Emilia Galotti (Interpretation)


Gotthold Ephraim Lessing


 


EMILIA GALOTTI


Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen


 

 

HANDLUNG UND AUFBAU

 

Exposition und erregendes Moment (1.Aufzug, 1.-8.Auftritt)

 
Das Stück beginnt an einem Morgen im Arbeitszimmer des Prinzen Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla. Der Arbeitstisch ist „voller Briefschaften und Papier“. Offensichtlich vernachlässigt der Prinz seine Aufgaben. Auch die Art, in der Hettore Gonzaga Entscheidungen fällt, wirkt einigermaßen befremdlich. Er nimmt eine Bittschrift zur Hand, liest darauf den Vornamen „Emilia“ und gewährt die Bitte aus diesem Grund. Unberechenbarkeit, Launenhaftigkeit und Unzuverlässigkeit sprechen bereits aus diesen ersten Handlungen und Worten. Dieser Eindruck von der männlichen Hauptfigur verstärkt sich. Einen Brief der Gräfin Orsina, den ihm sein Kammerherr Marinelli bringt, liest er gar nicht. Die Beziehung zur Gräfin – sie ist Gonzagas Mätresse - ist für den Prinzen Vergangenheit: „(...) ich habe sie zu lieben geglaubt! Was glaubt man nicht alles? Kann sein, ich habe sie auch wirklich geliebt. aber – ich habe!“

Prinz Gonzaga möchte den schönen Morgen nützen und ausfahren. Da meldet der Maler Conti seinen Besuch an. Er hat vor drei Monaten vom Prinzen den Auftrag erhalten, die Gräfin Orsina zu malen. jetzt hat der Auftraggeber nur mehr wenig Interesse am Bild der Gräfin. Ein anderes Bild, das Conti bei sich hat, erregt weitaus mehr Gonzagas Interesse. Es ist das Bild einer gewissen Emilia Galotti, Tochter des Obersten Odoardo Galotti und seiner Frau Claudia. Der Prinz kennt Emilia nur flüchtig, aber es ist unübersehbar, dass er von ihrer Schönheit sehr beeindruckt ist. Er erwirbt das Bild von Conti und ist bereit jeden Preis dafür zu bezahlen.

   Conti verabschiedet sich, der Kammerherr Marinelli kehrt zurück. Noch einmal kommt die Rede auf Gräfin Orsina. Gonzaga wird demnächst mit der Prinzessin von Massa verheiratet werden. Aber nicht diese rein machtpolitisch motivierte Eheschließung ist das Hindernis, die Beziehung zu Gräfin Orsina fortzusetzen, sondern die Tatsache, dass Prinz Gonzaga von Emilia Galotti bezaubert ist und daher kein Interesse mehr an seiner Mätresse hat. Umso schockierter ist Gonzaga, als er nun von Marinelli erfahren muss, dass Emilia Galotti noch heute Graf Appiani heiraten wird (erregendes Moment!). Appiani scheut diese „Missheirat“ mit einer Bürgerlichen nicht. Zum Prinzen steht er ohnedies in frostiger Distanz. An einer Karriere am Fürstenhof ist er uninteressiert. Vielmehr wird er sich mit seiner jungen Frau auf sein Landgut zurückziehen. Hettore Gonzaga sieht seine Chancen, Emilia zu seiner Geliebten zu machen, schwinden. In dieser scheinbar ausweglosen Situation bietet sich Marinelli als Retter an. Er schlägt vor, Graf Appiani darum zu ersuchen, als Gesandten des Prinzen nach Massa zu reisen und aus diesem Grund die Hochzeit um einige Tage zu verschieben.

Marinelli bricht sofort auf, um das Vorhaben umzusetzen und keine Zeit zu verlieren. Die letzte Szene zeigt noch einmal, wie sehr Prinz Gonzaga seinen Gefühlen ausgeliefert ist und welche fatale Folgen dies haben kann, wenn ein Mensch an einer entscheidenden Machtposition sitzt. Camillo Rota, der Sekretär des Prinzen, legt seinem Herrn ein Todesurteil vor. Damit es vollstreckt wird, muss der Prinz, der ja im absolutistischen System auch oberster Gerichtsherr ist, seine Unterschrift unter das Urteil setzen. Allerdings kann er den Verurteilten auch begnadigen. Hettore Gonzaga nimmt nicht mehr wahr, was er unterscheiden soll. Ohne sich mit dem Fall auch nur eine Minute zu beschäftigen, will er „recht gern“ seine Unterschrift unter das Urteil setzen. Camillo Rota ist irritiert. Unter einem Vorwand hält er das entscheidende Schriftstück zurück: „Ich hätte es ihn in diesem Augenblick nicht mögen unterschreiben lassen, und wenn es den Mörder meines einzigen Sohnes betroffen hätte.- Recht gern! recht gern! – Es geht mir durch die Seele, dieses gräßliche ‚recht gern‘!“

 

Die Stufen der steigenden Handlung (2. Aufzug)

