Der gute Mensch von Sezuan (Interpretation)


BERTOLT BRECHT

DER GUTE MENSCH VON SEZUAN

 


 

1. Handlungsverlauf und szenische Gliederung

 
Vorspiel: Eine Straße in der Hauptstadt von Sezuan

 Der Wasserverkäufer Wang erzählt von der großen Armut in der Stadt. Nur mehr die Götter, so hört man, könnten in der ausweglosen Situation helfen. Wang erwartet sie schon seit drei Tagen. Nun treffen sie ein. Der Wasserverkäufer erkennt sie daran, dass sie wohlgenährt sind, Staub an den Schuhen haben, sonst aber keinerlei Anzeichen regelmäßiger Beschäftigung aufweisen. Er sucht für die Götter ein Nachtquartier, findet aber niemanden, der bereit wäre, die drei Reisenden aufzunehmen. Nur die Prostituierte Shen Te, die selbst erhebliche materielle Probleme hat, ist bereit, auf einen Freier zu verzichten, um den Göttern ein Nachtlager bieten zu können. Die Götter sehen nun in Shen Te jenen „guten Menschen“, nach dem sie suchen, d.h. den Menschen, der unabhängig von materiellen und sozialen Umständen selbstlos, freundlich und hilfsbereit ist. Als Dank für ihre Hilfsbereitschaft schenken die Götter Shen Te eine große Geldsumme, damit sie es etwas leichter hat, gut zu sein. Dann ziehen die Götter weiter.

 1.Szene: Ein kleiner Tabakladen

 Shen Te hat sich mit dem Geld der Götter einen Tabakladen gekauft und meint, sie könne durch ihren kleinen Besitz anderen Menschen Gutes tun. Tatsächlich finden sich sofort Hilfsbedürftige ein. Ihre ehemaligen Wirtsleute, die mittlerweile obdachlos sind, bitten um eine Unterkunft. Bald folgt dem Ehepaar die Großfamilie nach, um sich bei ShenTe einzunisten. Der Schreiner verlangt 100 Silberdollar für die Regale, die er für den Laden gebaut hat. Shen Te ahnt bereits, dass die Kapazitäten ihres kleinen Geschäfts nicht reichen, um allen zu helfen, die Hilfe brauchen. Bereits in der 1.Szene wird der fiktive Vetter Shui Ta erfunden. Shen Te braucht nämlich für den Abschluss des Kaufvertrags einen Bürgen. Da sie keinen hat, erfindet sie auf den Rat ihrer ehemaligen Wirtsleute hin einen Vetter, der diese Rolle übernehmen kann.

 Zwischenspiel: Unter einer Brücke

Die abreisenden Götter setzen Wang davon in Kenntnis, dass sie in Shen Te einen Menschen gefunden hätten, der ihren Vorstellungen vom Gutsein entspricht. Sie machen sich nun auf die Suche nach weiteren guten Menschen.

 2.Szene: Der Tabakladen

 Die Situation im Tabakladen ist für Shen Te aufgrund der vielen Leute, die ihre Hilfe fordern, unerträglich geworden. Der Vetter Shui Ta muss erscheinen. Er wirft die Obdachlosen mit Polizeihilfe aus dem Laden und handelt die Rechnung des Schreiners mit fragwürdigen Mitteln von 100 auf 20 Silberdollar herunter. Nur der Forderung der Hausbesitzerin, die Miete für ein halbes Jahr im Voraus zu bezahlen, steht auch Shui Ta machtlos gegenüber. Ein Geldgeber muss gefunden werden. Für Shen Te wird per Inserat ein kapitalkräftiger Mann gesucht: „Welcher ordentliche Mann mit kleinem Kapital, Witwer nicht ausgeschlossen, wünscht Einheirat in aufblühendes Tabakgeschäft?“

 3.Szene: Abend im Stadtpark

Shen Te will sich mit einem reichen Witwer treffen, der auf das Inserat geantwortet hat. Sie begegnet im Stadtpark dem arbeitslosen Flieger Sun, der Selbstmord begehen will. Er findet keine passende Anstellung, weil er nicht die nötigen Mittel hat, um  das Schmiergeld zu bezahlen.

 Zwischenspiel: Wangs Nachtlager in einem Autowrack

Die Götter erscheinen Wang im Traum. Er berichtet ihnen, dass Shen te wegen ihrer Wohltaten „Engel der Vorstädte“ genannt wird. Von Shui Ta’s Verhalten sind sie allerdings nicht begeistert. Wangs Einwand, der Vetter sei eben ein guter Geschäftsmann, begegnen sie verständnislos. Um Geschäfte ginge es doch nicht, sondern um den guten Menschen.

