Die Jüdin von Toledo (Interpretation)


FRANZ GRILLPARZER „DIE JÜDIN VON TOLEDO“

EINE VERSTÄNDNISHILFE

Christian Schacherreiter (2012)

 

Stoff- und Entstehungsgeschichte

Die Fabel des Dramas beruht auf einem historischen Ereignis, das über Jahrhunderte hin wiederholt Gegenstand unterschiedlichster Literarisierungen wurde. König Alfons VIII. von Kastilien (1158-1214) verliebte sich in eine schöne Jüdin. Um diese unerwünschte Affäre zu beenden, ließen Angehörige des spanischen Hochadels die junge Frau ermorden. Dieser Vorfall wurde zum poetischen Material vieler Balladen, Romanzen, Dramen, Vers- und Prosaerzählungen.  Franz Grillparzer las bereits im Jahr 1809 die Erzählung „Rachel ou la belle juive“ von Jacques Gazotte. 1816 stieß er in der „Historia general de España“ von Juan Mariana erneut auf diese Liebesgeschichte von staatspolitischer Bedeutung. Vor allem wurde Grillparzer von der Dramatisierung des Stoffes durch Lope de Vega beeinflusst („Las paces de los reyes, y la Judia de Toledo“, 1616). Bereits 1824 konzipierte Grillparzer das Schauspiel. Die Fertigstellung fällt allerdings erst in die Fünfzigerjahre des 19.Jhs. Daher gehört „Die Jüdin von Toledo“ neben „Libussa“ und „Der Bruderzwist in Habsburg“ zu den Dramen, die zu Grillparzers Lebzeiten nicht mehr aufgeführt worden sind. Nach dem eklatanten Misserfolg seines Lustspiels „Weh dem, der lügt“ (1838) war der Dichter bekanntlich so gekränkt und enttäuscht, dass er sich entschloss, nichts mehr zu veröffentlichen. „Die Jüdin von Toledo“ wurde erst 1872, kurz nach Grillparzers Tod, uraufgeführt - mit bescheidenem Erfolg. Heute sind sich führende Theaterkritiker und Literaturwissenschaftlicher darin einig, dass „Die Jüdin von Toledo“ zum Besten gehört, das die deutschsprachige Bühnenliteratur zu bieten hat, und zwar nicht nur aufgrund der inhaltlichen Relevanz und der sprachlichen Qualität, sondern auch wegen der Bühnenwirksamkeit, die der vorzügliche „Handwerker“ Franz Grillparzer durch den spannenden Aufbau des Schauspiels und durch gezielte dramatische Kunstgriffe ermöglicht hat. Freilich bedarf es eines ebenso vorzüglichen Regisseurs und sehr guter Schauspieler, die imstande sind, die intelligente Textstruktur aus verbalen und nonverbalen Zeichen, aus symbolischen Räumen und Requisiten nachvollziehbar zu machen.

Die Exposition

In der Exposition des Stücks zeigt Grillparzer zunächst den königlichen Garten in Toledo. Die junge Jüdin Rahel übertritt aus Übermut das Verbot, diesen Garten zu betreten. Vergeblich versuchen sie ihr Vater Isaac und ihre Schwester Esther zurückzuhalten. Am Anfang des Geschehens steht also die Störung der gesellschaftlichen Ordnung, eine Störung, die harmlos wirkt, die aber schwerwiegende Folgen haben wird.

König Alfons und seine Gattin Eleonore treten auf, begleitet vom Hofstaat. Grillparzer stellt seinen männlichen Protagonisten als Volkskönig vor. Er lässt Alfons erzählen, dass er, dessen Erbfolge von eines „bösen Oheims Wüten“ bedroht war, nur der Treue zuverlässiger Untertanen seinen Thron verdankt. Der junge König hat die Erwartungen der Stände, die ihn unterstützt haben, offensichtlich nicht enttäuscht. Manrique, Graf von Lara, der dem König als Kind die früh verstorbenen Eltern ersetzt hat, rühmt die Tugenden des Monarchen mit unüberbietbaren Superlativen:
„Seht ihn nur an mit Eurem holden Blick;
Denn so viel Kön’ge noch in Spanien waren,
Vergleicht sich keiner ihm an hohem Sinn.“

 Alfons wird von Grillparzer auf den höchsten Sockel gestellt. Umso größer und beeindruckender ist freilich auch die Fallhöhe, die den König bedrohen wird.

