Warten auf Godot
Die Zuschauer
sehen eine leere Landstraße. Am Straßenrand steht ein kahler Baum. Der Mann auf
der Bühne versucht einen Schuh auszuziehen. Ein zweiter Mann kommt dazu. Die
Kleidung der beiden weist sie als soziale Randexistenzen aus, möglicherweise
als Landstreicher. Man erfährt, dass Estragon - so der Name des einen Mannes -
die letzte Nacht in einem Straßengraben verbringen musste und dass er
verprügelt wurde. Estragon und Wladimir sind hierher gekommen, weil sie sich
mit jemandem verabredet haben. Wladimir ist allerdings nicht ganz sicher, ob
sie mit dem Unbekannten wirklich für diesen Tag verabredet sind. Waldimir und
Estragon warten also. Die Gegenwart ist für den Wartenden eine sinnlose Zeit,
denn das, was dem Dasein des Wartenden Sinn gibt, liegt ja in der Zukunft. Im
Falle der beiden Landstreicher besteht der Sinn im Eintreffen eines gewissen
Herrn Godot, von dem der Zuschauer so viel wie nichts erfährt, von dem aber
auch Wladimir und Estragon offensichtlich nichts Genaues wissen. Ihre Unsicherheit veranlasst die beiden
Wartenden sogar dazu, einen Selbstmord in Erwägung zu ziehen. Sie könnten sich
zum Beispiel erhängen, aber auch dieser Selbstmord ist eine unsichere Sache.
Den leichten Estragon würde der Ast wahrscheinlich aushalten, aber unter der
Last des schweren Wladimir könnte er brechen. Estragon wäre tot, Wladimir
bliebe einsam zurück. Nicht auszudenken! Sie entscheiden sich dazu
weiterzuleben. Uns sie entscheiden sich zu warten; zu warten auf Godot, von dem
man nichts Genaues weiß.
Zwei weitere
Figuren betreten die Bühne. Estragon hofft, dass einer der beiden Godot ist,
aber seine Hoffnung erfüllt sich nicht. Die beiden Ankömmlinge heißen Pozzo und
Lucky. Pozzo ist ein Herrenmensch, ein brutaler Ausbeuter und Sklaventreiber.
Er führt seinen Sklaven Lucky an einer Leine, demütigt und misshandelt ihn. Auf
Pozzos Veranlassung muss Lucky vortanzen und vordenken. Das „Vordenken“ besteht
in einem endlos scheinenden Monolog, in dem Lucky Bildungs- und Wissensfragmente
zusammenhanglos aneinanderreiht. Er präsentiert eine Art Müllhalde des Denkens.
Gewaltsam muss der schier unendliche Gedanken- und Sprachstrom des merkwürdigen
Sklaven unterbrochen werden. Pozzo und Lucky ziehen weiter, denn Pozzo will
seinen Sklaven auf dem Salvator-Markt verkaufen. Estragon und Wladimir bleiben
zurück, aber sie bleiben nicht lang allein. Ein Knabe tritt auf. Er ist ein
Bote Godots und meldet, dass Herr Godot heute nicht mehr kommen wird, sondern
erst morgen. „Gehen wir,“ sagen die Landstreicher, aber sie bleiben. Der Vorhang
fällt. Ende des ersten Akts.
Am Beginn des 2.Akts ist eine kleine
Veränderung zu beobachten. Der Baum am Straßenrand ist ein wenig belaubt.
Wladimir tritt auf und versucht sich mit wenig Erfolg als Sänger. Das Lied Ein Hund kam in die Küche und stahl dem
Koch ein Ei, das er anstimmt, will ihm nicht so recht gelingen. Estragon
betritt nun auch die Bühne. Um sich die Zeit bis zu Godots Eintreffen zu
vertreiben, ersinnen die beiden Spiele, das Streit-Spiel, das Vertragens-Spiel,
das Höflichkeits-Spiel, das Mutter-Kind-Spiel u.a.m. Unter anderem imitieren
sie Pozzo und Lucky. Der Herrenmensch und sein Sklave kommen auch selbst noch
einmal auf die Bühne. Sie haben sich verändert. Pozzo ist blind geworden und
Lucky stumm. Pozzo fällt immer wieder hin und fleht um Hilfe. Nach langwierigen
Bemühungen gelingt es Estragon und Waldimir endlich, Pozzo wiederaufzurichten.
