"Warten auf Godot" und das absurde Drama (Interpretation)

Warten auf Godot

Die Zuschauer sehen eine leere Landstraße. Am Straßenrand steht ein kahler Baum. Der Mann auf der Bühne versucht einen Schuh auszuziehen. Ein zweiter Mann kommt dazu. Die Kleidung der beiden weist sie als soziale Randexistenzen aus, möglicherweise als Landstreicher. Man erfährt, dass Estragon - so der Name des einen Mannes - die letzte Nacht in einem Straßengraben verbringen musste und dass er verprügelt wurde. Estragon und Wladimir sind hierher gekommen, weil sie sich mit jemandem verabredet haben. Wladimir ist allerdings nicht ganz sicher, ob sie mit dem Unbekannten wirklich für diesen Tag verabredet sind. Waldimir und Estragon warten also. Die Gegenwart ist für den Wartenden eine sinnlose Zeit, denn das, was dem Dasein des Wartenden Sinn gibt, liegt ja in der Zukunft. Im Falle der beiden Landstreicher besteht der Sinn im Eintreffen eines gewissen Herrn Godot, von dem der Zuschauer so viel wie nichts erfährt, von dem aber auch Wladimir und Estragon offensichtlich nichts Genaues wissen.  Ihre Unsicherheit veranlasst die beiden Wartenden sogar dazu, einen Selbstmord in Erwägung zu ziehen. Sie könnten sich zum Beispiel erhängen, aber auch dieser Selbstmord ist eine unsichere Sache. Den leichten Estragon würde der Ast wahrscheinlich aushalten, aber unter der Last des schweren Wladimir könnte er brechen. Estragon wäre tot, Wladimir bliebe einsam zurück. Nicht auszudenken! Sie entscheiden sich dazu weiterzuleben. Uns sie entscheiden sich zu warten; zu warten auf Godot, von dem man nichts Genaues weiß.
Zwei weitere Figuren betreten die Bühne. Estragon hofft, dass einer der beiden Godot ist, aber seine Hoffnung erfüllt sich nicht. Die beiden Ankömmlinge heißen Pozzo und Lucky. Pozzo ist ein Herrenmensch, ein brutaler Ausbeuter und Sklaventreiber. Er führt seinen Sklaven Lucky an einer Leine, demütigt und misshandelt ihn. Auf Pozzos Veranlassung muss Lucky vortanzen und vordenken. Das „Vordenken“ besteht in einem endlos scheinenden Monolog, in dem Lucky Bildungs- und Wissensfragmente zusammenhanglos aneinanderreiht. Er präsentiert eine Art Müllhalde des Denkens. Gewaltsam muss der schier unendliche Gedanken- und Sprachstrom des merkwürdigen Sklaven unterbrochen werden. Pozzo und Lucky ziehen weiter, denn Pozzo will seinen Sklaven auf dem Salvator-Markt verkaufen. Estragon und Wladimir bleiben zurück, aber sie bleiben nicht lang allein. Ein Knabe tritt auf. Er ist ein Bote Godots und meldet, dass Herr Godot heute nicht mehr kommen wird, sondern erst morgen. „Gehen wir,“ sagen die Landstreicher, aber sie bleiben. Der Vorhang fällt. Ende des ersten Akts.
 Am Beginn des 2.Akts ist eine kleine Veränderung zu beobachten. Der Baum am Straßenrand ist ein wenig belaubt. Wladimir tritt auf und versucht sich mit wenig Erfolg als Sänger. Das Lied Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei, das er anstimmt, will ihm nicht so recht gelingen. Estragon betritt nun auch die Bühne. Um sich die Zeit bis zu Godots Eintreffen zu vertreiben, ersinnen die beiden Spiele, das Streit-Spiel, das Vertragens-Spiel, das Höflichkeits-Spiel, das Mutter-Kind-Spiel u.a.m. Unter anderem imitieren sie Pozzo und Lucky. Der Herrenmensch und sein Sklave kommen auch selbst noch einmal auf die Bühne. Sie haben sich verändert. Pozzo ist blind geworden und Lucky stumm. Pozzo fällt immer wieder hin und fleht um Hilfe. Nach langwierigen Bemühungen gelingt es Estragon und Waldimir endlich, Pozzo wiederaufzurichten. Gemeinsam mit Lucky stolpert er davon.
Schließlich erscheint wieder Godots Bote. Herr Godot, so meldet der Knabe, kommt heute nicht mehr, aber morgen. Estragon und Wladimir überlegen angesichts dieser Botschaft, ob nicht doch der Selbstmord durch Erhängen die angemessene Reaktion wäre. Aber Estragons Hosenschnur, die zum Einsatz kommen soll, reißt schon bei der ersten Belastungsprobe. Sie werden also weiterleben und morgen wiederkommen. „Gehen wir?“ fragt Wladimir. „Gehen wir“, sagt Estragon, aber sie bleiben stehen - und der Vorhang fällt.