 
Im zweiten Akt führt Lessing die Handlung in folgender Weise weiter: Zunächst stellt er dem Publikum Claudia und Odoardo Galotti vor, Emilias Eltern. Aus ihrem Gespräch entstehen skizzenhafte Umrisse der beiden Personen. Claudia hat ein gewisses Vergnügen am Stadtleben, am Glanz des Hofes und am geselligen Leben. Odoardo sieht dies alles mit Unbehagen und Misstrauen. Insbesondere auf seine Tochter hat Odoardo Galotti ein äußerst wachsames Auge. Dies wird bereits aus wenigen Zeilen im 1. Auftritt des 2. Aufzugs erkennbar. Selbst die Tatsache, dass Emilia ohne Aufsicht wenige Schritte außer Haus gegangen ist, um die Messe zu besuchen, ist ihm Anlass zum Misstrauen. Schon ein Schritt „ist genug zu einem Fehltritt!“. Als Claudia ihrem Mann nicht ohne Stolz erzählt, dass sie und Emilia kürzlich bei einer Einladung dem Prinzen begegnet seien und Gonzaga offensichtlich von Emilias „Munterkeit“ und „Witz“ angetan war, reagiert dieser verärgert. „Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt. – Claudia! Claudia! Der bloße Gedanke setzt mich in Wut.“ Umso ungeduldiger sieht Odoardo der Verheiratung seiner Tochter mit Graf Appiani entgegen. Dass Emilia mit ihrem Gemahl auf dessen Gütern leben wird, erleichtert ihn. Endlich kommt seine Tochter weg vom Hof und von dessen zweifelhafter Moral.

Auf einer zweiten Handlungsebene macht Lessing erkennbar, dass der Kammerherr Marinelli im Hintergrund mittlerweile seine Fäden zu ziehen beginnt. Ein gesuchter Verbrecher namens Angelo und ein Diener der Galottis, der sich als Komplize anbietet, unterhalten sich über den Weg, den die Kutsche mit Appiani und seiner Braut heute nehmen wird. Nur zwei Bediente werden den Wagen begleiten. Nicht auf Geld und Schmuck der Braut hat es Angelo abgesehen, sondern auf die Braut selbst. In wessen Auftrag, das ist leicht zu erraten.

Mittlerweile ist Emilia aus der Kirche nach Hause gekommen. Gerade schien es noch, als seien Odoardo Galottis Misstrauen und Vorsicht stark überrieben. Nun scheinen ihm aber die Umstände Recht zu geben. Emilia „stürzt in einer ängstlichen Verwirrung herein“. Emilia erzählt ihrer Mutter, was sie soeben in der Kirche erlebt hat.

EMILIA: Eben hatt ich mich - weiter von dem Altare, als ich sonst pflege - denn ich kam zu spät - auf meine Knie gelassen. Eben fing ich an, mein Herz zu erheben, als dicht hinter mir etwas seinen Platz nahm. So dicht hinter mir! - Ich konnte weder vor noch zur Seite rücken - so gern ich auch wollte; aus Furcht, daß eines andern Andacht mich in meiner stören möchte. - Andacht! das war das Schlimmste, was ich besorgte. - Aber es währte nicht lange, so hört ich, ganz nah an meinem Ohre - nach einem tiefen Seufzer - nicht den Namen einer Heiligen - den Namen - zürnen Sie nicht, meine Mutter - den Namen Ihrer Tochter! - Meinen Namen! - O daß laute Donner mich verhindert hätten, mehr zu hören! - Es sprach von Schönheit, von Liebe. - Es klagte, daß dieser Tag, welcher mein Glück mache - wenn er es anders mache - sein Unglück auf immer entscheide. - Es beschwor mich - hören mußt ich dies alles. Aber ich blickte nicht um; ich wollte tun, als ob ich es nicht hörte. - Was konnt ich sonst? - Meinen guten Engel bitten, mich mit Taubheit zu schlagen; und wann auch, wann auch auf immer! - Das bat ich; das war das einzige, was ich beten konnte. - Endlich ward es Zeit, mich wieder zu erheben. Das heilige Amt ging zu Ende. Ich zitterte, mich umzukehren. Ich zitterte, ihn zu erblicken, der sich den Frevel erlauben dürfen. Und da ich mich umwandte, da ich ihn erblickte -
CLAUDIA: Wen, meine Tochter?
EMILIA: Raten Sie, meine Mutter; raten Sie - Ich glaubte in die Erde zu sinken. - Ihn selbst.
CLAUDIA: Wen, ihn selbst?
EMILIA: Den Prinzen.
CLAUDIA: Den Prinzen! - O gesegnet sei die Ungeduld deines Vaters, der eben hier war und dich nicht erwarten wollte!

 
Claudia rät ihrer Tochter, von diesem Erlebnis niemandem etwas zu sagen, am allerwenigsten dem Vater und dem Bräutigam! Emilia nimmt den Rat der Mutter an.

Von Graf Appiani, Emilias künftigem Mann, war bisher nur die Rede. Im siebenten Auftritt des 2. Aufzugs lässt ihn Lessing auftreten. Das Bild, das bisher von ihm gezeichnet wurde, bestätigt sich. Appiani ist ein ernsthafter Mann, nicht nur Emilia verbunden, sondern vor allem auch ihrem Vater Odoardo, den er als „Muster aller männlichen Tugenden“ und Vorbild lobt. Freilich regt sich hier der Verdacht, dieser Bräutigam könnte mehr dem Geschmack des Vaters als dem der Tochter entsprechen, denn Emilia erzählt von einem seltsamen Traum, den sie nun schon dreimal geträumt habe. Die Edelsteine auf einem Geschmeide, das ihr Appiani geschenkt hat, hätten sich im Traum in Perlen verwandelt – und „Perlen bedeuten Tränen“.