 4.Szene: Platz vor Shen te’s Tabakladen

 Frau Yang, die Mutter des arbeitslosen Fliegers Sun, erzählt Shen te, dass ihr Sohn 500 Silberdollar für eine Schmiergeldzahlung braucht. So könnte er eine Stelle als Flieger bekommen. Shen te gibt ihr sogleich 200 Silberdollar, die sie sich soeben geliehen hat, um die eigene Miete bezahlen zu können. Die fehlenden 300 Silberdollar will sie von ihrem Vetter Shui Ta besorgen lassen.

 Zwischenspiel: Vor dem Vorhang

 Shen Te zieht die Kleider des Shui Ta an.

 5.Szene: Der Tabakladen

Sun verbirgt vor Shui Ta nicht, dass Shen Te für ihn vor allem als Finanzquelle interessant ist. ShenTe/Shui Ta, die sich in Sun verliebt hat, ist bestürzt. Als nun der reiche Barbier Shu Fu um Shen Te wirbt, versichert ihm Shui Ta, dass sich seine Cousine mit ihm treffen werde. Shu Fu will die vielen Armen, um die sich Shen Te annimmt, in seinen Baracken hinter dem Viehhof unterbringen. Aber als der Vetter wieder in das Mädchen Shen Te verwandelt ist, erliegt sie erneut der Verführung des Fliegers Sun und folgt dem, den sie liebt, bedingungslos.

Zwischenspiel: Vor dem Vorhang

 Shen Te ist auf dem Weg zur Hochzeit mit Yang Sun. Sie hofft, dass Sun ihr die 200 Dollar zurückgeben wird, denn der alte Mann, von dem sie das Geld geliehen hat, ist aus Sorge um seine möglicherweise verlorene Barschaft krank geworden.

 6.Szene: Nebenzimmer eines billigen Restaurants in der Vorstadt

 Die Hochzeitsgesellschaft hat sich versammelt. Nur Shui Ta fehlt noch. Shen Te kann Sun nicht dazu bewegen, ihr die 200 Silberdollar zurückzuzahlen. Im Gegenteil, er besteht darauf, auch noch die restlichen 300 zu bekommen, die ihm für die geforderte Schmiergeldsumme fehlen. Er will aus diesem Grund mit Shui Ta reden, denn der wird, so meint Sun, einsehen, dass es dumm wäre, auf die Stelle als Flieger zu verzichten. Aber Shui Ta kommt nicht, und die Trauung findet nicht statt.

 Zwischenspiel: Wangs Nachtlager

 Die Götter erscheinen Wang zum zweiten Mal im Traum. Der Wasserverkäufer gibt den Göttern zu bedenken, dass Shen Te möglicherweise zu gut ist für diese Welt. Aber die Götter weisen Wangs Einwand entschieden zurück, obwohl sie selbst immer wieder auf ihrer Reise erleben müssen, dass kein Mensch gut sein und gleichzeitig ein menschenwürdiges Leben führen kann.

 7.Szene: Hof hinter Shen Te’s Tabakladen

 Der Barbier Shu Fu hat gehört, dass Shen Te von ihrem Bräutigam verlassen worden ist und dass ihr Tabakladen ruiniert ist. Er ist berührt vom selbstlosen Handeln des „Engels der Vorstädte“ und überreicht Shen Te einen Blankoscheck, den diese aber nicht einlösen will. Der Wasserverkäufer Wang bringt ein hungerndes Kind zu Shen Te. Es handelt sich um das Kind jenes Schreiners, der von Shui Ta ruiniert worden ist. Die Familie ist mittlerweile obdachlos geworden. Shen Te ist mittlerweile selbst schwanger. Angesichts des hungernden Kindes ist sie fest entschlossen, ihr eigenes Kind niemals hungern zulassen. Um ihm ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, wir sie lieber künftig allen anderen „Tiger und wildes Tier“ sein. Noch einmal verwandelt sie sich in Shui Ta und löst den Scheck des Herrn Shu Fu über 10 000 Silberdollar ein. Shui Ta weist nun den bettelnden Armen und Obdachlosen einen neue Rolle zu. Ohne Gegenleistung soll ihnen nicht mehr geholfen werden. Sie sollen in den Baracken des Herrn Shu Fu, die mit dem nun verfügbaren Investitionskapital zur Tabakfabrik gemacht werden, arbeiten. Dafür können sie dort wohnen.

8. Szene: Shui Ta’s Tabakfabrik

 Einige Monate sind vergangen. Von Frau Yang erfährt das Publikum, was mittlerweile passiert ist. Shui Ta’s Tabakmanufaktur funktioniert. Man nennt ihn den Tabakkönig von Sezuan. Die Menschen arbeiten in der Fabrik unter miserablen Bedingungen. Yang Sun ist von Shui Ta wegen gebrochenen Eheversprechens und wegen Erschleichung von 200 Silberdollar angezeigt worden. Sun musste sich, um der Strafe zu entgehen, als Arbeiter in der Fabrik Shui Ta’s anstellen lassen. Mittlerweile hat er es dort zum Aufseher gebracht. Aus dem gleichnishaften „Lied vom achten Elefanten“ erfährt man, dass er mit besonderer Brutalität zu Werke geht und bei den anderen Arbeiterinnen und Arbeitern verhasst ist.