Samuel Beckett, ein Klassiker der Moderne

WARTEN AUF GODOT ist das bekannteste Stück des irischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Samuel Beckett (1906-1989) und wahrscheinlich das repräsentative Beispiel moderner Dramatik schlechthin. Beckett wuchs in Dublin auf, kam in den späten Zwanziger Jahren nach Paris, wo er seinen berühmten Landsmann James Joyce kennen lernte und Zugang zur avantgardistischen Kunstszene fand. In den Dreißiger Jahren übersiedelte Beckett endgültig nach Paris und beteiligte sich während des Krieges am französischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Beckett hatte als Philologe und Übersetzer einen sehr guten Namen. Die Möglichkeit einer Karriere als Wissenschaftler schlug er allerdings zugunsten seiner literarischen Arbeit aus. Zwischen 1938 und 1952 erschienen Becketts Romane MURPHY, WATT, MOLLOY und MALONE STIRBT. In diesen Prosawerken wandte sich Beckett von der üblichen Romantradition ab, das heißt vor allem, dass er auf kausale Handlungszusammenhänge, auf Eindeutigkeit der Sprache und auf psychologischen Realismus verzichtete. Die befremdliche Welt, die Beckett in seiner Prosa gestaltete, findet man auch in seinen Bühnenwerken. WARTEN AUF GODOT zeigt dies mit aller Deutlichkeit.