Marinelli kommt zu Besuch ins Haus Galotti, um den Grafen Appiani zu sprechen. Marinellis Versuch, Appiani zu einer Reise nach Massa als Bevollmächtigter des Prinzen zu überreden und die Hochzeit aufzuschieben, misslingt. Da Graf Appiani Prinz Gonzaga nicht als Untertan verpflichtet ist, kann er den Wunsch des Fürsten zurückweisen. Als Marinelli nicht aufhört, den Grafen zu bedrängen, nennt dieser ihn einen „ganzen Affen“. Das wird sich rächen.

 

Steigende Handlung, Höhepunkt, Wendepunkt (3.Aufzug)

 Der Schauplatz wechselt. Die folgenden Szenen spielen auf Dosalo, dem Lustschloss des Prinzen. Marinelli berichtet, dass der Plan, Appiani zur Übernahme einer Gesandtschaft zu überreden, misslungen ist, dass er aber einen anderen Weg gefunden hat. Man hört einen Schuss. Der Anschlag auf die Kutsche, in der Appiani, Claudia und Emilia reisen, wird zum Schein überfallen. Bediente des Kammerherrn eilen – scheinbar als Helfer – herbei, „retten“ Emilia vor den Verbrechern und werden sie auf das Schloss des Prinzen bringen. Appiani wird bei diesem fingierten Überfall erschossen.

   Angelo meldet Marinelli, dass die Aktion erfolgreich verlaufen ist. Emilia befindet sich nun auf dem Lustschloss des Prinzen, freilich in dem Glauben, sie sei soeben einem Anschlag entgangen. Von Appianis Tod weiß sie noch nichts. Ihre Sorge zerstreut Marinelli. Alle seine gerettet worden, und Emilia werde ihren Bräutigam und ihre Mutter bald wieder sehen. Dass sie auf einem Schloss des Prinzen Gonzaga ist, erfährt Emilia erst jetzt. Die erste Begegnung mit Prinz Gonzaga folgt sogleich im 5. Auftritt. Dieses Zusammentreffen bildet den Höhepunkt. Hettore Gonzaga hat sein Ziel erreicht. Er geht behutsam vor, entschuldigt sich bei Emilia für sein Verhalten am Morgen in der Kirche und versichert ihr, dass sie keines Schutzes gegen ihn bedürfe. Im Gegenteil, er unterwerfe sich ihrer „unumschränktesten Gewalt“.

Appiani ist tot. Von ihm geht keine Gefahr mehr aus. Aber Claudia Galotti sucht natürlich nach ihrer Tochter und kommt auf das Schloss. Der Wendepunkt der Handlung zeichnet sich ab. Marinelli tritt Claudia Galotti entgegen. „Marinelli“, das war das letzte Wort des sterbenden Appiani. Claudia durchschaut nun die Zusammenhänge. Dieser Marinelli, mit dem Appiani Streit hatte, und das Werben des Prinzen um Emilia. Der Anschlag war nur fingiert, Emilia sollte in die Hände des Prinzen gebracht werden. Claudia erkennt aber nicht nur die ganze entsetzliche Wahrheit, sondern auch die Grenzen des Handelns, die ihr gesetzt sind. Appiani ist tot. Sie selbst und Emilia sind in der Gewalt der Entführer.

 

Fallende Handlung (4.Aufzug)

 Prinz Gonzaga ist ein gedankenloser, schwärmerischer, pflichtvergessener junger Mann, aber er ist kein eiskalter Schurke. Nun kommt ihm zu Bewusstsein, was Marinelli angerichtet hat. Er selbst fühlt sich zwar nicht schuldig an Appianis Tod, aber er erkennt, dass er in eine äußerst problematische Situation geraten ist. Marinelli mag sich noch so bemühen, den Tod des Grafen als unvorhergesehenen Unglücksfall darzustellen, der Verdacht des Mordes an seinem Konkurrenten wird für immer am Prinzen hängen, wenn er jetzt um Emilias Liebe wirbt. Die Hoffnungen des Prinzen werden sich nicht erfüllen. Die Handlung fällt ihrem Endpunkt entgegen, auf der nächsten Stufe der fallenden Handlung durchschaut Gräfin Orsina die Hintergrund des Verbrechens. Orsina erscheint auf Dosalo, um mit dem Prinzen zu sprechen. Hettore Gonzaga weicht einem Zusammentreffen mit der mittlerweile ungeliebten Mätresse aus, und Marinelli muss –wieder einmal – für seinen Herrn handeln.

   Gräfin Orsina ahnt mit aller Deutlichkeit, dass Hettore Gonzaga nichts mehr von ihr wissen will. Als der Prinz merkt, dass sich die Gräfin Marinellis Versuch, sie abzuwimmeln, widersetzt, erscheint er für kurze Zeit selbst und entschuldigt sich knapp und distanziert wegen einer unaufschiebbaren Beschäftigung. Orsina ist schwer gekränkt. Nicht einmal eine Lüge lässt sich der Prinz mehr einfallen, um sie wegzuschicken. Er weist sie einfach ab. Wenigstens um eine besänftigende Lüge bittet sie Marinelli. Der Kammerherr liefert ihr daraufhin die halbe Wahrheit. Claudia und Emilia Galotti seien beim Prinzen, gerettet nach einem Überfall. Gräfin Orsina durchschaut sofort die Situation. Sie weiß, dass Appiani tot ist, und sie weiß auch von den Begehrlichkeiten ihres ehemaligen Liebhabers. Prinz Gonzaga wurde nämlich während des Gesprächs, das er mit Emilia am Morgen in der Kirche führte, von Vertrauten der Gräfin belauscht. Sie stellt sofort die richtigen Zusammenhänge zwischen dem vermeintlichen Überfall und dem Begehren des Prinzen her. „Der Prinz ist ein Mörder!“ ruft sie aus.

