Montag, 26. Juni 2023

Kulturbrief 4: Schöne Erinnerung an Franz Rieger im StifterHaus Linz

 

Der Name Franz Rieger ist selbst  in der literarischen Community von Oberösterreich nur mehr uns Älteren ein Begriff. Sein Werk droht in Vergessenheit zu geraten. Ein bedauerlicher Irrtum, denn der 2005 verstorbene Franz Rieger gehört zu den besten Erzählern des Landes. Er war schon fünfzig, als 1973 sein erster Roman „Paß“ erschien; geschrieben hat Franz Rieger allerdings schon seit seiner Jugend. Schreiben war seine eigentliche Daseinsform, auch wenn seine in eigenwilliger Mikroschrift beschriebenen Manuskripte jahrelang von Verlagen zurückgewiesen wurden.

Rieger kämpfte nicht um den äußeren Erfolg, er suchte nicht einmal das sogenannte Licht der Öffentlichkeit. Er schrieb unentwegt, weil er schreiben musste. Seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie sicherte er seit 1955 als Bibliothekar bei den Büchereien der Stadt Linz.

Nachdem im Jahr 1973 der Roman „Paß“ erschienen war, stieg – zumindest vorübergehend – die Wahrnehmungskurve steil an. In rascher zeitlicher Folge wurden nun weitere Romane gedruckt. Riegers bis heute meistgelesenes Buch ist – vorrangig wegen dessen gesellschaftskritischer Thematik – der Roman „Schattenschweigen oder Hartheim“ (1985). Die Rieger-Ausstellung im StifterHaus zeigt allerdings, dass es bedauerlich wäre, würde man den Autor auf sein erfolgreichstes Werk reduzieren.

Das Ausstellungskuratorium, bestehend aus Gerhard Zeillinger, Georg Hofer und Petra-Maria Dallinger, rückt neun Bücher von Franz Rieger ins Zentrum (Ausstellungsgestaltung: Gerold Tagwerker), denen fünf bestimmende Motive und Themen der literarischen Rieger-Welt zu entnehmen sind: das Dorf, das Schweigen, beobachten und beobachtet werden, bedrohte Psyche, Gewalt. Inhalt und Sprache weisen Franz Rieger als abseitigen, eigenwilligen Repräsentanten der literarischen Moderne aus, dessen Werk prominente Assoziationen anstößt: die Verlorenheit von Franz Kafkas Protagonisten, die abgründige Ereignisarmut in der Prosa von Adalbert Stifter, die gesellschaftskritische Haltung von Thomas Bernhard.

„Der monomanische Schreiber: Franz Rieger (1923-2005)“; StifterHaus Linz, Ausstellungsdauer: 21.6.23 – 23.5.24, Dienstag-Sonntag 10-15 Uhr

(Dieser Beitrag beruht auf meinem Bericht für die OÖN vom 24.6.23)

Dienstag, 6. Juni 2023

Kulturbrief 3: Kritik der "Textsorten"-Didaktik

Mit meiner Kritik an der Schreibdidaktik, die sich als Folge der standardisierten Reifeprüfung flächendeckend über die Sekundarstufe II legt, bin ich nicht allein. DIE FURCHE hat mir die Möglichkeit gegeben, in der Kolumne DIESSEITS VON GUT UND BÖSE (4.5.23) meine Meinung darzulegen. 

Sixtus Beckmessers Deutsch-Matura

Sowohl in der Wiener Staatsoper als auch im Linzer Musiktheater steht derzeit Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ auf dem Programm. Ein Aufführungsbesuch ist nicht nur Opernfreund(inn)en zu empfehlen, sondern auch dem Freundeskreis „kompetenzorientierter Didaktik“. Am erhellenden Beispiel des Meistersingers Sixtus Beckmesser können sie sehen und hören, wie es um die Kunst stünde, würden Pedanten wie Beckmesser die Richtung vorgeben.

Wagners Oper ist eine treffende Satire auf jene unangenehme Sektion der Kunstkritik, die sich im Besitz eines verbindlichen Regelsystems für die „Herstellung“ von Musik und Literatur wähnt. Ein wirklich gutes Lied hat zwar auch „handwerkliche“ Implikationen, es ist aber mehr als ein Werkstück. Harmonielehre, Metrik, Metaphorik – das alles kann man lernen; dichten und komponieren nur zum Teil.