Gemeinsam mit Lucky stolpert er davon.
Schließlich
erscheint wieder Godots Bote. Herr Godot, so meldet der Knabe, kommt heute
nicht mehr, aber morgen. Estragon und Wladimir überlegen angesichts dieser
Botschaft, ob nicht doch der Selbstmord durch Erhängen die angemessene Reaktion
wäre. Aber Estragons Hosenschnur, die zum Einsatz kommen soll, reißt schon bei
der ersten Belastungsprobe. Sie werden also weiterleben und morgen
wiederkommen. „Gehen wir?“ fragt Wladimir. „Gehen wir“, sagt Estragon, aber sie
bleiben stehen - und der Vorhang fällt.
Samuel Beckett, ein
Klassiker der Moderne
WARTEN AUF GODOT ist das bekannteste Stück
des irischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Samuel Beckett (1906-1989)
und wahrscheinlich das repräsentative
Beispiel moderner Dramatik schlechthin. Beckett wuchs in Dublin auf, kam in den
späten Zwanziger Jahren nach Paris, wo er seinen berühmten Landsmann James
Joyce kennen lernte und Zugang zur avantgardistischen Kunstszene fand. In den
Dreißiger Jahren übersiedelte Beckett endgültig nach Paris und beteiligte sich
während des Krieges am französischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung.
Beckett hatte als Philologe und Übersetzer einen sehr guten Namen. Die
Möglichkeit einer Karriere als Wissenschaftler schlug er allerdings zugunsten
seiner literarischen Arbeit aus. Zwischen 1938 und 1952 erschienen Becketts
Romane MURPHY, WATT, MOLLOY und MALONE STIRBT. In diesen Prosawerken wandte
sich Beckett von der üblichen Romantradition ab, das heißt vor allem, dass er
auf kausale Handlungszusammenhänge, auf Eindeutigkeit der Sprache und auf
psychologischen Realismus verzichtete. Die befremdliche Welt, die Beckett in
seiner Prosa gestaltete, findet man auch in seinen Bühnenwerken. WARTEN AUF
GODOT zeigt dies mit aller Deutlichkeit.
Wer ist Godot? Und andere
aussichtslose Fragen
Die Ratlosigkeit,
die Becketts rätselhaftes Stück vorerst einmal auslöst, hat natürlich zu vielen
Deutungs- und Erklärungsversuchen geführt. Endlos ist die Zahl der
Interpretationen; teilweise stimmen sie überein, teilweise ergänzen sie,
teilweise widersprechen sie einander. Geläufige und im wesentlichen
anerkannte Deutungen sehen in der
Bühnenexistenz von Wladimir und Estragon ein gleichnishaftes Modell des
modernen Lebens. Die beiden Landstreicher leben vor allem in der Hoffnung auf
zukünftige Entwicklungen, in der Hoffnung auf die Begegnung mit Godot. Was Sinn
hat, liegt für sie in der Zukunft. Die Gegenwart erleben sie daher nur als
Wartende. Eine Gegenwart ohne Zukunft, das augenblickliche Dasein als solches
hat daher keinen Sinn. Wladimir und Estragon füllen sie mit unerheblichen
Sätzen und unerheblichen Handlungen. Es geht ja nur darum, die Leere zu füllen,
die durch das Warten auf Godot entsteht.
Wäre nun klar,
was Estragon und Wladimir von der Begegnung mit Godot zu erwarten haben, dann
könnte die Wartezeit tatsächlich als unerhebliche Übergangsfrist akzeptiert
werden. Die verstörende Wirkung des Stücks beruht aber vor allem darauf, dass
nicht einmal Wladimir und Estragon wissen, wer Godot ist und was sie von ihm zu
erwarten haben. Vielleicht ist das Warten als solches eine Torheit. Vielleicht
endet es mit einer Katastrophe. Ja, es ist nicht einmal sicher, ob Godot
tatsächlich existiert. Vielleicht ist der Knabe, der sich als Bote ausgibt, nur
ein Betrüger, ein Schlitzohr, das sich am sinnlosen Warten der beiden
Landstreicher delektiert. Die Interpreten haben verschiedene Versuche
unternommen, etwas mehr Klarheit über diese unbekannte Figur Godot zu bekommen.