  Als Gräfin Orsina das Schloss verlassen will, trifft sie mit Odoardo Galotti zusammen. Die nächste Stufe der fallenden Handlung ist erreicht. Der Oberst weiß, dass sich ein Überfall ereignet hat, dass seine Frau und seine Tochter auf Schloss Dosalo Zuflucht gefunden haben. Während Marinelli die Ankunft des Obersten Galotti dem Prinzen meldet, kommt Odoardo mit Gräfin Orsina ins Gespräch (7. Auftritt). Sie klärt ihn über die Situation in ihrer ganzen Tragweite auf. Odoardos Bedauern darüber, dass er keine Waffe bei sich trägt, um den Prinzen zu töten und auf diese Weise Rache zu nehmen, kann Orsina Abhilfe schaffen. Sie selbst trägt einen Dolch bei sich, um sich beim Prinzen zu rächen. Diesen Dolch händigt sie nun Odoardo aus. Er scheint ihr der geeignete Täter zu sein, denn seiner Tochter würde es nicht anders ergehen als ihr selbst. Ihre Rachegefühle äußert Orsina in einem grausigen Bild: „ (...) welch eine himmlische Phantasie! Wann wir einmal alle – wir, das ganze Heer der Verlassenen – wir alle in Bacchantinnen, in Furien verwandelt, wenn wir alle ihn unter uns hätten, ihn unter uns zerrissen, zerfleischten, sein Eingeweide durchwühlten – um das Herz zu finden, das der Verräter einer jeden versprach und keiner gab! Ha! das sollte ein Tanz werden! das sollte!“

   Claudia Galotti kommt in der letzten Szene des 4.Aufzugs dazu und bestätigt ihrem Gatten gegenüber alles, was dieser von der Gräfin erfahren hat. Gräfin Orsina und Claudia Galotti verlassen Dosalo. Odoardo bleibt mit dem Dolch zurück.

 

Die Katastrophe (5. Aufzug)

 Odoardo hat sich mittlerweile beruhigt. Seinem Monolog im zweiten Auftritt ist zu entnehmen, dass er seinen Mordplan aufgegeben hat. Er will Emilia abholen und aus Guastalla wegbringen, am besten in ein Kloster – weiter will er nichts. Marinelli verunsichert ihn aber erneut (3.Auftrit), weil er Odoardo darauf hinweist, dass der Wille des Prinzen, nicht der des Vaters über Emilias weiteren Aufenthalt entscheiden soll. Prinz Gonzaga kommt dazu, will Odoardo zunächst durchaus zugestehen, dass dieser über Emilias weiteren Aufenthalt zu entscheiden habe, wird aber von Marinelli auf einen anderen Weg gelenkt. Der Kammerherr behauptet, es sei das Gerücht entstanden, der Überfall hänge mit einem „begünstigten Nebenbuhler“ des Grafen Appiani zusammen. Durch das Attribut „begünstigt“ lenkt Marinelli auch auf Emilia einen Verdacht, als habe sie sich während ihrer Brautzeit mit einem anderen Mann eingelassen. Jedenfalls sei die Sache gerichtlich zu untersuchen. Emilia müsse vorderhand in Guastalla bleiben – und zwar abgeschirmt von anderen, die auf sie Einfluss nehmen könnten, also auch von Vater und Mutter. Diese Aussicht, dem Objekt seiner Begierde doch noch nahe zu sein, greift Hettore Gonzaga bereitwillig auf. Er wird Emilia im Hause des Kanzlers Grimaldi beaufsichtigen lassen. Dort werde ihr mit der nötigen Ehrerbietung und Achtung begegnet. Odoardo weiß aber, dass im Hause Grimaldi gewisse lockere Sitten herrschen. Sein ursprüngliches Vorhaben, den Dolch zu ziehen, wird nun wieder aktuell. Lessing schiebt ein weiteres Mal eine monologische Szene ein (6.Auftritt), die den inneren Kampf Odoardos anschaulich macht.

   Da erscheint – im siebenten und vorletzten Auftritt – Emilia selbst. Im Gespräch mit Odoardo erfährt sie, dass sie in der Hand ihres Räubers bleiben soll. Das sei nicht dulden, entgegnet Emilia. Daraufhin zeugt ihr Odoardo den Dolch. Ihre Reaktion ist allerdings verblüffend: „Um des Himmels willen nicht, mein Vater!- Dieses Leben ist alles, was die Lasterhaften haben. – Mir, mein Vater, mir geben Sie diesen Dolch.“ Sie begründet ihren Wunsch nach Tötung mit der Angst vor ihrer eigenen Verführbarkeit: „Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. ich stehe für nichts. ich bin für nichts gut. ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten!“ Mit dem Hinweis auf die antike Virginia-Sage („Ehedem gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten, den besten Stahl in das Herz senkte“) drängt sie ihn zur Tötung. Odoardo ersticht seine eigene Tochter.