 9.Szene: Shen Te’s Tabakladen

 Shen te ist mittlerweile im siebten Monat schwanger; sie tritt nur mehr in der Rolle des Shui Ta auf, und die Menschen werden misstrauisch. Unter der Führung Suns fordert eine aufgebrachte Menschenmenge, man müsse das Verschwinden Shen Te’s polizeilich untersuchen. Sun versichert, er habe im Raum hinter dem Tabakladen jemanden schluchzen gehört. Als dort ein Bündel mit Shen Te’s Kleidung gefunden wird, steht Shui Ta unter dem Verdacht, er habe seine Cousine verschwinden lassen. Er wird festgenommen

 Zwischenspiel: Wangs Nachtlager

 Die Götter erscheinen wieder dem schlafenden Wang. Sie sind mittlerweile ziemlich mitgenommen von ihrer Reise und obendrein deprimiert, weil sie nirgendwo einen guten Menschen gefunden haben. Umso wertvoller ist für sie Shen Te, aber sie müssen von Wang erfahren, dass der „Engel der Vorstädte“ verschwunden ist.

 10.Szene: Gerichtslokal

 Gegen Shui Ta ist Anklage erhoben worden. Er wird verdächtigt, Shen Te ermordet zu haben. Die drei Götter sind zur Verhandlung zurückgekehrt, haben den eigentlichen Richter handlungsunfähig gemacht und selbst den Vorsitz übernommen. Shui Ta ist bereit auszusagen, wenn man ihn mit den drei Richtern/Göttern allein lässt. Nun erklärt Shen Te/Shui Ta ihren Konflikt. Es war ihr nicht möglich gut zu sein und gleichzeitig menschenwürdig zu überleben. Die Götter sind ratlos und beschönigen die Realität. Sie entschwinden auf einer rosafarbenen Wolke. Der verzweifelten Shen Te gestatten sie, einmal im Monat Shui Ta zu Hilfe zu holen.

 Epilog

 Ein Schauspieler wendet sich mit einer Entschuldigung an das Publikum. Das Stück sei nun aus, der Vorhang zu, aber alle Fragen seien offen. Das Publikum selbst soll einen Stückschluss, also eine Lösung des vorgetragenen Problems finden.

 

 
2. Aspekte der Interpretation

 
2.1 Shen Te/Shui Ta: Der gute Mensch in schlechter Gesellschaft

 Die Prostituierte Shen Te ist der einzige gute Mensch, den die Götter in der Provinz Sezuan finden. Dass sich Brecht ausgerechnet für eine Prostituierte als Hauptfigur entschieden hat, ist wohl nur teilweise dadurch zu erklären, dass gesellschaftliche Randgruppen in der Literatur der frühen Moderne des 20.Jhs., vor allem im Expressionismus, einen hohen Stellenwert hatten. Nicht wenige Künstler und Schriftsteller begaben sich damals in bohemehafte Opposition zur bürgerlichen Gesellschaft und vor allem zur spießbürgerlichen Moral. Der Bohemien als Randfigur der Gesellschaft sah sich in einer gewissen Nähe zu anderen Randfiguren, zu Kriminellen, Wahnsinnigen, Zuhältern, und eben zu Animierdamen und Prostituierten, die nicht nur thematisiert, sondern oft genug auch dämonisiert wurden. In seinen frühen Werken greift Brecht zwar ganz gern auf den Mythos des antibürgerlichen Außenseiters zurück, aber zur Entstehungszeit des „Guten Menschen“ war diese Tradition schon verblasst. Die Prostituierte Shen Te ist nicht mehr ein erotischer Dämon, sondern eine liebesfähige junge Frau, die gewiss auch gerne Liebe und Lust „verschenken“ und selbst genießen würde, die aber aufgrund der drückenden materiellen Situation dazu gezwungen ist, Lust als Ware zu verkaufen. Das Grundproblem des Stücks ist damit bereits mit der Profession der Protagonistin angesprochen.

 
Shen Te hat eine geradezu natürliche Vorliebe für Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Sie gilt als Person, die nicht nein sagen kann, wenn sie um etwas gebeten wird. Nie scheint ihre Hilfsbereitschaft die Folge eines moralischen Entschlusses zu sein, der ihr vielleicht sogar Selbstüberwindung abverlangen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Ob sie nun Obdachlose in ihrem Tabakladen schlafen lässt oder dem Flieger Sun Geld gibt, damit er endlich fliegen kann, geben und helfen scheinen für Shen Te spontane, natürliche Reaktionen zu sein. Und auch in ihrer Liebe zum Mann ist sie ohne jede Berechnung. Wohl wissend, dass Sun sie funktionalisiert, folgt sie nur ihrer Emotion: „Ich will mit dem gehen, den ich liebe./ Ich will nicht ausrechnen, was es kostet./ Ich will nicht nachdenken, ob es gut ist,/ Ich will nicht wissen, ob er mich liebt./ Ich will mit ihm gehen, den ich liebe.“ Dass Shen Te’s Güte in manchen Handlungszusammenhängen als „Dummheit“ gewertet werden kann, richtet sich nicht gegen die Protagonistin, sondern gegen eine Welt, die so eingerichtet ist, dass die liebevolle Handlung „dumm“ erscheinen muss, weil sich nur die Schlechtigkeit lohnt.

 
Gutsein, liebesfähig sein ist bei Shen Te geradezu ein Trieb, der aber immer wieder durch „Böses“ gezügelt werden muss, damit sie nicht an ihrer Güte zu Grunde geht. Gut und Böse sind zu einer dialektischen Einheit verurteilt. Die (materielle) Voraussetzung des Guten ist das Harte, Unerbittliche, und dafür ist Shui Ta zuständig. Er ist der Geschäftsmann, für den nur das zählt, was sich rechnet. Die Armen verfluchen ihn, während sie Shen Te zum „Engel der Vorstädte“ erhöhen. Sie durchschauen nicht, dass Shui Ta’s Teufelei die Grundlage für Shen Te’s Engelhaftigkeit bildet. Brecht macht dem Zuschauer spätestens im dritten Zwischenspiel mit aller Deutlichkeit klar, dass Shen Te und Shui Ta ein und dieselbe Person ist. Natürliche Identität und soziale Rolle der Protagonistin geraten in einen(zumindest innerhalb des Stücks) unlösbaren Widerspruch. Shen Te wird durch die Sozialisation ihrem sozialen Menschsein entfremdet. Diese Auffassung vom entfremdeten Menschsein unter kapitalistischen Verhältnissen entspricht zentralen Thesen des frühen Karl Marx. Im Zusammenhang mit der gesellschaftspolitischen Dimension des Stücks wird darauf zurückzukommen sein.

 
2.2 Fülle des Lebens - und zwar um jeden Preis: Die Figur des Yang Sun

 Von Shen Te’s Grundproblem, allzu freundlich, selbstlos und hilfsbereit zu sein, wird Yang Sun nicht gequält. Sun hat seine Leidenschaft, das Fliegen, zur Profession gemacht. Seiner Selbstdarstellung zufolge (3.Bild) ist er ein geradezu begnadeter Flieger. Und ließe man ihn das sein, was er sozusagen „naturgemäß“ ist, wär er wahrscheinlich ein im Grunde zufriedener und daher auch freundlicher Mensch. Sun war allerdings so naiv anzunehmen, dass sein beruflicher Erfolg ausschließlich von seinem fliegerischen Können abhängig sei. Als Sun erkennt, dass die Gesellschaft nicht „gerecht“ ist, d.h. in seinem Fall, dass sie nicht den kompetenten, sondern den zahlungsfähigen Mann an die geeignete Stelle setzt, stellt er sich sofort auf die moralisch fragwürdigen Mechanismen der ungerechten, korrupten Gesellschaft ein. Aufgrund seiner finanziellen Situation ist er allerdings vorerst nicht im Stande, den Hangarverwalter zu bestechen, und so ist Sun arbeitslos. Seine Liebe zur Fliegerei ist offensichtlich so stark, dass er trotz der schwierigen Umstände eine berufliche Alternative gar nicht in Erwägung zieht. Fliegen oder sterben! Als ihn Shen Te kennen lernt, will sich Sun gerade erhängen.

 
Um sein berufliches Ziel zu erreichen, ist Yang Sun letztlich jedes Mittel recht. Weder auf Shen Te’s Gefühle noch auf ihre materielle Sicherheit nimmt er Rücksicht. Durch den raschen Verkauf von Shen Te’s Tabakladen kann er in den Besitz jener 500 Silberdollar kommen, die er braucht, um den Hangarverwalter zu bestechen. Dass dieser dafür einen anderen Flieger entlassen muss, der eine große Familie hat, belastet Sun keinen Augenblick. Er hat auch nicht die geringsten Skrupel, Shen Te’s Liebe für seine beruflichen Ziele auszunützen. Ohne in sie verliebt zu sein, geht er mit ihr eine Beziehung ein, und er will sie sogar heiraten, weil es für ihn zweckmäßig ist. Die Verehelichung stellt für ihn aber keine Verpflichtung für die Zukunft dar. Sobald er im Besitz der Fliegerstelle ist, will er nach Peking gehen und Shen Te „vorläufig“ in Sezuan zurücklassen. Dass Suns Pläne scheitern und die von ihm schwangere Shen Te nicht zum Opfer seiner Karriere wird, ist nur dem Eingreifen Shui Ta’s zu verdanken. Letztlich landet Sun als Arbeiter in Shui Ta’s Tabakfabrik. Dort geht er genauso rücksichtslos vor wie beim gescheiterten Versuch, die Fliegerstelle in Peking zu bekommen. Er bringt es zum Aufseher und ist als Leuteschinder verhasst. Im „Lied vom achten Elefanten“ wird Suns Rolle in der Fabrik gleichnishaft ausgeführt. Dass Sun mit Erfolg dazu beiträgt, dass ein menschenverachtendes Produktionssystem möglichst gut funktionieren kann, wird von Frau Yang, seiner Mutter, so kommentiert: „Wir können Herrn Shui Ta wirklich nicht genug danken. Beinahe ohne jedes Zutun, aber mit Strenge und Weisheit hat er alles Gute herausgeholt, was in Sun steckte.“ Das „Gute“ wird hier definiert als Bereitschaft und Fähigkeit, im herrschenden System (unabhängig von dessen ethischer Qualtität) eine zufriedenstellende Position zu erreichen.

 
2.3 Ist der Mensch gut oder schlecht?

 Bemerkenswert ist, dass außer Shen Te keine Figur im Stück den Trieb verspürt „gut“ zu sein. Yang Sun, dessen Mutter, Frau Shin, die Hausbesitzerin Mi Tzü, die arme achtköpfige Familie - alle wollen überleben oder das Erreichte sichern oder besser leben, je nach finanzieller Ausgangsposition. Und sie haben keinerlei Hemmungen, anderen zu schaden, wenn sie sich selbst dadurch nützen können. Ihre Handlungsweise erscheint manchmal geradezu instinktiv auf das Überleben oder auf das bessere Leben ausgerichtet zu sein. Sogar Wang, der freundliche Wasserverkäufer, betrügt seine Kundschaft mit einem Trinkbecher, der einen doppelten Boden hat. Beachtenswert ist, dass die einzige zumindest punktuell selbstlos handelnde Figur außer Shen Te der reiche Barbier Shu Fu ist, der Besitzer der großen Lagerhallen, die er den Obdachlosen zur Verfügung stellt. Berührt von Shen Te’s altruistischem Verhalten übergibt er, der Großbürger, ihr auch noch einen Blankoscheck ohne Anspruch auf Gegenleistung.

 
Brechts Figurenzeichnung sollte nicht unbeachtet bleiben, wenn ein „Schluss“ angeboten werden, wie das ja vom Autor im Epilog gefordert wird. Angesichts des eher ernüchternden Menschenbildes, das sich nach der Analyse aller Figuren des Sezuan-Stücks ergibt, kann ein schnell gezogener Schluss ganz unerwartet zum Kurzschluss werden. An verschiedenen Textstellen bietet Brecht selbst eine einfache, um nicht zu sagen vulgärmarxistische Lösung des Problems an: Die moralische Schlechtigkeit der Menschen ist eine Folge ihrer materiellen Armut. Verbessere also die soziale Lage der Menschen, dann bessert sich auch ihre Moral, denn dann können sie befreit ihre naturgemäße (?) Güte leben. Shen te sagt einmal, zum Publikum gewendet:

 
„Den Mitmenschen zu treten/ Ist es nicht anstrengend? Die Stirnader/ Schwillt ihnen an, vor Mühe, gierig zu sein./ Natürlich ausgestreckt/ Gibt eine Hand und empfängt mit gleicher Leichtigkeit. Nur/ Gierig zupackend muß sie sich anstrengen. Ach/ Welche Verführung, zu schenken! Wie angenehm/ Ist es doch, freundlich zu sein! Ein gutes Wort/ Entschlüpft wie ein wohliger Seufzer.“ (7.Bild)

 
In dieser Textstelle werden Freundlichkeit und Güte zu natürlichen Anlagen des Menschen erklärt, zu seinem So-Sein, das aufgrund widernatürlicher Lebensumstände nicht gelebt werden kann. Das Leiden an diesem Widerspruch zeigt Brecht aber nur an Shen Te. Bei den anderen Figuren gewinnt man den Eindruck, dass sie durchaus zufrieden wären, wenn ihre eigennützigen Bedürfnisse befriedigt wären. Daher kann eine Lösung des angesprochenen Problems nicht von einem Menschenbild ausgehen, das den Shen Te-Typus zur Grundlage hat, sondern von einem, das Shui Ta oder Yang Sun als realistischen Normalfall, Shen Te hingegen als möglicherweise nur konstruierten Ausnahmefall betrachtet.