Wer ist Godot? Und andere aussichtslose Fragen

Die Ratlosigkeit, die Becketts rätselhaftes Stück vorerst einmal auslöst, hat natürlich zu vielen Deutungs- und Erklärungsversuchen geführt. Endlos ist die Zahl der Interpretationen; teilweise stimmen sie überein, teilweise ergänzen sie, teilweise widersprechen sie einander. Geläufige und im wesentlichen anerkannte  Deutungen sehen in der Bühnenexistenz von Wladimir und Estragon ein gleichnishaftes Modell des modernen Lebens. Die beiden Landstreicher leben vor allem in der Hoffnung auf zukünftige Entwicklungen, in der Hoffnung auf die Begegnung mit Godot. Was Sinn hat, liegt für sie in der Zukunft. Die Gegenwart erleben sie daher nur als Wartende. Eine Gegenwart ohne Zukunft, das augenblickliche Dasein als solches hat daher keinen Sinn. Wladimir und Estragon füllen sie mit unerheblichen Sätzen und unerheblichen Handlungen. Es geht ja nur darum, die Leere zu füllen, die durch das Warten auf Godot entsteht.
Wäre nun klar, was Estragon und Wladimir von der Begegnung mit Godot zu erwarten haben, dann könnte die Wartezeit tatsächlich als unerhebliche Übergangsfrist akzeptiert werden. Die verstörende Wirkung des Stücks beruht aber vor allem darauf, dass nicht einmal Wladimir und Estragon wissen, wer Godot ist und was sie von ihm zu erwarten haben. Vielleicht ist das Warten als solches eine Torheit. Vielleicht endet es mit einer Katastrophe. Ja, es ist nicht einmal sicher, ob Godot tatsächlich existiert. Vielleicht ist der Knabe, der sich als Bote ausgibt, nur ein Betrüger, ein Schlitzohr, das sich am sinnlosen Warten der beiden Landstreicher delektiert. Die Interpreten haben verschiedene Versuche unternommen, etwas mehr Klarheit über diese unbekannte Figur Godot zu bekommen. Vor allem wurde überprüft, ob Godot vielleicht kein anderer als Gott selbst ist, ob also das Warten der beiden Landstreicher die Folge einer religiösen Erlösungssehnsucht ist. Einzelne Hinweise aus dem Kontext und auch im Text scheinen diese These zu stützen. Der Knabe bejaht zum Beispiel Wladimirs Frage, ob Herr Godot einen Bart habe, wahrscheinlich einen weißen Bart, fügt er hinzu. Man fühlt sich dadurch natürlich an naive Gottesdarstellungen in Kinderbüchern erinnert. So könnte man in Wladimirs und Estragons Warten die Situation des modernen Menschen wiedererkennen, der jedes klare Bild von Gott, jede Gottesgewissheit überhaupt verloren hat, der aber doch nicht aufhören kann, sich nach dem Göttlichen zu sehnen, nach dem Göttlichen, das ihn erlöst und sein mangelhaftes, kleines Dasein in einen anderen Zustand der Vollkommenheit transformiert. Tatsache ist, dass Erwartung, Hoffnung und Sehnsucht die menschlichen Gefühle sind, die Wladimirs und Estragons Bühnenleben grundlegend prägen. Ob der Gegenstand ihres Sehnens und Hoffens nun Gott genannt wird oder Glück oder Erlösung (oder eben Godot) scheint nebensächlich zu sein, eine rein pragmatische Frage der sprachlichen Benennung, und nicht eine Frage der existentiellen menschlichen Erfahrung.
Ein weiterer Aspekt der Interpretation ist die Funktion des Paares Lucky-Pozzo im Gesamtzusammenhang des Werks. Lucky und Pozzo warten nicht auf Godot. Sie leben ein gegenwartsbezogenes Leben als Herr und Knecht. Aber dieses Leben scheint nicht besser zu sein als das von Wladimir und Estragon. Erstens beruht ihr Verhältnis zueinander auf Unterdrückung und Ausbeutung, zweitens verschlechtert sich ihre Lage im Verlauf des Stücks. Pozzo wird blind, Lucky stumm. Im zweiten Akt taumeln sie ziel- und planlos über die Bühne, nur durch die Macht der Gewohnheit aneinander gekettet. Die Beziehung zwischen Wladimir und Estragon steht dazu in einem positiven Kontrast. Auch wenn ihr Ziel äußerst abstrakt, ja vielleicht sogar illusionär ist, so gibt es ihrem Dasein doch Richtung und Halt und ihrem Zusammensein ein Fundament. So sinnlos ihre Lebens-Spiele erscheinen mögen, Wladimir und Estragon haben auch Spaß daran, und die Qualität ihrer Freundschaft zeigt sich in durchaus berührenden Augenblicken der Zuneigung, in denen sie beinahe zärtlich Didi und Gogo zueinander sagen.
Wie auch immer WARTEN AUF GODOT interpretiert werden mag, das Stück berührt anscheinend die Menschen auf eine schwer erklärbare Art. Die Uraufführung wurde zu einem sensationellen Erfolg. Im kleinen Pariser Theatre de Babylone, das mittlerweile längst nicht mehr existiert, wurde WARTEN AUF GODOT 400 mal aufgeführt In zwanzig Sprachen wurde es übersetzt, und in den ersten fünf Jahren nach der Uraufführung sahen es mehr als eine Millionen Zuschauer. Das ist für avantgardistisches Theater eine geradezu märchenhaft hohe Zahl.