  Im letzten Auftritt kommen Marinelli und der Prinz dazu. Hettore Gonzaga erkennt erst jetzt, da es zu spät ist, die ganze Tragweite seiner Begehrlichkeit und seines Verhaltens: „Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen.“ Mit dieser Einsicht in die Rolle, die Marinelli gespielt hat, aber auch in die eigenen menschlichen Schwächen, endet das Stück.

 

INTERPRETATIONSHINWEISE UND ZUSATZMATERIALIEN


 
Höfischer Absolutismus

 „Emilia Galotti“ ist ein politisches Drama. Die Handlung könnte nie diesen Verlauf nehmen, wenn Hettore Gonzaga nicht die Machtposition eines absolut regierenden Fürsten innehätte. Er selbst ist sich freilich dieser Problematik kaum bewusst. Als Mensch ist Hettore Gonzaga kein Bösewicht, Schurke oder Scheusal. Er ist leicht entflammbar, möglicherweise ein wenig erotomanisch und im Umgang mit diesen seiner Charaktereigenschaften unreif, seinen spontanen Gefühlen ausgeliefert, ja geradezu schwärmerisch. Solche Eigenschaften mögen an jungen Männern aus den „niederen“ Ständen des 18. Jhs. vielleicht ein wenig lächerlich, vielleicht sogar liebenswert gewesen sein, jedenfalls nicht ernsthaft bedrohlich. Im Falle des Fürsten stellt sich dies freilich anders dar. Indem Hettore Gonzaga einfach nur seinen spontanen Neigungen nachgeht, bringt er das Ordnungsgefüge der Gesellschaft durcheinander. Er ist sich seiner Machtfülle nicht bewusst und zerstört dadurch eine bürgerliche Familie. Er trägt Mitschuld am Tod des Grafen Appiani, und auch Gräfin Orsina ist das Opfer seiner Launenhaftigkeit. Wie ein Kind, das seines Spielzeugs überdrüssig geworden ist, so wendet sich der Prinz von der Gräfin ab. Hier verlässt nicht nur ein Mann eine Frau, sondern ein Fürst verstößt seine Mätresse. Die sozialen Rollen verschärfen maßgeblich das Leid der betroffenen Frau. Sie stürzt nicht nur in die emotionale Enttäuschung, sondern auch in eine schlimme soziale Situation. Das Ausmaß ihrer Rachefühle wird dadurch begreiflich.

   Auch die Camillo-Rota-Szene aus dem 1.Akt zeigt die gravierenden Folgen von Gonzagas Gedankenlosigkeit. Er ist so sehr auf Emilia Galotti fixiert, dass er ohne nachzudenken seine Unterschrift unter ein Todesurteil setzen würde. Als verhängnisvoll erweist sich natürlich auch, dass ausgerechnet ein skrupelloser Schurke wie Marinelli dem Fürsten als Ratgeber zur Seite steht. Er bemüht sich darum, den Wünschen und Bedürfnissen seines Herrn nahe zu kommen, koste es, was es wolle. Dadurch erhofft er sich eine starke Position am Hof. Es ist allerdings kein Zufall, dass ausgerechnet Marinelli der engste Vertraute des Fürsten ist – und nicht etwa ein Ehrenmann wie Appiani oder der Oberst Galotti. Von beiden heißt es, sie seien zum Fürsten in deutliche Distanz gegangen. Offensichtlich duldet Gonzaga niemanden in seiner Nähe, der ihm widerspricht, der seine Wünsche problematisiert und eine korrekte und verantwortungsvolle Führung der Staatsgeschäfte fordert. Von Appiani heißt es, er sei freiwillig nach Guastalla gekommen, um dem Fürsten seine Dienste anzubieten. Nun will er sich mit seiner Braut auf seine Landgüter zurückziehen, ohne dem Hof von Guastalla auch nur eine Träne nachzuweinen. Das hat zweifellos gute Gründe.

 

Die Moral der bürgerlichen Familie

 
Aus heutiger Sicht kann nicht nur die unumschränkte Machtposition des absolutistischen Fürsten, sondern auch die rigide Sexualmoral des deutschen Bürgertums im 18.Jh. zum Gegenstand kritischer Betrachtung werden. Immerhin zieht ja Emilia den Tod der Verführung vor, wohl gemerkt: der Verführung, nicht etwa der Vergewaltigung. Hettore Gonzaga deutet in keiner Weise an, dass er Emilias Körper mit Gewalt zum Gegenstand seiner Lust machen möchte, im Gegenteil! Er versichert ihr im 5. Auftritt des dritten Aufzugs ausdrücklich, dass sie keines Schutzes gegen ihn bedürfe. Und es gibt keinen Hinweis im Text, dass er dieses Versprechen nicht einhalten wird. Das Problem ist also nicht die Angst vor der Gewaltanwendung, sondern die Angst vor der eigenen Verführbarkeit, vor dem jener Keuschheit bzw. Jungfräulichkeit, die das bürgerliche Frauenbild des18.Jhs. so rigide fordert. Nicht zuletzt durch solch strenge Normen der Sittlichkeit grenzte sich das Bürgertum gegen den „unzüchtigen“, sittlich liberaleren Adel ab. Zweifellos ist der gedanken- und verantwortungslose Umgang Hettore Gonzagas mit seiner Machtposition die eigentliche Ursache der menschlichen Katastrophe. Aber die selbstzerstörerische Anklage, die Emilia in der vorletzten Szene des 5. Aufzugs gegen ihre eigene Verführbarkeit erhebt, trägt auch vieles zur Tötung bei. Dass ausgerechnet der Vater zum Vollstrecker wird, ist folgerichtig. Er vertritt am konsequentesten die Keuschheitsforderung bürgerlicher Moral.

 
Johann Bernhard Basedow: Keuschheit und Ehrbarkeit (1774)

 Übertritt in keiner Handlung die Ehrbarkeit. Wende die Augen ab von entblößten Körpern, vornehmlich des anderen Geschlechts. Entblöße dich selbst nicht im Beisein anderer ohne die äußerste Not. Meide nach Möglichkeit die Annäherung an Orten, wo das andere Geschlecht und selbst dein eigenes auf eine ungewöhnliche Weise entblößt erscheint. Gemälde und Bildsäulen entblößter Personen haben wenigstens die halbe Wirkung als die wirkliche Blöße. Meide also ihre Betrachtung, sobald sie in dir ein unruhiges Verlangen erregt, welches du nicht erfüllen darfst. Schlafe, wenn du es kannst, in einem besonderen Bette und nicht in demselben Zimmer mit dem anderen Geschlechte. Die Teile deines Leibes, welche du wegen der Ehrbarkeit nicht offenbar zeigen darfst, berühre nur in der höchsten Not und mittelbar. Sei nicht einsam mit einer Person des anderen Geschlechts an solchen Orten, zu einer solchen Zeit und in solchen Umständen, dass es, wenn man es wüsste, für unehrbar gehalten würde. Solang du jung und unverheiratet bist, so vermeide nach Möglichkeit den Anlass, sowohl von unzüchtigen Handlungen, als auch von dem körperlichen Umgange der Eheleute vieles zu reden, zu hören und zu lesen. Fliehe den Anblick der Eheleute, welche in deinem Beisein unvorsichtig oder aus Leichtsinn unehrbar miteinander scherzen. Scherze selbst nicht schamlos mit Personen weder deines eigenen noch des anderen Geschlechts. Rede, wenn du davon reden musst, von den Lastern der Unzucht nur mit Ernsthaftigkeit.
Alles Verhalten solcher Personen, die nicht miteinander verheiratet sind, ist alsdann wirklich unehrbar, wenn es nach den Sitten der Tugendhaften im Lande dafür gehalten wird. Vermeide eine jede Handlung, an welcher du zweifelst, ob sie mit der Ehrbarkeit bestehe. Es ist leicht, ehrbar zu bleiben, wenn man es schon ist, und einem ehrbaren Menschen ist es nicht schwer, in der Keuschheit zu verharren. Die Unehrbarkeit aber ist ein abhängiger Weg zur Unzucht, an welchem sich ein Mensch schwer zurückhält, weiterzugehen als er wollte. Faulenze niemals im Bette, wenn du des Morgens schon erwacht bist. Sei mäßig im Essen und Trinken. (...) Wenn du diesen weisen Ermahnungen folgst, so wirst du die Ehre, die Gesundheit, die Munterkeit des Geistes, die reine Einbildungskraft, das gute Gewissen und die Glückseligkeit einer keuschen Jugend behalten.

 

„Ehedem wohl gab es einen Vater...“ – Das Virginia-Motiv

 Lessing kannte die von Titus Livius überlieferte Geschichte der Virginia, die er als Vorlage für sein Stück benützte. Titus Livius berichtet in seiner „Römischen Geschichte“, dass der Decemvir Appius Claudius seine Macht missbraucht habe, um in den Besitz der Virginia zu kommen, eines sehr schönen Mädchens, das bereits mit dem ehemaligen Tribunen L. Icilius verlobt war. Appius Claudius veranlasste seinen Kienten M. Claudius dazu, das Mädchen als Sklavin zu beanspruchen. Angeblich sei sie gar nicht das Kind ihrer freien Eltern, sondern die Tochter zweier Sklaven aus dem Besitz des M. Claudius. Der Anspruch kam vor Gericht, wo Appius Claudius die Sache natürlich zu Gunsten seines Klienten entschied. Virginia sollte nun Sdklavin im Haus des M. Claudius werden. So hoffte sich der Decemvir Zugang zu dem Mädchen zu verschaffen. Verginius, der Vater des Mädchens, ein Soldat und ehrenhafter Bürger, war aber nicht bereit, diese Freveltat des Appius Claudius einfach hinzunehmen.

 
Titus Livius: Römische Geschichte (Auszug)

„... Verginius (streckte) seine Hände zu Appius und rief: „Dem Icilius habe ich meine Tochter verlobt, Appius, nicht dir und zur Hochzeit habe ich sie erzogen, nicht zur Schändung. Hältst du es für Recht, dass man sich nach Art des Viehs und der wilden Tiere zur Paarung bald auf die eine, bald auf die andere stürzt? Ich weiß nicht, ob diese hier das dulden werden; aber ich hoffe, dass die es nicht dulden werden, die Waffen haben.“ Als der Mann, der das Mädchen für sich beanspruchte, von der Schar der Frauen und der um das Mädchen herumstehenden Freunde zurückgedrängt wurde, gebot der Herold Schweigen. Der Decemvir, außer sich vor Begierde, sagte, er habe nicht nur aus der gestrigen Scheltrede des Icilius und der Heftigkeit des Verginius, wofür er das römische Volk zum Zeugen habe, sondern auch durch zuverlässige Aussagen erfahren, dass während der ganzen Nacht in der Stadt Zusammenkünfte stattgefunden hätten um einen Aufruhr zu entfachen. Deshalb sei er im Wissen um diesen zu erwartenden Kampf mit Bewaffneten hergekommen, nicht um einen ruhigen Bürger zu verletzen, sondern um die, die die Ruhe der Bürgerschaft störten, kraft der Hoheit seines Amtes in die Schranken zu weisen. „Daher wird es besser sein, sich ruhig zu verhalten. Geh, Liktor“, sagte er, „dränge die Schar zurück und bahne dem Herrn den Weg, seine Sklavin zu ergreifen.“ Als er das voll Zorn mit donnernder Stimme gerufen hatte, ging die Menge von selbst auseinander und verlassen, eine Beute des Unrechts, stand das Mädchen da. Da sagte Verginius, als er nirgendwo mehr Hilfe sah: „Ich bitte dich, Appius, verzeihe zunächst dem Schmerz eines Vaters, wenn ich dich etwas zu hart angefahren habe. Dann lass mich hier im Angesicht des Mädchens die Amme befragen, wie die Sache sich verhält, damit ich, wenn ich zu Unrecht als Vater bezeichnet worden bin, mit größerer Gelassenheit von hier weggehe.“ Als er die Erlaubnis erhielt, führte er seine Tochter und die Amme beiseite in die Nähe des Heiligtums der Cloacina zu den Läden, die jetzt „die Neuen“ heißen. Hier entriss er einem Metzger das Messer und sagte: „Auf diese einzige Art, die mir möglich ist, Tochter, bewahre ich dir die Freiheit.“ Dann durchbohrte er die Brust des Mädchens und rief zur Gerichtstribüne zurückgewandt: „Dich, Appius, und dein Haupt verfluche ich mit diesem Blut.“ Bei dieser grausigen Tat erhob sich ein Schrei. Aufgeschreckt befahl Appius, den Verginius zu ergreifen. Der aber bahnte sich mit dem Messer, wo er ging, einen Weg, bis er, auch durch die Menge der Menschen, die ihm folgten, geschützt, zum Tor gelangte. Icilius und Numitorius hoben den leblosen Körper auf und zeigten ihn dem Volk. Sie beklagten das Verbrechen des Appius, die unselige Schönheit des Mädchens, die Zwangslage des Vaters.

 (Aus: Titus Livius, Römische Geschichte, Lateinisch und Deutsch, Buch 1-3, herausgegeben von Hans Jürgen Hillen, 3. Auflage, Patmos Verlag GmbH & Co.KG/Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf/Zürich, 1997)

 
Der Tod der Virginia führte in unmittelbarer Folge zu einem Volksaufstand gegen den Decemvir Appius Claudius. Bevor das Urteil über ihn gesprochen werden konnte, beging er Selbstmord.

 

Das bürgerliche Trauerspiel

 
Die Tragödie des 17. und frühen 18.Jahrhunderts zeigte im Mittelpunkt der Handlung stets eine Hauptfigur, die der Aristokratie angehörte. Tragische Schicksale - so scheint es - konnten nur Angehörige des ersten Standes haben, während die Schicksale niederer Standespersonen, also der Bürger und Bauern, als unerheblich galten. Bürger und Bauern taugten als komische Figuren. Die lächerlichen Bühnenhelden des französischen Komödiendichters Moliere, vom eingebildeten Kranken bis zu Tartuffe, waren Bürger, und die komische Figur der Volkskomödie war ein Bauer.

   England war das erste Land in Europa, in dem dieses vorwiegend ungeschriebene, teilweise aber auch geschriebene Gesetz seine Gültigkeit verlor. Dafür gibt es überzeugende sozialgeschichtliche Erklärungen. Englands wirtschaftliche Entwicklung verlief aus unterschiedlichen Gründen rascher als die des Kontinents. Handel und Gewerbe wurden schon bald zum wesentlichen wirtschaftlichen Faktor, und die industrielle Produktionsweise setzte nirgendwo so früh ein wie auf der Insel. Parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung vollzog sich daher die soziale Strukturveränderung. Das wirtschaftstreibende Bürgertum wurde neben dem Adel immer mehr zur herrschenden gesellschaftlichen Klasse, die Städte wurden neben den Fürstenhöfen zu kulturellen Zentren, und das Bürgertum fand nach und nach zu eigenständigen künstlerischen Ausdrucksweisen. Diesen Umständen verdankt das „Bürgerliche Trauerspiel“ seine Entstehung. Als Beispiel für diese Art von Dramatik soll hier kurz das Stück GEORGE BARNWELL OR THE MERCHANT OF LONDON erwähnt werden, das ein Juwelier namens George Lillo geschrieben hat und das in London im Jahr 1731 seine erste Aufführung erlebte.

   George Barnwell ist ein junger, bislang unbescholtener Mann aus bürgerlichem Haus, der auf die sprichwörtliche schiefe Bahn gerät, weil er einer verruchten Frau namens Millwood verfallen ist. Um ihre Zuneigung und Leidenschaft zu erkaufen, lässt er sich auf allerlei Unredlichkeiten ein. Als selbst die auf diese Weise erworbenen finanziellen Mittel nicht ausreichen, um die Luxusbedürfnisse der niederträchtigen Millwood zu befriedigen, scheut George Barnwell nicht einmal vor dem Mord zurück. Das Opfer dieser Tat ist ein Onkel, der sterbend noch ein Gebet für den missratenen Neffen spricht. Der junge Barnwell wird von der Polizei gefasst und stirbt am Galgen, aber die hexenähnliche Millwood entgeht letztlich auch nicht der verdienten Strafe, sodass das empörte Publikum doch noch zufrieden den Heimweg antreten kann.