 
Otto F.Best („Weisheit und Überleben“, 1982) hat überzeugend nachgewiesen, dass der junge Brecht etwa ab 1916/1917 ein Menschenbild entwickelte, das den Menschen vor allem als Natur sah, als ein Wesen, das - ähnlich wie Tiere und Pflanzen - überleben oder seine Lebensintensität steigern will. Lebensdrang  ist eine Naturgesetzlichkeit, der gegenüber moralische Wertungen grundsätzlich unangemessen sind. Leben zu wollen ist weder gut noch schlecht; es ist einfach nur, was es ist, würde Erich Fried sagen. Starke, aussagekräftige Bilder des lebenshungrigen Menschen findet man immer wieder in den Stücken und Gedichten, die Brecht zwischen 1917 und 1927 geschrieben hat. Vor allem zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Lyriker Baals aus dem gleichnamigen Stück. Indem Baal nichts anderes tut als seinem Lebens- und Genusstrieb hemmungslos zu folgen, wird er zum Asozialen, zum (unpolitischen) Anarchisten und Kriminellen. Leidtragende seiner ausgelebten Sexualität werden Frauen, die sich emotional an Baal binden. „Erstens, vergeßt nicht, kommt das Fressen / Zweitens kommt der Liebesakt(...)“ singt ein Männerchor in „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Es ist wichtig zu beachten, dass Brecht mit diesen Darstellungen nicht abschreckende Menschenbilder zur Besserung und Bekehrung des werten Publikums abgeben wollte. Dass Menschen - in Brechts Darstellungen vor allem Männer! - so ungemein vital sind, ist nicht das Problem, sondern dass sie mit ihrer Vitalität in einen Welt gestellt werden, die dem Lebens- und Lusthunger teilweise nicht gerade förderlich ist. Auch diese Seite der Existenz wird von Brecht in den frühen Zwanziger Jahren immer wieder thematisiert. Im Gedicht „Von der Freundlichkeit der Welt“ heißt es:

Auf die Erde voller kaltem Wind
Kamt ihr alle als ein nacktes Kind
Frierend lagt ihr ohne alle Hab

Als ein Weib euch eine Windel gab(...)
Und die Welt, die ist euch gar nichts schuld;
Keiner hält euch, wenn ihr gehen wollt.(....)“


 Im Kampf um die begrenzten Lebens- und Genussmöglichkeiten werden die Menschen einander zu Konkurrenten, zu Feinden und Objekten der Ausbeutung. Eben diesen Zustand zeigt Brecht am Beispiel der Provinz Sezuan, die nicht als geographischer Raum, sondern als soziales Modell zu verstehen ist. Eine nur moralisierende Reaktion auf diesen Zustand, eine sittliche Kritik, die Gutsein fordert, wo nur Kampf und Rücksichtslosigkeit zum Erfolg, also zum Überleben, führen, geht an der Realität vorbei und muss daher wirkungslos bleiben. Das zeigt Brecht in „Der gute Mensch von Sezuan“, indem er folgende fiktive Situation konstruiert:  Angenommen, es gäbe den guten Menschen, den die Götter fordern, könnte er menschenwürdig überleben in Sezuan? Shen Te ist keine reale Figur, sondern ein Konstrukt. Shui Ta oder Yang Sun sind weitaus „realer“ in dem Sinne, dass sie agieren und reagieren wie sogenannte „vernünftige“ Menschen. In diese reale Figurenwelt stellt nun Brecht Shen Te, Modell eines guten Menschen, dessen Handlungsmöglichkeiten nun zu überprüfen sind. Das Ergebnis ist, wenn man Brechts Darstellungsweise folgen will, ernüchternd. Gut sein lohnt sich nicht, im Gegenteil! Wer gut, d.h. altruistisch und selbstlos ist, kommt unter den gegebenen Verhältnissen an den Bettelstab. Die Forderung der Götter wird letztlich als unbrauchbare Illusion zurückgewiesen.

 
Man sieht also, dass auch der marxistische Brecht sein Menschenbild gegenüber der ersten Hälfte der zwanziger Jahre nicht grundlegend geändert hat Der Mensch will vor allem überleben und seine Lebensintensität steigern. Was sich allerdings durch die Annäherung an den Marxismus ändert, ist, dass Brecht den Widerspruch zwischen den Lebensbedürfnissen des Einzelnen und dem Weltzustand nicht mehr als Naturzustand betrachtet, sondern als sozialgeschichtlichen Zustand, d.h. als veränderbare Situation. Brecht meint mit Marx und Engels, dass es möglich sein müsse, die Gesellschaft so zu organisieren, dass gut zu sein nicht mehr in Widerspruch gerät zu den „egoistischen“ Bedürfnissen des Einzelnen. Wenn Güte eine Haltung ist, die sich lohnt, ein Verhalten, vor dessen Folgen sich der Mensch nicht mehr fürchten muss, dann wird der Mensch freiwillig gut sein, weil dies weniger anstrengend ist als böse zu sein. Nur wenn die Ansprüche des Einzelmenschen befriedigt werden, ist ein friedliches Zusammenleben möglich. Und diese Möglichkeit eröffnet sich für Brecht in der Utopie einer kommunistisch organisierten Gesellschaft. In dieser Hinsicht unterscheidet sich daher Brechts Lösungsvorschlag ganz elementar von den Forderungen der Götter.

 
2.4 Ethik ohne Wirtschaft. Zur Rolle der Götter im „Guten Menschen“

 Die drei Götter kommen zu einer Art Inspektionsreise, zeitgeistig gesagt: im Rahmen einer „fact finding mission“, auf die Erde. Sie wollen erfahren, ob es wirklich unmöglich ist, die göttlichen Gebote zu erfüllen und gleichzeitig zu überleben. Wäre nämlich dies der Fall, so könnte die Welt nicht bleiben, wie sie ist. Schon beim ersten Auftreten der Götter wird aber deutlich, dass sie nicht vorurteilsfrei die Wirklichkeit wahrnehmen wollen, sondern dass ihnen sehr daran gelegen ist, die Welt nicht verändern zu müssen. Sie begnügen sich mit der Illusion, in Shen Te einen Menschen gefunden zu haben, der trotz widriger Umstände gut sein kann. Shen te muss bei der Abreise der Götter sehr heftig darauf hinweisen, dass sie nicht gut ist, sondern nur gern gut wäre. Die Miete ist aber zu hoch und um das Nötigste zu verdienen, muss sie als  Prostituierte arbeiten. Die Götter behaupten, dass es nicht ihre Aufgabe ist, sich in wirtschaftliche Angelegenheiten einzumischen. Diese Sichtweise zeigt, dass die Götter Fragen der Ethik von materiellen Aspekten völlig trennen. Aber das Verhalten der Götter am Ende des Vorspiels demaskiert ihre Sichtweise als realitätsferne Ideologie. Sie übergeben Shen Te einen Geldbeutel, weil sie (mit Recht!) davon überzeugt sind, dass es für Shen Te leichter ist, gut zu sein, wenn sie über ein gewisses Vermögen verfügt. Obwohl die Götter schon durch ihr eigenes Verhalten in ihrer Ideologie verunsichert sein müssten, ändern sie ihre Ansichten bis zum Schluss des Stückes nicht. Shen Te’s eindringlichen Versicherungen, dass es ihr nur gelungen sei gut zu sein, weil sie immer wieder die Rolle des „bösen“, d.h. des egoistisch berechnenden Menschen Shui Ta angenommen habe, werden von den Göttern ignoriert. Sie brauchen die Aufrechterhaltung des (marxistisch gesagt) „falschen Bewusstseins“. Der Erste Gott sagt: „Sollen wir eingestehen, dass unsere Gebote tödlich sind? Sollen wir verzichten auf unsere Gebote? Verbissen: Niemals! Soll die Welt geändert werden? Wie? Von wem? Nein, es ist alles in Ordnung!“ Die Götter besteigen eine rosa Wolke und fahren langsam nach oben. Alle  Erfahrungen ignorierend, bringen sie die Botschaft in den Götterhimmel, dass der Mensch gefunden sei, der die Gebote der Götter, d.h. die Gebote der Nächstenliebe, erfüllen kann, ohne selbst dabei ruiniert zu werden. Shen Te’s Einwänden begegnen sie mit Beschwichtigungen und moralischen Appellen. „Sei nur gut und alles wird gut werden!“ Weil Shen Te so hartnäckig die Beschwichtigung verweigert, schließen die Götter letztlich mit ihr einen faulen Kompromiss. Einmal im Monat darf sie Shui Ta zu Hilfe holen. Shen Te fürchtet, dass dieses Zugeständnis nicht ausreichen wird. Aber während sie noch verzweifelt die Hände nach den Göttern ausstreckt, verschwinden diese lächelnd.

