Sonntag, 19. November 2023

Kulturbrief 8: Karl-Markus Gauß im OÖN-Gespräch mit Christian Schacherreiter

 

Die Grundlagen unserer Zivilisation ändern sich dramatisch


SCHACHERREITER Der alte Goethe schrieb einmal den bemerkenswerten Satz: Man wird sich selbst historisch. Fängst du damit etwas an oder kommt dieser Satz für dich zu früh?

GAUSS Der Satz kommt nicht zu früh. Erstens weil ich mein Leben im Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen sehe, die historisch sind. Zweitens ist vieles in meinem Leben schon vorbei, und ich stelle natürlich die Frage: Was habe ich in all den Jahren gewollt? Woraus ist nichts geworden, woraus schon? Nicht nur in privater Hinsicht, sondern auch politisch. Was habe ich falsch gesehen? Wofür soll ich weiterhin einstehen? Und so weiter…

Die linke Studentengeneration, zu der wir damals gehörten, war unzufrieden mit der Gesellschaft und wollte Veränderung. Ich würde sogar von Fortschrittspathos sprechen. Die Welt hat sich auch verändert, aber nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben. Manche scheint das sehr gekränkt zu haben, aber damit musste man wohl rechnen.

Haben wir überhaupt ein klares Konzept gehabt dafür, wie sich die Welt verändern soll? Ich habe an der Universität diese jugendlichen Formen heiterer Renitenz erlebt, die dann zu fast sektiererischem politischem Kaderdenken mutiert sind. Ich bin – vielleicht durch Zufall, vielleicht auch durch charakterliche Disposition – nicht in diese linken Fraktionierungen hineingeraten. Am nächsten stand ich damals diesen abgehängten Kommunisten wie Ernst Fischer. Heute sehe ich sie zwar auch kritischer als damals, aber interessante Denker waren sie schon. Was ich bedaure, ist, dass ich damals viele leere Lesekilometer hinter mich gebracht habe mit eher dummen, rein ideologischen Büchern wie „Der Roman als bürgerliche Institution“.

Findest du es überzogen, von einem epochalen Wandel rund um die Jahrtausendwende zu sprechen? Ich habe oft das Gefühl, aus einer anderen Welt zu kommen. Wenn wir an unsere Kindheit denken, da war der Fernsehapparat die kühnste mediale Revolution. Schlagwörter für den großen Epochenbruch wären aber Digitalisierung, Globalisierung, Klimawandel.

Schon im Gefolge von 1968 hat sich die Gesellschaft gewandelt und in vielem auch zum Guten. Darauf beharre ich. Aber dieser Wandel war – historisch gesehen – wesentlich geringer, als es jetzt der Fall ist, wo sich tatsächlich die Grundlagen unserer Zivilisation dramatisch verändern.

Um mit Marx zu sprechen: die Produktivkräfte werden revolutioniert – allerdings mit unmarxistischen Folgen.

Man müsste aus demokratischer linker Perspektive fragen: Welches emanzipatorische und humanistische Potenzial haben diese Veränderungen, und wie könnte man sie politisch in diese Richtung  steuern? Mit dieser Verheißung sind ja die Leute im Silicon Valley einmal angetreten: Demokratisierung der Kommunikation. Aber heute erleben wir, dass die dümmsten populistischen Bewegungen mit der digitalisierten Kommunikation Hand in Hand gehen und dass die Gesellschaft in sich selbst bestätigende Blasen zerfällt. Die Vorstellung, immer intelligentere Botschaften würden das Netz durchdringen und langfristig zu einem qualitativen Strukturwandel der Öffentlichkeit führen, ist heute fast lächerlich geworden. Das beginnt bei Kindern, die keine zwei Minuten mehr konzentrationsfähig sind, geht über Studierende der Germanistik, die keinen längeren Roman mehr durchalten, bis hin zur Krise des kritischen Feuilletons. Wenn ich heute über ein aus meiner Sicht interessantes Osteuropa-Thema schreiben will, sagt man mir: Na gehen S‘, Herr Gauß, schreiben Sie doch lieber über dieses Buch einer queeren karibischen Autorin, die mit dem Enkel eines Holocaust-Opfers in Tanger eine prekäre Beziehung eingeht und sich in Rotterdam im Drogenmilieu verirrt.