   Diese Art des Theaters, für das GEORGE BARNWELL steht, erfreute sich in England großer Beliebtheit und erweckte aufgrund des Erfolgs nach und nach auch das Interesse des Kontinents. In Frankreich bemühte sich zum Beispiel der vorwiegend als Philosoph und Enzyklopädist bekannte Denis Diderot um das bürgerliche Drama und schuf selbst zwei Stücke dieser Art, DER NATÜRLICHE SOHN (Le fils naturel,1757) und DER FAMILIENVATER (Le pere de famille, 1758). Und Pierre Augustin Caron, besser bekannt unter dem Namen Beaumarchais, schuf mit seinem Figaro eine bürgerliche Komödienfigur, die für selbstbewusste französische Bürger durchaus ein Identifikationsangebot war.

   Die Bürger der deutschen Städte hatten zwar weder im ökonomischen und politischen noch im kulturellen Bereich den Entwicklungsstand der englischen Standesgenossen erreicht, aber selbst in Deutschland entstand im 18.Jahrhundert ein eigenständiges bürgerliches Drama. Den Anstoß dafür gab Gotthold Ephraim Lessing. Lessing sah 1754 in Hamburg die deutsche Erstaufführung des oben erwähnten Stücks GOERGE BARNWELL, und er ging sofort daran, ein deutsches Trauerspiel dieser Art zu schreiben. Schon ein Jahr später, am 10.7.1755, wurde in Frankfurt an der Oder das Trauerspiel MISS SARA SAMPSON uraufgeführt.

   Die tragische Hauptfigur des Stücks ist ein Mädchen aus dem Bürgertum, das den Verführungskünsten des Aristokraten Mellefont nicht widerstehen kann. Er hat sie dazu gebracht, mit ihm in einem Provinzgasthof abzusteigen. Sara erhofft sich eine ständige Bindung, Mellefont hält sie hin, indem er auf eine Erbschaftsklausel verweist. Während Sara und Mellefont im Provinzgasthof ihren Leidenschaften frönen, hat aber Marwood, Mellefonts ehemalige Geliebte, mit der er auch ein Kind hat, William Sampson, Saras Vater, über die Situation aufgeklärt. Beide, die Marwood und William Sampson, reisen unabhängig voneinander in die Provinz. Marwood will Mellefont zurückgewinnen. Sampson will, dass die Verbindung zwischen Sara und Mellefont legalisiert wird. Beider Vorhaben wird vereitelt. Als Mellefont Marwood zurückweist, vergiftet die tödlich beleidigte Frau ihre Nebenbuhlerin. Als Vater Sampson eintrifft, liegt seine Tochter bereits im Sterben. Angesichts des Unglücks, das er verschuldet hat, ersticht sich Mellefont neben Saras Leiche.

   MISS SARA SAMPSON war ein enormer Publikumserfolg. Berichte über die Uraufführung geben Auskunft über herzzerreißende Szenen im Zuschauerraum. Die Menschen sollen in Tränen ausgebrochen und Wildfremde sollen einander in die Arme gesunken sein. Diese starke emotionale Wirkung ist wohl nur dadurch zu erklären, dass Lessing in seinem Drama Probleme angesprochen hat, die den Menschen aus ihrem eigenen Erfahrungsbereich geläufig waren. Solch ein Problem der Zeit war wohl die Verführung naiver Bürgermädchen durch Aristokraten. Es ist sicher kein Zufall, dass dieses Motiv in mehreren deutschen Dramen des 18.Jahrhunderts handlungstragend geworden ist, so zum Beispiel in Heinrich Leopold Wagners KINDERMÖRDERIN, in Jakob Michael Reinhold Lenz’ SOLDATEN, in Friedrich Schillers KABALE UND LIEBE und natürlich auch in Goethes CLAVIGO und im FAUST.

 Auch Lessing selbst hat die Handlungsstruktur des bürgerlichen Trauerspiels noch einmal zur Grundlage eines Bühnenstücks gemacht. Bereits im Jahre 1757 wollte er die altrömische Geschichte der Virginia als modernes bürgerliches Trauerspiel bearbeiten. Sein Vorhaben wurde vorläufig vereitelt, als das von ihm geführte Deutsche Nationaltheater in Hamburg, das als Novität, nämlich als öffentliches bürgerliches Theater, gegründet worden war, schon nach drei Jahren nicht mehr finanzierbar war. Lessing musste nun einen Brotberuf annehmen und wurde Bibliothekar beim Herzog in Braunschweig. Der Plan, die Virginia-Sage zu modernisieren, musste unter diesen ungünstigen Bedingungen aufgeschoben werden. Erst fünfzehn Jahre später, am 13.3.1772, erlebte Lessings bürgerliches Trauerspiel EMILIA GALOTTI in Braunschweig seine Uraufführung. Ähnlich wie in MISS SARA SAMPSON ist auch in EMILIA GALOTTI ein Mädchen aus gutbürgerlicher Familie die tragische Hauptfigur.

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