Dass sein strahlendes Dasein nicht ungefährdet ist, deutet der König selbst an, ohne dass der Figur dies bewusst ist. Ihm, dem von Kindheit an der Kampf um die Herrschaft als politische Pflicht aufgebürdet und der schon früh mit einer „strengen“ englischen Prinzessin verheiratet worden ist, ihm blieb nach eigener Aussage „kein Blick für dieses Lebens Güter, / Und was da reizt und lockt, lag fern und fremd.“ Die Sehnsucht des jungen Mannes nach dem unbeschwerten Leben, nach Schönheit und sinnlichem Genuss wird mit diesen Zeilen angedeutet, und unmittelbar nach dieser Aussage gibt Grillparzer ein Zeichen dafür, dass Eleonore diese bislang unerfüllten Bedürfnisse ihres Mannes nicht teilen kann. Alfons hat den neuen Garten nach englischem Stil anlegen lassen, um seine aus England stammende Frau dadurch zu erfreuen. Sie bemerkt aber diese Aufmerksamkeit nicht, was Alfons verstimmt. Mit dem Satz „Der Tag hat einen Riß“, den Grillparzer den König aussprechen lässt, wird darauf verwiesen, dass die Harmonie des Hofes unter der künstlich geglätteten  Oberfläche bereits gestört ist.

Enttäuscht vom Verlauf des Spaziergangs durch den Garten wendet sich der König seinen Pflichten zu. Dem Land droht Krieg. Garceran, der Sohn des Grafen von Lara und folglich ein Jugendfreund des Königs, kommt von den Grenztruppen zurück und meldet, dass sich die Mauren zu einem Entscheidungsschlag gegen das Königreich Kastilien rüsten. Diese Bedrohung hat im Land Verunsicherung, irrationale Ängste, Nervosität und Aggressionen ausgelöst, die sich nicht nur gegen die Mauren, sondern gegen alle „Andersgläubigen“, vor allem gegen die Juden, richten.

In diesem Handlungsabschnitt positioniert Grillparzer die erste Begegnung zwischen Rahel und König Alfons. Rahel, Esther und Isaac sind festgenommen worden, weil sie den königlichen Garten betreten haben. Rahel wirft sich vor dem König nieder, „seinen rechten Fuß umklammernd, das Haupt zu Boden gesenkt“ (Regieanweisung). Diese Begegnung wird zum „erregenden Moment“ im Doppelsinn des Wortes. Grillparzer initiiert dadurch die steigende Handlung seines Dramas, das er fast idealtypisch nach der klassischen Bauform Exposition -erregendes Moment - steigende Handlung - Peripetie - fallende Handlung - Katastrophe strukturiert hat. Und weiters wird die schöne Jüdin an seinem Bein für den König auch in erotischer Hinsicht zum „erregenden Moment“. Seine Vorstellungen von der Wirkung der ersten Begegnung auf Alfons hat Grillparzer 1824 in seinem Tagebuch so beschrieben:

„(...) ihre Arme umfassen seine Füße, ihr üppiger Busen wogt an seine Knie gepreßt - und der Schlag ist geschehen. Das Bild dieser schwellenden Formen, dieser wogenden Kugeln (unter diesem Bilde sind sie seinen Sinnen gegenwärtig) verläßt ihn nicht mehr.“

Rahel, Esther und Isaac bleiben vorläufig auf dem königlichen Schloss, vordergründig, damit sie vor antisemitischen Anschlägen geschützt werden, tatsächlich aber, weil Alfons der sexuellen Anziehungskraft des Mädchens bereits verfallen ist.

Die steigende Handlung

Im 2.Akt setzt Franz Grillparzer eine Fülle von Zeichen, die auf die wachsende Zuneigung zwischen Rahel und Alfons verweisen. Alfons erkundigt sich in einem Gespräch unter Männern beim erfahreneren Garceran (Garcerans erotische Erfahrungen werden durch die Doña-Clara-Nebenhandlung angedeutet), mit welchen Mitteln und Methoden man am besten Frauen verführt. Wesentliche Bedeutung gewinnen in diesem Abschnitt auch einige Requisiten: Rahel wurde vorübergehend als Aufenthaltsort das Gartenhaus zugewiesen, in dem sie Kostüme vom letzten Fastnachtsspiel findet. Sie setzt sich eine Federkrone auf den Kopf und legt einen goldbestickten Mantel um ihre Schultern, d.h. sie spielt Königin wie ein kleines Mädchen. Ein Bild des Königs nimmt Rahel aus dem Rahmen und heftet es mit Nadeln an einen Stuhl, eine an sich harmlose Handlung, die aber vom König - und später auch von der Königin - als geheimnisvolles Zeichen interpretiert wird, insbesondere als Rahel eine Nadel in das Herz der gemalten Figur stößt.

Die Anwesenheit des Königs im Gartenhaus wird von Eleonore und dem Hofstaat bemerkt und mit äußerstem Befremden zur Kenntnis genommen. Der Schritt zum Skandal ist gemacht. Esther, die umsichtige und stets von humaner Vernunft geleitete Schwester, drängt zum Aufbruch, denn sie ahnt, dass diese konfliktträchtige Situation, in die Rahel die Familie gebracht hat, schlimme Folgen haben kann. Esther - sie ist übrigens die einzige uneingeschränkt positive Figur des Dramas - scheint es tatsächlich zu gelingen, Rahel aus dem Umfeld des Hofes zu ziehen. Die Gefahr scheint gebannt, aber Rahel lässt ein Medaillon mit ihrem Bild zurück. Vergeblich versucht sich Alfons von diesem Bild zu trennen. Er schleudert es sogar zu Boden - beinah eine rituelle, beschwörende Handlung. Letztlich kann er sich aber von Rahels Bild nicht lösen. Die Gebärden sind symbolisch; der äußere Vorgang repräsentiert den innerseelischen Zustand des Protagonisten. Das Bild der schönen, sinnlichen Frau ist nicht mehr auszulöschen.

Die im 2.Akt dargestellte Entwicklung wird im 3.Akt fortgesetzt und zum Höhepunkt geführt. An den Beginn des 3.Akts setzt Grillparzer eine Szene, die erstens zeigt, dass nun einige Zeit vergangen ist, dass er in der dramatischen Gestaltung einen Teil der kontinuierlich fließenden Zeit ausgespart hat. Vor allem ist aber der Szene zu entnehmen, dass Rahel mittlerweile auf den König erheblichen Einfluss gewonnen hat. Isaac entscheidet über Gesuche von Bittstellern, die sich an den König wenden, und er nützt diese Machtposition schamlos aus, indem er sich die königliche Gunst von den Bittstellern gut bezahlen lässt. Grillparzer skizziert hier das Bild des geldgierigen, listigen Juden, das bedenkliche antisemitische Ressentiments zur Grundlage hat.

Der König selbst nimmt die Vorgänge an seinem Hof offensichtlich nicht mehr wahr. Er ist blind - weniger vor Liebe als vor Leidenschaft und Wollust. Gemeinsam mit Rahel, begleitet von Musikanten, betritt er den Garten des Lustschlosses. Er genießt nun in vollen Zügen, was ihm in seiner Jugend vorenthalten worden ist. Rahel, entzückt von ihrer gegenwärtigen Lebensweise, spielt mit Alfons hingebungsvoll das Tändelspiel der Geschlechter, allerdings - und das ist nicht unwesentlich - nicht nur mit Alfons, sondern ein wenig auch mit Garceran. Sie spielt die beiden Männer gegeneinander aus. Grillparzer zeigt Rahel hier nicht eigentlich als die emotionale Frau, die sich unsterblich in einen Mann verliebt hat, der aus gesellschaftlichen Gründen nicht der Ihre werden kann. Sie ist keine Luise Miller („Kabale und Liebe“), sondern erinnert viel eher - Dieter Borchmeyer hat bereits darauf hingewiesen - an Frank Wedekinds Lulu-Figur. Sie ist ein Natur- und Triebwesen, das in das erotische Getändel und in den Glanz des Hofes verliebt ist und die Situation, in die sie geraten ist, treffender gesagt: die sie provoziert hat, auf narzisstische Weise auslebt. Rahels Verhalten schwankt zwischen kindischer Launenhaftigkeit und Laszivität, zwischen scheinbarer Naivität und erotischer Raffinesse. Sie ist trotziges Mädchen und Femme fatale, hilfloses Kindchen und Vamp; und gerade in dieser nur scheinbar widersprüchlichen Mischung (Typus Kindfrau) für den König zwar nicht liebenswert  im umfassenden Sinn des Wortes, sehr wohl aber sexuell stimulierend.

Dass König Alfons aufgrund seiner Leidenschaft für Rahel seine Pflichten als Herrscher völlig vernachlässigt, verdeutlicht Grillparzer unter anderem durch die zeichenhafte Handhabung von Requisiten. Das erotische Spiel Rahel-Garceran-Alfons wird unterbrochen, als Garceran dem König die bedenkliche militärische Lage bewusst macht. Alfons kann die politische Realität und damit seine soziale Rolle als Herrscher nicht mehr zugunsten seiner privaten Männerphantasien verdrängen. Er lässt sich Helm, Lanze, Schild und Brustharnisch bringen, um zu seinem Heer zurückzukehren. Was aber macht Rahel mit den Waffen und der Rüstung des Königs? Die Lanze verwendet sie als Stütze für ein Sonnendach, den Schild als Spiegel, und den Helm setzt sie sich selbst auf den Kopf, weil er ihr wie geschaffen scheint für „der Liebe Streit“(S.38). Diese geradezu kabarettistische Entwaffnung des Königs ist gleichzeitig seine psychische Entwaffnung, ist die Demontage seines freien Willens.

Dieses retardierende Moment kann aber den Wendepunkt der Handlung nur kurzfristig hinauszögern, verhindern kann es ihn nicht. Esther berichtet, dass Eleonore und die Fürsten offensichtlich entschlossen sind, den Lauf der Dinge mit allen Mitteln abzubrechen:
„Erlauchter Herr und Fürst! Die Königin
Hat von Toledos Mauern sich entfernt
Nach jenem Lustschloß wo zum erstenmal
Zu unserm Unheil, Herr, wir Euch gesehn.
(Zu Garceran) Zugleich mit ihr ging Euer edler Vater
Manrique Lara, rings mit offnen Briefen
Bescheidend all des Reiches Standesherrn
Um zu beraten das gemeine Beste.
Als wäre herrenlos das Königreich
Und Ihr gestorben, der Ihr Herr und König.“

 Als König ist Alfons tatsächlich so gut wie gestorben, denn er hat seine soziale Rolle nicht mehr wahrgenommen. Nun kommt er aber zur Besinnung. Am Ende des 3.Akts verlässt er Rahel. Mit dem Beginn des 4.Akts ist die Peripetie erreicht.

 Fallende Handlung und Katastrophe

Die spanische Hocharistokratie und Königin Eleonore haben sich zur Beratung versammelt. Noch einmal zeigt Grillparzer, dass auch die unsinnliche, geradezu auf Frigidität verweisende  Persönlichkeit Eleonores ein Grund für die Ehekrise ist, die im vorliegenden Fall gleichzeitig Staatskrise ist. Eleonores Aussagen über Ehe und Sexualität sprechen für sich selbst:
„Ist denn die Ehe nicht das Heiligste,
Da sie zu Recht erhebt was sonst verboten,
Und was ein Greuel jedem Wohlgeschaffnen,
Aufnimmt ins Reich der gottgefäll’gen Pflicht?“

Die Staatsräson, argumentativ vertreten durch den Grafen von Lara, und die normative Moral, vertreten durch die Königin, setzen sich durch. Auf die von Manrique suggestiv vorgetragene Frage, was unter den gegebenen Umständen mit der Jüdin zu geschehen habe, antwortet Eleonore: Sie ist zu töten. Die Fürsten schreiten zur Tat.

Eine der großartigsten Szenen des Schauspiels ist der nun folgende Dialog zwischen Eleonore und Alfons, der mittlerweile an den Hof zurückgekehrt ist. Grillparzer zeigt auf ebenso faszinierende wie auch bedrückende Weise, dass beide Ehepartner grundsätzlich gewillt sind, die Krise zu bereinigen und einen Neubeginn zu setzen, dass aber Wille, Vernunft und Bewusstsein an der Übermacht der Emotionen und des Unbewussten scheitern. Die Spannung zwischen Worten und Gestik macht den Kampf des Willens mit den Kräften des Unbewussten deutlich.

„Lenore, sei gegrüßt!“ sagt Alfons und streckt seiner Gattin die Hand entgegen. Lenore heißt Alfons willkommen, ergreift aber seine Hand nicht. Alfons besteht auf der Hand, und schließlich - nach einigem Zögern - zeigt die strenge, spröde Frau Emotionen und streckt Alfons spontan beide Hände entgegen. Statt diese spontane Zuwendung herzlich zu erwidern, z.B. durch eine Umarmung, wird aber Alfons auf befremdliche Weise pedantisch:
„Nicht beide Hände!
Die Rechte nur, obgleich dem Herzen ferner,
Gibt man zum Pfand von Bündnis und Vertrag,
Vielleicht um anzudeuten, nicht nur das Gefühl,
Das seinen Sitz im Herzen aufgeschlagen,
Auch der Verstand, des Menschen ganzes Wollen
Muß Dauer geben dem was man versprach;(...)“

 In einem Augenblick, in dem Eleonore - erstmals! - rückhaltlos ihre Zuneigung zeigen will, redet plötzlich der König - ohne dass ihm dieses unangemessene Verhalten bewusst wird - von Vertrag, Verstand und Bündnis, zerstört also - wie gesagt, unbewusst - die Versöhnung schon im Ansatz. In der Folge versucht Alfons sein ehebrecherisches und pflichtvergessenes Verhalten als Krankheit zu erklären (und dadurch zu entschuldigen), die nur Symptom für eine neue Entwicklungsphase sei. Alfons will Eleonore erklären, dass er damit eine neue Entwicklungsphase ihrer Ehe meint. Er entwickelt die private Utopie einer Liebesbeziehung im „Kreis der Häuslichkeit“, / Nun doppelt süß durch zeitliches Entbehren.“ Diesen Hinweis auf eine neue Qualität der Ehe durch Integration des Emotionalen und Erotischen in eine Partnerschaft, die bisher fast ausschließlich auf Tugend und Pflichterfüllung gegründet war, will oder kann Eleonore nicht annehmen. Sie antwortet abweisend: „Wenn du’s begehrst, ich selbst vermiß es nicht.“ Alfons scheint diesen völlig ernüchternden Satz zu überhören. Er setzt sein Werben um die eigene Frau fort, gebraucht jetzt allerdings untaugliche Mittel. Er will über das Geschehene, über sein Verhältnis mit Rahel nicht mehr reden, er spricht sich selbst von seinen „Sünden los“ und meint anscheinend, damit könne er die Kränkung und Demütigung, die Eleonore erlitten hat, aus der Welt schaffen. Diese Illusion muss enttäuscht werden. Die Königin spricht sehr wohl vom Geschehenen, und plötzlich entdeckt sie, dass Alfons immer noch das Medaillon mit Rahels Bild an seiner Brust trägt. Dieses Bild wird nun erneut zum aussagekräftigen Requisit. Der König legt zwar die Kette ab, an der das Medaillon hängt, aber im Laufe des Gesprächs, in dem Alfons geradezu krampfhaft bemüht ist, den „Zauber“, den Rahel auf ihn ausgeübt hat, als bloße Laune zu bagatellisieren, hält er das soeben abgelegte Bild plötzlich wieder in der Hand, und kurze Zeit später legt er die Kette wieder um den Hals, ohne es selbst zu bemerken. Die Handlungen des Königs, gesteuert von Kräften des Unbewussten, sind „ehrlicher“ als seine bewusst gewählten Worte. Der als Versöhnungsgespräch konzipierte Dialog endet mit einem Fiasko. Während Alfons immer noch wortreich an der Bereinigung der Situation arbeitet, zieht sich die Königin in ihr Zimmer zurück. Alfons, nun völlig in seine Emotionen verstrickt, ist irritiert, wütend und zutiefst empört:

„Ich will zu ihr! - Die Tür verschlossen?
(Die Türe mit einem Fußtritt sprengend) Auf!
So nehm ich mir im Sturm mein häuslich Glück.
(Er geht hinein)“

 m Sturm das häusliche Glück nehmen - mit dieser Metapher deutet Grillparzer wohl eine Vergewaltigung an. Die Thematisierung sexueller Gewalt in der Ehe, noch dazu in einer königlichen Ehe, ist nach den sittlichen Maßstäben des 19.Jhs. eine ungeheurer Tabubruch.

Der Schluss des Stücks folgt der Logik der angebahnten Katastrophe. Rahel wird ermordet. Angesichts der Leiche erlischt die Leidenschaft des Königs. