ein umfassendes Kolonisationswerk.
Der fünfte
und letzte Akt von Faust II zeigt uns den Titelhelden als tätigen und mächtigen
„Fürsten“ seines Landes, als Handelsherrn, Bauherrn und Gouverneur. Er hat aus
dem Meeresstrand einen blühenden, reichen Landstrich gemacht. Die rastlose
Kolonisation schafft für viele Menschen gute Lebensgrundlagen, sie hat aber auch ihre Kehrseiten. Widerstände
einzelner werden skrupellos beseitigt. Goethe zeigt diese Kehrseite
unternehmerischer Welteroberung in der Philemon-Baucis-Episode. Philemon und
Baucis sind zwei alte Menschen, die der neuen Zeit des Fortschritts nichts mehr
abgewinnen können, die an den Veränderungen keinen Anteil mehr nehmen wollen.
Ihre Hütte steht aber genau an der Stelle, an der Faust einen Aussichtsturm
errichten will, von dem aus er sein Lebenswerk überblicken kann. Philemon und
Baucis lassen sich durch kein verlockendes Angebot von ihrer alten Hütte weglocken,
also muss Mephisto die Sache in die Hand nehmen. Er zündet die Hütte an, und
die beiden Alten sterben in den Flammen.
Unermüdlich
arbeitet Faust an seinen Plänen und ignoriert, dass sich sein Ende bereits ankündigt.
Er ist ja mittlerweile hundert Jahre alt geworden. Mit ungebrochenem
Schaffenswillen möchte er noch den letzten großen Sumpf trockenlegen, um auch
dort Lebensraum für viele Menschen zu schaffen. Eine letzte große Vision von
fruchtbarem, blühendem Land ist ihm gegönnt. Dort sollten Menschen in
gemeinsamer Arbeit täglich ihren Lebensunterhalt sichern und so in sinnvoller
Tätigkeit, in Würde und Freiheit leben. Er selbst sieht sich auf diesem Land
„Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“. Angesichts dieser sozialen Utopie
einer solidarischen bürgerlichen Gemeinschaft sagt nun Faust :
„Zum Augenblicke dürft ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Äonen untergehn.
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“
Der entscheidende Satz ist ausgesprochen.
Der Pakt ist erfüllt. Mephisto macht sich daran, den Lohn für seine
Anstrengungen zu kassieren. Aber es kommt anders. Engel erscheinen und machen
Mephisto, seinen „Dickteufeln vom kurzen, graden Horne“ und „Dünnteufeln vom
langen, krummen Horne“ Fausts Seele streitig. Sie betören die Teufel durch ihre
Lieblichkeit und selbst Mephisto lässt sich blenden: „Die Racker sind doch gar zu appetitlich!“ Die Engel siegen,
Mephisto ist der Betrogene. Fausts Seele wird in einer langen, personell
aufwändigen Schlusspassage in den Himmel heimgeholt.
Natürlich
ist dieser überraschende Schluss Gegenstand verschiedener und auch
gegensätzlicher Interpretationen geworden, auf die hier im Detail nicht
eingegangen werden kann. Goethe selbst hat zu seinem Sekretär Eckermann gesagt,
der Schlüssel für das Verständnis des Schlusses liege im Satz: „Wer immer strebend sich bemüht, den können
wir erlösen.“ Erlösung ist also keineswegs nur der Lohn für ein fehlerloses
Dasein, denn es heißt ja im FAUST auch: „Es
irrt der Mensch, solang er strebt.“ Eine eher juristisch ausgerichtete
Interpretation meint, der Pakt sei dem Wortlaut nach nicht erfüllt, denn das
Erlebnis des schönsten Augenblicks sei ja für Faust nicht gegenwärtig, sondern
nur ein Vorgefühl, und außerdem habe Mephisto Faust nicht mit Genuss betrügen
können. Vor allem sollte bedacht werden, dass Goethe selbst nicht an einen
„Himmel“ im Sinne einer naiven christlichen Volksfrömmigkeit geglaubt hat.
Schon den Kampf zwischen Engeln und Teufeln um Fausts Seele hat Goethe
komödiantisch-parodistisch gestaltet. Die Unsterblichkeit, die Faust erwartet,
beruht auf dem unerschöpflichen Gestaltungswillen einer Natur, die alles
Geschaffene im immer neuen Gestalten transformiert. Zu Eckermann sagte Goethe: „Die Überzeugung unserer Fortdauer
entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit, denn wenn ich bis an mein Ende
rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins
anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag.“
Tätigkeit ist also der zentrale Begriff, mit dem Goethe den Sinn menschlichen
Daseins bezeichnet, und so wird auch verständlich, warum Faust bereits im
ersten Teil der Tragödie das Wort „logos“ mit „Tat“ übersetzen wollte. Am Anfang war die Tat!
Literaturhinweise
Bernhardt, Rüdiger: Erläuterungen
zu Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Teil I, 10. Auflage, Hollfeld: C.Bange
Verlag 2010 (=Königs Erläuterungen und Materialien Band 21)
Gaier, Ulrich: Kommentar zu
Goethes Faust. Stuttgart: Reclam 2002 (RUB 18183)
Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang
Goethe. Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart: Reclam 2001 (=
Erläuterungen und Dokumente, RUB 16021)
Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang
Goethe. Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Stuttgart: Reclam 2004 (Erläuterungen
und Dokumente, RUB 16021)
Mittelberg, Ekkehart u.a.: Faust
I. Handreichungen für den Unterricht. Berlin: Cornelsen Verlag 2005
Schacherreiter, Christian /
Schacherreiter, Ulrike: Das neue Literaturbuch. 65 Fenster zur Literatur. 1.
Auflage, Linz: Veritas 2011
Schacherreiter, Christian: Johann
Wolfgang von Goethe: Faust I. In: Rainer, Eva u.a.: Klassiker. Unterrichtsmaterialien
zu 20 deutschsprachigen Texten von Lessing bis zur Gegenwart. Linz: Veritas
2010, S.12-22
Schacherreiter: Christian: Man
muss nur Aug und Ohren dafür haben. Das deutschsprachige Drama von seinen
Anfängen bis zur Gegenwart. Teil 1, Linz: Verlag Grosser 1997, S.59-73
Alle Zitate aus „Faust“ sind der
Ausgabe des Reclam Verlags entnommen.
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