Vor allem wurde überprüft, ob Godot vielleicht kein anderer als Gott selbst
ist, ob also das Warten der beiden Landstreicher die Folge einer religiösen
Erlösungssehnsucht ist. Einzelne Hinweise aus dem Kontext und auch im Text
scheinen diese These zu stützen. Der Knabe bejaht zum Beispiel Wladimirs Frage,
ob Herr Godot einen Bart habe, wahrscheinlich einen weißen Bart, fügt er hinzu.
Man fühlt sich dadurch natürlich an naive Gottesdarstellungen in Kinderbüchern
erinnert. So könnte man in Wladimirs und Estragons Warten die Situation des
modernen Menschen wiedererkennen, der jedes klare Bild von Gott, jede
Gottesgewissheit überhaupt verloren hat, der aber doch nicht aufhören kann,
sich nach dem Göttlichen zu sehnen, nach dem Göttlichen, das ihn erlöst und
sein mangelhaftes, kleines Dasein in einen anderen Zustand der Vollkommenheit
transformiert. Tatsache ist, dass Erwartung, Hoffnung und Sehnsucht die
menschlichen Gefühle sind, die Wladimirs und Estragons Bühnenleben grundlegend
prägen. Ob der Gegenstand ihres Sehnens und Hoffens nun Gott genannt wird oder
Glück oder Erlösung (oder eben Godot) scheint nebensächlich zu sein, eine rein
pragmatische Frage der sprachlichen Benennung, und nicht eine Frage der
existentiellen menschlichen Erfahrung.
Ein weiterer
Aspekt der Interpretation ist die Funktion des Paares Lucky-Pozzo im
Gesamtzusammenhang des Werks. Lucky und Pozzo warten nicht auf Godot. Sie leben
ein gegenwartsbezogenes Leben als Herr und Knecht. Aber dieses Leben scheint
nicht besser zu sein als das von Wladimir und Estragon. Erstens beruht ihr
Verhältnis zueinander auf Unterdrückung und Ausbeutung, zweitens verschlechtert
sich ihre Lage im Verlauf des Stücks. Pozzo wird blind, Lucky stumm. Im zweiten
Akt taumeln sie ziel- und planlos über die Bühne, nur durch die Macht der
Gewohnheit aneinander gekettet. Die Beziehung zwischen Wladimir und Estragon
steht dazu in einem positiven Kontrast. Auch wenn ihr Ziel äußerst abstrakt, ja
vielleicht sogar illusionär ist, so gibt es ihrem Dasein doch Richtung und Halt
und ihrem Zusammensein ein Fundament. So sinnlos ihre Lebens-Spiele erscheinen
mögen, Wladimir und Estragon haben auch Spaß daran, und die Qualität ihrer
Freundschaft zeigt sich in durchaus berührenden Augenblicken der Zuneigung, in
denen sie beinahe zärtlich Didi und Gogo zueinander sagen.
Wie auch immer
WARTEN AUF GODOT interpretiert werden mag, das Stück berührt anscheinend
die Menschen auf eine schwer erklärbare Art. Die Uraufführung
wurde zu einem sensationellen Erfolg. Im kleinen Pariser Theatre de Babylone,
das mittlerweile längst nicht mehr existiert, wurde WARTEN AUF GODOT 400 mal
aufgeführt In zwanzig Sprachen wurde es übersetzt, und in den ersten fünf
Jahren nach der Uraufführung sahen es mehr als eine Millionen Zuschauer. Das
ist für avantgardistisches Theater eine geradezu märchenhaft hohe Zahl.
Endspiel
Neben WARTEN AUF
GODOT ist ENDSPIEL (UA 1957) Becketts bekanntestes Stück. Das Bühnengeschehen -
sofern man überhaupt von einem „Geschehen“ sprechen kann - löst beim Zuschauer
weitgehende Ratlosigkeit aus. Die Bühne zeigt einen geschlossenen Raum.