Viele deiner Reisebücher haben etwas mit dem osteuropäischen und südosteuropäischen Raum zu tun. Wenn du heute einen nüchternen Blick auf diese Regionen wirfst, siehst du dann auch eine bedrückende Fülle ungelöster historischer Probleme?

Absolut. Nicht selten verlaufen diese Krisen auf uralten historischen Bruchlinien, die in der Gegenwart weitermachen und zu permanenter Aufrüstung führen. Dieses Beharrungsvermögen der Geschichte steht in Widerspruch zur Beobachtung, dass sich alles verändert und alles Alte verschwindet.

Das blöde Alte bleibt.

Leider. Ich hatte in den Achtzigerjahren gute Kontakte mit beeindruckenden osteuropäischen Intellektuellen, die sich für den Westen interessiert haben. Und ich darf sagen, dass ich ein bisschen daran beteiligt war, dass wir uns auch verstärkt für Osteuropa interessiert haben. Das ist vorbei. Osteuropa und Südosteuropa sind mit ihrem eigenen Diskurs beschäftigt und der ist nicht mehr auf kritischen Austausch angelegt. Jean Amery hat einmal gesagt, das Schlimme am Altwerden sei nicht, dass körperlich das eine oder andere nicht mehr möglich ist, sondern das Bewusstsein, dass eine Welt um einen wächst, zu der man keinen geistigen Zugang mehr findet.

Offen gesagt, so befremdlich erlebe ich Teile der digitalen Medienwelt, zum Beispiel künstliche Intelligenz. Wie geht es dir damit?

Natürlich benütze ich das Internet, radikale Modernisierungsverweigerung wäre ja selbstschädigend. Aber ich muss mir nicht mehr alles zumuten, nur weil es modern ist. Manches überfordert mich technisch, manches verweigere ich trotzig. Es ist eine Gratwanderung.

Sprechen wir über Literatur und blenden wir noch einmal in die Siebzigerjahre zurück. Damals hatte Literatur „gesellschaftskritisch“ zu sein und nach Möglichkeit sprachlich und formal avantgardistisch. Das traditionelle Erzählen, hieß es, sei an sein Ende gekommen. Das ist aber nicht eingetreten.

Und da muss man sagen: Gott sei Dank ist es nicht eingetreten. Ich respektiere die Arbeit experimentell arbeitender Künstler. Sie haben es ohnedies nicht leicht, weil sich das kaum jemand anschauen oder anhören will. Aber die These, erzählen sei in der Moderne grundsätzlich nicht mehr möglich, war ein ähnlich dogmatischer Unsinn wie die Aussage, man könne keine Menschen mehr malen. Das wurde als große Modernisierung ausgegeben. Heute hängt in den Büros von Generaldirektoren und auch von konservativen Politikern meistens ein Nitsch oder irgendein gestischer Expressionist…

Und Thomas Bernhard ist längst zum Liebling des konservativen Bildungsbürgertums avanciert.

Ich gehöre zur kleinen Gruppe derer, die Thomas Bernhard nicht für den heiligen Thomas halten, sondern für einen Autor, der eine manichäische, auch denunziatorische und elitär-antidemokratische Literatur geschrieben hat, wenn auch auf sehr hohem Niveau.

Es gibt so viele kluge Bücher von dir, Essays, Journale, Reiseliteratur. Hat es dich nie gereizt, einen Roman oder Lyrik zu schreiben?

Lyrik nicht, aber ich glaube, dass ich in meinen Büchern, auch wenn sie nicht als fiktionale Literatur gelten, stark vom Erzählen Gebrauch mache. Es ist nicht alles, was ich geschrieben habe, zu hundert Prozent verbürgt. Ich gehe zwar von Fakten aus, arbeite aber manchmal bewusst mit Fiktionen, damit die Fakten besser erkennbar werden.

(Eine etwas gekürzte Version dieses Gesprächs erschien am 13.10.23 in den Oberösterreichischen Nachrichten)