Diese Rezension erschien am 1. März in den OÖN
Das Dorf, in dem August Drach aufwächst, ist so klein, „dass man sich, wenn man sich umschaute, nie sicher war, ob jeder jeden kannte oder niemand niemanden.“ Man erzählt Geschichten hinter vorgehaltener Hand. Ob sie der Wahrheit entsprechen, bleibt offen. Die Unsicherheit doppelter Böden ist hier soziale Normalität, im Elternhaus des kleinen August äußert sie sich auch als Unberechenbarkeit.
Unberechenbar ist Augusts Vater, ein Alkoholiker, der seinen
Gemütsschwankungen ausgeliefert ist. Der Sohn bemüht sich zwar zu durchschauen,
welche seiner Sätze und Verhaltensweisen beim Vater welche Reaktionen bewirken,
aber vergeblich. Ein und dieselbe Handlung löst einmal Gleichgültigkeit aus,
ein anderes Mal Lachen, ein drittes Mal Wut und Gewalttätigkeit. Dass der Vater
eines Tages spur- und kommentarlos verschwindet, passt ins Bild seiner
Unberechenbarkeit.
Die schöne Lilly Drach scheint alles in allem eine
fürsorgliche Mutter zu sein. Ihre Unberechenbarkeit zeigt sich anfangs nur in
alltäglichen Verrichtungen. In einem Jahr pflegt sie den Obstgarten hingebungsvoll,
im nächsten lässt sie ihn verkommen. Sie hängt gerne ihrem Traum vom
glanzvollen Frauenleben nach, während die Wohnräume der Verwahrlosung
entgegenschimmeln.
Die scheinbar liebevolle Pflege ihres kränkelnden Kindes
wird für Lilly zum Sinnzentrum in einem ansonsten flachen Dasein. Um darauf
nicht verzichten zu müssen, hält sie August durch schädigende, heimlich
verabreichte Medikamente in seinem rätselhaften Krankheitszustand. Dieser
zerstörerischen Mutterliebe entkommt August durch die Hilfe des Hausarztes, der
zwar in Lilly Drach verliebt ist, aber sich dann doch auf seine Verantwortung
besinnt. Der gemeinsame Sommerurlaub mit der Mutter und ihrem Verehrer –
symbolisch verbunden mit der Zitrone – bleibt Augusts schönste
Kindheitserinnerung.
Es verwundert nicht, dass nach solch einer Kindheit
Unsicherheit und Labilität Augusts hartnäckige Lebensbegleiter bleiben. Dass
ausgerechnet er die Liebe der exzentrischen Künstlerin Ava wecken kann, sieht
er anfangs als Gottesgeschenk, was aber nur zuträfe, wenn der liebe Gott
Zyniker wäre.
Mit ihrem neuen Roman „Zitronen“ liefert Valerie Fritsch die literarische Diagnose einer durch und durch kranken Familienkonstellation. Die Überzeugungskraft des Texts ist nicht nur den fundierten Kenntnissen, sondern auch der beeindruckenden Formulierungskraft der Autorin zu verdanken. Mit ihrer genauen, gleichzeitig melodiös-eleganten Sprache dringt sie sehr subtil zum Kern des psychischen Desasters vor. Dass Valerie Fritsch bisweilen zum stilistischen Virtuosentum neigt und gerne in kühnen Metaphern und sogenannten Amplifikationen (variierenden Wiederholungen) schwelgt, mag man ihr verzeihen. Schön ist es ja!
Valerie Fritsch: „Zitronen“, Roman, Suhrkamp, 186 Seiten, 25,50
Euro
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