Schön und gut, wird man nun einwenden, aber was hat das mit „kompetenzorientierter Didaktik“ im Allgemeinen und mit der standardisierten Reifeprüfung aus Deutsch im Speziellen zu tun? Leider ziemlich viel – zumindest dann, wenn man auch einen Schüleraufsatz als sprachlich-kreative Hervorbringung achtet. Allein die Richtlinien, nach denen die Aufgaben für die Reifeprüfung erstellt werden müssen, sind Beckmesserei, ein pedantischer Regelkanon, der die Sache einerseits unnötig verkompliziert, andererseits ein Korsett schnürt, das Schreibprozesse so sehr reglementiert, dass intellektuelle Dürftigkeit und formale Uniformität die Folge sind.

Verkrampfte Formulierungen

So sieht sie nämlich aus, die Bastelanleitung, nach der die Schreibaufgaben für die Reifeprüfung aus Deutsch (und daher auch für Schularbeiten in der Sekundarstufe II) zusammengeleimt werden müssen: Erstens wähle man aus einem Kanon von sieben Textsorten eine aus. Damit bewegen wir uns noch im akzeptablen Bereich. Die Meinungsrede, der Kommentar, die Textinterpretation etc. sind geeignete Textsorten. Zweitens suche man einen Text, der sich als Ausgangsmaterial für die Schreibaufgabe eignet. Auch das ist sinnvoll.

Bis hierher wäre also die Sache auf einem guten Weg, aber plötzlich trampelt Sixtus Beckmesser auf die Bühne des Schullebens und sagt: Drittens formuliere man exakt drei Einzelanweisungen für den Schreibprozess und bediene sich dabei eines Kanons von Operatoren (das sind Verben, die Handlungsanweisungen geben, z.B. fasse zusammen, erläutere, stelle dar). Die kanonisierten Operatoren sind drei Kategorien zugeordnet (Reproduktion, Reorganisation und Reflexion). Alle drei Kategorien müssen in der Aufgabenstellung berücksichtigt werden und jede der drei Teilanweisungen darf nur einen Operator enthalten. Verboten ist es, schlichte Fragen zum Text zu stellen, auch wenn das praktisch und zielführend wäre. – Alles klar? Die Folgen solch einer Bastelanleitung sind verkrampfte Formulierungen und inhaltliche Reduktionen in der Aufgabenstellung. Die geistige Eigenleistung der Schreibenden wird ebenso beschnitten wie ihr gestalterischer Freiraum. Das Ergebnis sind biedere, einander ähnliche Texte.

Wiedergeburt der Regelpoetik

Damit aber immer noch nicht genug der Vorgaben! Die Schreibaufgabe soll auch in eine lebensnahe Schreibsituation eingebettet werden. Das mag bei Meinungsrede oder Kommentar bisweilen passend sein. Als generelle Verpflichtung taugt es aber nicht. Es soll Maturant*innen erlaubt sein, über die Angelegenheiten dieser Welt schreibend nachzudenken, ohne sich einem kommunikativen Verwertungszusammenhang zu unterwerfen.

Und wenn wir schon von „Lebensnähe“ reden! Niemand geht im wirklichen Schreibleben so vor, wie die Kandidat(inn)en bei einer schriftlichen Reifeprüfung vorgehen müssen. Weder Journalistin noch Essayistin noch politischer Redenschreiber formulieren, bevor sie ans Werk gehen, unter Verwendung eines Operatorenkanons für sich selbst drei Schreibaufgaben, die sie dann Schritt für Schritt folgsam abarbeiten.

Diese einerseits aufgeblasene, andererseits kümmerliche Schreibdidaktik ist die Wiedergeburt der Regelpoetik in zeitgeistigem Kleid. Dahinter steht jenes philisterhafte Verständnis von Schreiben, gegen das schon Lessing und der junge Goethe polemisiert haben. Auch Kleists Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ ist in diesem Zusammenhang ein heißer Lektüretipp.

Das didaktische Beckmessertum, das sich in der standardisierten Deutsch-Matura selbstverwirklicht, zeigt seine Wirkungen auch im Beurteilungsraster für die Korrektur. Jede Maturaarbeit muss nach ungefähr 30 (in Worten: dreißig!) Einzelkriterien beurteilt werden. Meint man wirklich, dass man durch diese Erbsenzählerei zu einem optimalen, „gerechten“ Urteil über Texte kommt?

Eine sachdienliche und schülerorientierte Schreibdidaktik soll zwar solide „handwerkliche“ Fertigkeiten vermitteln, nicht zuletzt logisches Argumentieren und normgerechte Grammatik, sie soll aber auch individuelle Freiräume ermöglichen, für Gedankenreichtum und gestalterische Originalität. Gerade in der originellen Abweichung von der Regel kann die besondere Qualität eines Texts bestehen. Für solche Texte wird man auch in Zukunft menschliche Verfasser(inn)en brauchen, standardisierte Werkstücke hingegen können wir neidlos der künstlichen Intelligenz überlassen.