Anscheinend ist eine elementare Katastrophe passiert, die alles Leben außerhalb
dieses Raums ausgelöscht hat. Allerdings ist es auch möglich, dass sich die
vier Bühnenfiguren nur einbilden, es wäre derartiges geschehen. Die Figuren,
die als vermutlich letzte Überlebende auf engstem Raum zusammenleben, sind
Hamm, ein an den Rollstuhl gefesselter Blinder, sein Diener Clov, der nicht
sitzen kann, und Hamms alte Eltern Nell und Nagg, die nach einem Tandem-Unfall
ihre Beine verloren haben und nun in zwei Mülltonen leben. ENDSPIEL hat,
ähnlich wie WARTEN AUF GODOT, keine eigentliche Handlung, gezeigt wird ein
Zustand, der sich bis zum Schluss nicht verändert. Clov wird von Hamm
unterdrückt. Die Beziehung zwischen den beiden gleicht der von Pozzo und Lucky.
Clov bleibt aber bei seinem Herrn, weil er von dessen Essensvorräten abhängig
ist. Ohne Hamm kommt Clov nicht in die Speisekammer, und Hamm muss von Clov
gefüttert werden. Die beiden sind also aufeinander angewiesen. Die Mülltonnen,
in denen Hamms Eltern wohnen, werden gelegentlich geöffnet. Nell und Nagg
plaudern dann miteinander. Nagg erzählt seiner Frau immer wieder dieselbe Geschichte,
über die sie vor vielen Jahren einmal
lachen musste. Clov wirft Hanmm vor, den Tod von Mitmenschen verschuldet zu haben.
Hamm erzählt hingegen eine Geschichte, der man entnehmen könnte, dass Clov als
kleiner Junge von Hamm aufgenommen und damit vor dem Tod gerettet worden ist.
Irgendwann einmal stirbt Nell, aber ihr Tod führt keine Änderungen herbei.
Aufgebrochen wird die statische Situation erst, als Clov aus dem Fenster schaut
und einen Überlebenden erblickt, einen
kleinen Jungen. Nun spürt Hamm, dass sein Ende gekommen ist. Die
Kausalzusammenhänge zwischen Hamms Ende und dem Auftauchen des Jungen bleiben
freilich ungeklärt. Hamm sagt aber zu Clov, dass er ihn jetzt nicht mehr
brauche. Tatsächlich packt Clov seine Sachen und erscheint im Mantel, mit
Schirm und Reisetasche. Allerdings bleibt er - ähnlich wie Estragon und
Wladimir - im Raum stehen. Und der Vorhang fällt.
Ähnlich wie
WARTEN AUF GODOT wurde auch ENDSPIEL auf unterschiedliche und kontroversielle
Weise interpretiert und diskutiert. Dass Einsamkeit und Angst, Sinn- und
Orientierungslosigkeit wesentliche Motive sind, ist nachvollziehbar. Ein
Interpret verstieg sich aber auch zu der schwer haltbaren Auffassung, dass
Beckett mit der Beziehung Clovs zu Hamm eine Parabel seiner Beziehung zum
Vorbild James Joyce geschaffen habe. Und ein anderer deutete ENDSPIEL als
Monodrama. Die Figuren wären demzufolge nur unterschiedliche innere Stimmen
einer Figur, die Bühne das Seeleninnere eines Protagonisten: Clov repräsentiert
den Intellekt dieser Figur, Hamm die Emotion und Nell und Nagg das verdrängte
Unterbewusste.
Der
Literaturwissenschaftler Martin Esslin hat davor gewarnt, Becketts Stücke durch
besonders eingehende Erklärungen auf den einen
verborgenen Sinn hin zu untersuchen. Das kann nur schiefgehen. Becketts Dramen
sind nicht im üblichen Sinne nacherzählbar und auf eine verbindliche Botschaft
zu verpflichten. Sie beruhen auf Bildern, die so faszinierend sind wie
Traumbilder, aber ebenso rätselhaft und vieldeutig. Rätselhaftigkeit und Vieldeutigkeit
sind eben grundlegende Eigenschaften jenes avantgardistischen Theaters, das
durch den Namen Samuel Beckett in hervorragender Weise repräsentiert wird, und
für das man den Begriff „absurdes Theater“ geprägt hat.
Absurdes Theater - Antwort
auf eine absurde Welt ?
Das lateinische
Wort „absurdus“ ist eine Kontamination aus „absonus“ (misstönend) und surdus
(taub, schwer verstehend). „Absurd“ bedeutet im deutschen Sprachgebrauch
widersinnig, ungereimt. Wenn etwas ad
absurdum geführt wird, dann wird seine Unvereinbarkeit mit den Regeln des
Verstandes nachgewiesen.
Als wichtiger
Wegbereiter des Absurden auf europäischen Bühnen gilt Alfred Jarrys Farce UBU
ROI (UA 1896), ein „Königsdrama“, das mit den Konventionen der klassischen
Tragödie bricht und das hohe Drama zur Posse erniedrigt. Ubu ist ein
Anti-König, ein launischer, verfressener, geiler Tyrann, der den Hass aller auf
sich zieht und eine Revolte auslöst, der er aber entkommen kann. Ubu ist aber
nicht nur der dekadente Monarch, er ist auch eine Karikatur auf den Spießbürger
und damit auch die Verkörperung menschlicher Schwäche und Amoral. Das Stück
löste bei der Uraufführung einen Theaterskandal aus. Ein weiterer Pionier des
absurden Dramas ist Antonin Artaud, der 1926 in Paris das Theater „Alfred
Jarry“ gründete. Im Grundsatzprogramm konnte man folgendes lesen: „Das Thèatre
Alfred Jarry ist geschaffen worden in Reaktion gegen das Theater und um dem
Theater jene totale Freiheit wiederzugeben, wie sie in der Musik herrscht, in
der Poesie oder der Malerei, und die ihm bisher seltsamerweise vorenthalten
war(...)Wir fassen das Theater als einen magischen Prozeß auf. Wir sprechen
nicht die Augen an, noch die direkte Erregung der Seele; was wir zu erzeugen
versuchen, ist eine gewisse psychologische Erregung, in der die geheimsten
Triebfedern des Herzens bloßgelegt werden.“
Artauds
Auffassung vom Theater steht im geistigen Zusammenhang mit dem Dadaismus, jener
auf völliger poetischer Freiheit bestehenden Kunstströmung, die dem Zweckdenken
und der Vernunft ein irrational-anarchisches Kunst- und Lebenskonzept
entgegensetzte. Artaud setzte sich mit
seinem Anliegen nur teilweise durch und hatte auch unter den Anhängern der
DADA-Bewegung Gegner. 1948 starb er, krebskrank, opiumsüchtig, vereinsamt. Was
er und andere Dadaisten in der Zwischenkriegszeit begonnen hatten, war aber
nicht mehr auszulöschen, die Faszination des Absurden. Gewiss ist dies auch aus
den geschichtlichen Verhältnissen zu erklären. Die erste Hälfte des
20.Jahrhunderts war von zwei furchtbaren Kriegen und von der Entstehung
brutaler Diktaturen geprägt. Daß Künstler und Philosophen angesichts solcher
Zustände behaupteten, dass das Leben auf diesem Planeten vernunftwidrig,
chaotisch und furchterregend sei, ist wohl nicht allzu verwunderlich. Millionen
starben auf den Schlachtfeldern, weitere Millionen in den menschenverachtenden
Lagern rechter und linker Diktaturen. Scheinbar Festgefügtes zerfiel, scheinbar
Wichtiges war bedeutungslos geworden, Pläne der Menschen wurden von einem Tag
auf den andern null und nichtig - und kein Gott nahm sich um diesen Planeten
an, den der österreichische Schriftsteller Gerhard Amanshauser einmal als ein
längst aufgegebenes Experiment in irgendeinem Winkel des Weltalls bezeichnet
hat.
Der fröhliche Steinewälzer
Das Gefühl der Absurdität, der Ungereimtheit,
ja Sinnlosigkeit menschlichen Daseins ist eine nachvollziehbare Reaktion auf
eine Zeit, die aus den Fugen geraten ist. Ein besonders einflussreicher
Schriftsteller und Philosoph, der dieses Gefühl zu benennen und exemplarisch
auszuführen wusste, war der Franzose Albert Camus. In seinem Werk DER MYTHOS
VON SISYPHOS deutete er die Existenz des modernen Menschen als
Sisyphos-Schicksal. Die Sisyphos-Figur der antiken Sage ist dazu verurteilt,
einen Stein auf einen Berg zu wälzen. Bevor Sisyphos die Spitze erreicht, rollt
der Stein wieder nach unten, und Sisyphos muss sein Werk von vorn beginn en. So
sieht also Camus den Menschen des 20.Jahrhunderts. Ein Grund zur Verzweiflung? Zum Selbstmord?