Endspiel

Neben WARTEN AUF GODOT ist ENDSPIEL (UA 1957) Becketts bekanntestes Stück. Das Bühnengeschehen - sofern man überhaupt von einem „Geschehen“ sprechen kann - löst beim Zuschauer weitgehende Ratlosigkeit aus. Die Bühne zeigt einen geschlossenen Raum. Anscheinend ist eine elementare Katastrophe passiert, die alles Leben außerhalb dieses Raums ausgelöscht hat. Allerdings ist es auch möglich, dass sich die vier Bühnenfiguren nur einbilden, es wäre derartiges geschehen. Die Figuren, die als vermutlich letzte Überlebende auf engstem Raum zusammenleben, sind Hamm, ein an den Rollstuhl gefesselter Blinder, sein Diener Clov, der nicht sitzen kann, und Hamms alte Eltern Nell und Nagg, die nach einem Tandem-Unfall ihre Beine verloren haben und nun in zwei Mülltonen leben. ENDSPIEL hat, ähnlich wie WARTEN AUF GODOT, keine eigentliche Handlung, gezeigt wird ein Zustand, der sich bis zum Schluss nicht verändert. Clov wird von Hamm unterdrückt. Die Beziehung zwischen den beiden gleicht der von Pozzo und Lucky. Clov bleibt aber bei seinem Herrn, weil er von dessen Essensvorräten abhängig ist. Ohne Hamm kommt Clov nicht in die Speisekammer, und Hamm muss von Clov gefüttert werden. Die beiden sind also aufeinander angewiesen. Die Mülltonnen, in denen Hamms Eltern wohnen, werden gelegentlich geöffnet. Nell und Nagg plaudern dann miteinander. Nagg erzählt seiner Frau immer wieder dieselbe Geschichte, über die sie  vor vielen Jahren einmal lachen musste. Clov wirft Hanmm vor, den Tod von Mitmenschen verschuldet zu haben. Hamm erzählt hingegen eine Geschichte, der man entnehmen könnte, dass Clov als kleiner Junge von Hamm aufgenommen und damit vor dem Tod gerettet worden ist. Irgendwann einmal stirbt Nell, aber ihr Tod führt keine Änderungen herbei. Aufgebrochen wird die statische Situation erst, als Clov aus dem Fenster schaut und einen Überlebenden erblickt, einen  kleinen Jungen. Nun spürt Hamm, dass sein Ende gekommen ist. Die Kausalzusammenhänge zwischen Hamms Ende und dem Auftauchen des Jungen bleiben freilich ungeklärt. Hamm sagt aber zu Clov, dass er ihn jetzt nicht mehr brauche. Tatsächlich packt Clov seine Sachen und erscheint im Mantel, mit Schirm und Reisetasche. Allerdings bleibt er - ähnlich wie Estragon und Wladimir - im Raum stehen. Und der Vorhang fällt.
Ähnlich wie WARTEN AUF GODOT wurde auch ENDSPIEL auf unterschiedliche und kontroversielle Weise interpretiert und diskutiert. Dass Einsamkeit und Angst, Sinn- und Orientierungslosigkeit wesentliche Motive sind, ist nachvollziehbar. Ein Interpret verstieg sich aber auch zu der schwer haltbaren Auffassung, dass Beckett mit der Beziehung Clovs zu Hamm eine Parabel seiner Beziehung zum Vorbild James Joyce geschaffen habe. Und ein anderer deutete ENDSPIEL als Monodrama. Die Figuren wären demzufolge nur unterschiedliche innere Stimmen einer Figur, die Bühne das Seeleninnere eines Protagonisten: Clov repräsentiert den Intellekt dieser Figur, Hamm die Emotion und Nell und Nagg das verdrängte Unterbewusste.
Der Literaturwissenschaftler Martin Esslin hat davor gewarnt, Becketts Stücke durch besonders eingehende Erklärungen auf den einen verborgenen Sinn hin zu untersuchen. Das kann nur schiefgehen. Becketts Dramen sind nicht im üblichen Sinne nacherzählbar und auf eine verbindliche Botschaft zu verpflichten. Sie beruhen auf Bildern, die so faszinierend sind wie Traumbilder, aber ebenso rätselhaft und vieldeutig. Rätselhaftigkeit und Vieldeutigkeit sind eben grundlegende Eigenschaften jenes avantgardistischen Theaters, das durch den Namen Samuel Beckett in hervorragender Weise repräsentiert wird, und für das man den Begriff „absurdes Theater“ geprägt hat.

Absurdes Theater - Antwort auf eine absurde Welt ?

Das lateinische Wort „absurdus“ ist eine Kontamination aus „absonus“ (misstönend) und surdus (taub, schwer verstehend). „Absurd“ bedeutet im deutschen Sprachgebrauch widersinnig, ungereimt.  Wenn etwas ad absurdum geführt wird, dann wird seine Unvereinbarkeit mit den Regeln des Verstandes nachgewiesen.
Als wichtiger Wegbereiter des Absurden auf europäischen Bühnen gilt Alfred Jarrys Farce UBU ROI (UA 1896), ein „Königsdrama“, das mit den Konventionen der klassischen Tragödie bricht und das hohe Drama zur Posse erniedrigt. Ubu ist ein Anti-König, ein launischer, verfressener, geiler Tyrann, der den Hass aller auf sich zieht und eine Revolte auslöst, der er aber entkommen kann. Ubu ist aber nicht nur der dekadente Monarch, er ist auch eine Karikatur auf den Spießbürger und damit auch die Verkörperung menschlicher Schwäche und Amoral. Das Stück löste bei der Uraufführung einen Theaterskandal aus. Ein weiterer Pionier des absurden Dramas ist Antonin Artaud, der 1926 in Paris das Theater „Alfred Jarry“ gründete. Im Grundsatzprogramm konnte man folgendes lesen: „Das Thèatre Alfred Jarry ist geschaffen worden in Reaktion gegen das Theater und um dem Theater jene totale Freiheit wiederzugeben, wie sie in der Musik herrscht, in der Poesie oder der Malerei, und die ihm bisher seltsamerweise vorenthalten war(...)Wir fassen das Theater als einen magischen Prozeß auf. Wir sprechen nicht die Augen an, noch die direkte Erregung der Seele; was wir zu erzeugen versuchen, ist eine gewisse psychologische Erregung, in der die geheimsten Triebfedern des Herzens bloßgelegt werden.“
Artauds Auffassung vom Theater steht im geistigen Zusammenhang mit dem Dadaismus, jener auf völliger poetischer Freiheit bestehenden Kunstströmung, die dem Zweckdenken und der Vernunft ein irrational-anarchisches Kunst- und Lebenskonzept entgegensetzte.  Artaud setzte sich mit seinem Anliegen nur teilweise durch und hatte auch unter den Anhängern der DADA-Bewegung Gegner. 1948 starb er, krebskrank, opiumsüchtig, vereinsamt. Was er und andere Dadaisten in der Zwischenkriegszeit begonnen hatten, war aber nicht mehr auszulöschen, die Faszination des Absurden. Gewiss ist dies auch aus den geschichtlichen Verhältnissen zu erklären. Die erste Hälfte des 20.Jahrhunderts war von zwei furchtbaren Kriegen und von der Entstehung brutaler Diktaturen geprägt. Daß Künstler und Philosophen angesichts solcher Zustände behaupteten, dass das Leben auf diesem Planeten vernunftwidrig, chaotisch und furchterregend sei, ist wohl nicht allzu verwunderlich. Millionen starben auf den Schlachtfeldern, weitere Millionen in den menschenverachtenden Lagern rechter und linker Diktaturen. Scheinbar Festgefügtes zerfiel, scheinbar Wichtiges war bedeutungslos geworden, Pläne der Menschen wurden von einem Tag auf den andern null und nichtig - und kein Gott nahm sich um diesen Planeten an, den der österreichische Schriftsteller Gerhard Amanshauser einmal als ein längst aufgegebenes Experiment in irgendeinem Winkel des Weltalls bezeichnet hat.

Der fröhliche Steinewälzer

Das Gefühl der Absurdität, der Ungereimtheit, ja Sinnlosigkeit menschlichen Daseins ist eine nachvollziehbare Reaktion auf eine Zeit, die aus den Fugen geraten ist. Ein besonders einflussreicher Schriftsteller und Philosoph, der dieses Gefühl zu benennen und exemplarisch auszuführen wusste, war der Franzose Albert Camus. In seinem Werk DER MYTHOS VON SISYPHOS deutete er die Existenz des modernen Menschen als Sisyphos-Schicksal. Die Sisyphos-Figur der antiken Sage ist dazu verurteilt, einen Stein auf einen Berg zu wälzen. Bevor Sisyphos die Spitze erreicht, rollt der Stein wieder nach unten, und Sisyphos muss sein Werk von vorn beginn en. So sieht also Camus den Menschen des 20.Jahrhunderts.  Ein Grund zur Verzweiflung? Zum Selbstmord? Möglicherweise; es gibt aber eine Alternative, und Camus zeigt sie auf: Für seinen Sisyphos wird das Wälzen des Steins zum Lebenssinn.  Er verabschiedet sich also vom Ziel, das ohnehin unerreichbar bleibt, und erklärt den Weg zum Ziel, also zur eigentlichen, zur sinngebenden Aufgabe.
Im Zusammenhang mit Camus’ Philosophie - er starb übrigens 1957 bei einem sinnlosen Verkehrsunfall - entwickelte sich der europäische Existentialismus, dessen zweiter großer geistiger Vater auch ein Franzose war: Jean-Paul Sartre. Der Existentialismus zeichnet ein ernüchterndes Menschenbild. Der Einzelne ist frei im negativen Sinn des Wortes. Befreit von Gott und der Einbindung in seinen Schöpfungsplan wird der Mensch auf sich selbst zurückverwiesen, auf sein unvollkommenes, letztlich undurchschaubares, gefährdetes Leben, mit dem er verfahren kann, wie er will, beziehungsweise so, wie es die Welt, in die er sich begibt, zulässt.
Im geistigen Umfeld dieser Philosophie des Absurden wird auch das Theater des Absurden  besser verständlich. Die Voraussetzung des absurden Dramas, sagt Reiner Poppe, ist nämlich, dass die Welt als absurd erkannt wird.  Logisch-kausale Handlungszusammenhänge werden in diesen Spielhandlungen daher nicht mehr konstruiert, weil sie keine Entsprechungen in der Wirklichkeit haben. Nicht Bühnengeschichten werden erzählt, sondern Zustände gezeigt. Die Angst vor der Leere, die Erfahrung der Ausweglosigkeit, die Einsamkeit der Figuren, die oft aneinander vorbeireden, sind wesentliche Elemente des absurden Dramas; ebenso wie das Rätselhafte und Surreale, das Lächerliche und Groteske, das ein ambivalentes, bitter-befreites Lachen auslöst.

Absurdität auf deutschsprachigen Bühnen

Wesentliche Vertreter des absurden Theaters waren neben dem schon erwähnten Samuel Beckett Jean Tardieu, Boris Vian, Eugene Ionesco, Jean Genet, Fernando Arrabal, Herold Pinter, Edward Albee u.a.m. Man sieht also, dass es nicht vorrangig deutschsprachige Autoren waren, die diesen so wesentlichen Theaterstil der europäischen Moderne geprägt haben. Allerdings blieb das Absurde nicht ohne Einfluss auf die deutschsprachige Dramenschreibung. Der bereits erwähnte Literaturwissenschaftler Martin Esslin findet in den Stücken von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt Elemente des Absurden, wohl mit Recht.  Frisch gestaltet zwar in BIEDERMANN UND DIE BRANDSTIFTER noch eine „Fabel“, aber sie wirkt surreal, und Dürrenmatt hat nicht nur in seinen Stücken grotesk-absurde Gestaltungsmittel eingesetzt, sondern  er hat auch in seiner Dramentheorie sein Theater auf das Groteske verpflichtet, da er es als angemessene künstlerische Reaktion auf eine Welterfahrung betrachtet, deren bestimmende Elemente Unübersichtlichkeit und Sinnlosigkeit sind.
Als Hauptrepräsentant deutschsprachiger absurder Dramatik gilt Wolfgang Hildesheimer. In seinem Stück LANDSCHAFT MIT FIGUREN zeigt Hildesheimer zum Beispiel, wie ein Maler durchschnittliche Menschen porträtiert. Diese Menschen werden dadurch zu Greisen, als solche in Kisten verpackt und an Sammler verkauft. Über Hildesheimer hinaus blieb die Erfahrung des Absurden im deutschsprachigen Raum auch bei anderen Autoren wirksam. Die Stücke Thomas Bernhards sind wohl ohne die Tradition des Absurden nicht denkbar.


Quelle: Christian Schacherreiter: „Man muss nur Aug und Ohren dafür haben. Warum Theater so faszinierend ist“, Band 2, Linz: Grosser 1999, S. 67-78 (Das Buch ist nicht mehr im Handel erhältlich)

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