 
2.5 Zur dramatischen Form

 Formal entspricht „Der gute Mensch von Sezuan“ Brechts Konzept des epischen Parabelstücks. Obwohl Brecht reale Ortsnamen und verschiedene chinesische Quellen verwendete, hat Sezuan wenig mit der realen chinesischen Provinz zu tun. Um Missverständnisse zu vermeiden, schrieb Brecht selbst in einer Vorbemerkung aus dem Jahr 1953: „Die Provinz Sezuan, die für alle Orte stand, an denen Menschen von Menschen ausgebeutet werden, gehört heute nicht mehr zu diesen Orten.“ Mit dem „Guten Menschen“ nahm Brecht die formalen und bühnentechnischen Verfahren der Lehrstücke wieder auf, die er in anderen Stücken der dreißiger Jahre, zum Beispiel in „Leben des Galilei“, „Die Gewehre der Frau Carrar“ oder „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ nur mehr teilweise eingesetzt hatte. Brechts selbst meinte, dass er mit dem „Guten Menschen“ wieder an jenen „Standard“ der Lehrstücke anschließen wolle, den er, vermutlich auch bedingt durch die politischen Umstände der Dreißiger Jahre,  mit dem „Galilei“ und „Frau Carrar“ verlassen habe (Arbeitsjournal, März 1939).

 
Die Parabel eignet sich besonders gut für die Versinnlichung lehrhafter Inhalte. Im Unterschied zu den frühen Lehrstücken („Die Maßnahme“, „Das Badener Lehrstück vom Einverständnis“ etc.) ist allerdings „Der Gute Mensch von Sezuan“ nicht als „Lehrmaterial“ für die Spieler selbst konzipiert, sondern als Schaustück für ein Publikum, das selbst nicht am Bühnengeschehen beteiligt ist. Der modellhafte soziale Raum, die Verwendung unterschiedlicher Sprachebenen, das Spiel im Spiel, die Unterbrechung der Handlung mit Songs und kommentierenden Passagen sind Verfremdungseffekte, wie sie Brecht auch in seinen theoretischen Schriften zum Theater, vor allem im „Messingkauf“, begründet hat. (siehe dazu auch Abschnitt II dieses Hefts). Die Musik zum „Guten Menschen“ schrieb Paul Dessau. Neben den Songs wird Musik auch bei kommentierenden Passagen eingesetzt. Diese werden meist in einer Art Sprechgesang vorgetragen. Nebensächlich erscheint die in manchen Interpretationen gestellte Frage, ob es sich beim „Guten Menschen“ um eine Komödie oder eine Tragödie handle, da sich Brecht selbst an dieser traditionellen Unterscheidung nicht mehr orientierte.

 
2.6 Zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte

 Einzelne Handlungselemente des Stücks „Der gute Mensch von Sezuan“ sind bereits in dramatischen Fragmenten zu finden, die Brecht in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre geschrieben hat. Das Motiv der „Herbergssuche“ (Drei Götter finden keine Aufnahme) findet man im Gedicht „Matinee in Dresden“. Der Hintergrund ist eine zurückgenommene Einladung zur Dichterlesung in Dresden, von der Brecht, Arnolt Bronnen und Alfred Döblin betroffen waren. Eine Prostituierte, die sich in einen Mann verkleidet, um anderen zu helfen, ist die Hauptfigur im Stückentwurf „Fanny Kress oder Der Huren einziger Freund“. In veränderter Form nahm Brecht diesen Plot wieder 1930 auf. Im Fragment „Die Ware Liebe“ erzählt Brecht die Fabel bereits aus marxistischer Perspektive: In der völlig auf ökonomischen Nutzen angelegten bürgerlichen Gesellschaft erhält auch die Liebe Warencharakter. Gegen Ende der dreißiger Jahre arbeitete Brecht im Exil an den frühen Entwürfen weiter. Brechts Freundinnen Margarete Steffin und Ruth Berlau gewann er als Mitarbeiterinnen. Eintragungen im Arbeitsjournal zeigen, dass Brecht beim Schreiben mit verschiedenen Schwierigkeiten kämpfte. Er wollte zum Beispiel unbedingt vermeiden, dass der Handlungsort Sezuan realistisch verstanden und daher nicht auf Europa bezogen wird. Vor allem beklagte er auch, dass er seine Szenen vor der Fertigstellung nicht auf einem Theater ausprobieren konnte, was er sonst mit Vorliebe machte. Im Juni 1940 war das Stück im Wesentlichen fertig. Die endgültige Fassung legte Brecht dann im Jänner 1941 vor. Die Uraufführung des „Guten Menschen von Sezuan“ fand 1943 in Zürich statt. Zur ersten Aufführung im nachfaschistischen Deutschland kam es erst 1952 (Frankfurt a.M.).

 Literatur:

Knopf, Jan (Hrsg.): Brechts „Guter Mensch von Sezuan“, Frankfurt: Suhrkamp1982 (st 2021)
Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. Theater. Stuttgart-Weimar: Metzler 1980
Best, Otto F.: Bertolt Brecht: Weisheit und Übrleben. Frankfurt: Suhrkamp 1982, insb. S. 181-185 (edition suhrkamp 894)

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