Möglicherweise; es gibt aber eine Alternative, und Camus zeigt sie auf: Für
seinen Sisyphos wird das Wälzen des Steins zum Lebenssinn. Er verabschiedet sich also vom Ziel, das
ohnehin unerreichbar bleibt, und erklärt den Weg zum Ziel, also zur
eigentlichen, zur sinngebenden Aufgabe.
Im Zusammenhang
mit Camus’ Philosophie - er starb übrigens 1957 bei einem sinnlosen
Verkehrsunfall - entwickelte sich der europäische Existentialismus, dessen
zweiter großer geistiger Vater auch ein Franzose war: Jean-Paul Sartre. Der
Existentialismus zeichnet ein ernüchterndes Menschenbild. Der Einzelne ist frei
im negativen Sinn des Wortes. Befreit von Gott und der Einbindung in seinen
Schöpfungsplan wird der Mensch auf sich selbst zurückverwiesen, auf sein
unvollkommenes, letztlich undurchschaubares, gefährdetes Leben, mit dem er
verfahren kann, wie er will, beziehungsweise so, wie es die Welt, in die er
sich begibt, zulässt.
Im geistigen
Umfeld dieser Philosophie des Absurden wird auch das Theater des Absurden besser verständlich. Die Voraussetzung des
absurden Dramas, sagt Reiner Poppe, ist nämlich, dass die Welt als absurd
erkannt wird. Logisch-kausale
Handlungszusammenhänge werden in diesen Spielhandlungen daher nicht mehr
konstruiert, weil sie keine Entsprechungen in der Wirklichkeit haben. Nicht
Bühnengeschichten werden erzählt, sondern Zustände gezeigt. Die Angst vor der
Leere, die Erfahrung der Ausweglosigkeit, die Einsamkeit der Figuren, die oft
aneinander vorbeireden, sind wesentliche Elemente des absurden Dramas; ebenso
wie das Rätselhafte und Surreale, das Lächerliche und Groteske, das ein
ambivalentes, bitter-befreites Lachen auslöst.
Absurdität auf
deutschsprachigen Bühnen
Wesentliche
Vertreter des absurden Theaters waren neben dem schon erwähnten Samuel Beckett
Jean Tardieu, Boris Vian, Eugene Ionesco, Jean Genet, Fernando Arrabal, Herold
Pinter, Edward Albee u.a.m. Man sieht also, dass es nicht vorrangig
deutschsprachige Autoren waren, die diesen so wesentlichen Theaterstil der
europäischen Moderne geprägt haben. Allerdings blieb das Absurde nicht ohne
Einfluss auf die deutschsprachige Dramenschreibung. Der bereits erwähnte
Literaturwissenschaftler Martin Esslin findet in den Stücken von Max Frisch und
Friedrich Dürrenmatt Elemente des Absurden, wohl mit Recht. Frisch gestaltet zwar in BIEDERMANN UND DIE
BRANDSTIFTER noch eine „Fabel“, aber sie wirkt surreal, und Dürrenmatt hat nicht
nur in seinen Stücken grotesk-absurde Gestaltungsmittel eingesetzt,
sondern er hat auch in seiner
Dramentheorie sein Theater auf das Groteske verpflichtet, da er es als
angemessene künstlerische Reaktion auf eine Welterfahrung betrachtet, deren
bestimmende Elemente Unübersichtlichkeit und Sinnlosigkeit sind.
Als
Hauptrepräsentant deutschsprachiger absurder Dramatik gilt Wolfgang
Hildesheimer. In seinem Stück LANDSCHAFT MIT FIGUREN zeigt Hildesheimer zum
Beispiel, wie ein Maler durchschnittliche Menschen porträtiert. Diese Menschen
werden dadurch zu Greisen, als solche in Kisten verpackt und an Sammler
verkauft. Über Hildesheimer hinaus blieb die Erfahrung des Absurden im
deutschsprachigen Raum auch bei anderen Autoren wirksam. Die Stücke Thomas
Bernhards sind wohl ohne die Tradition des Absurden nicht denkbar.
Quelle: Christian Schacherreiter: „Man muss nur
Aug und Ohren dafür haben. Warum Theater so faszinierend ist“, Band 2, Linz:
Grosser 1999, S. 67-78 (Das Buch ist nicht mehr im Handel erhältlich)
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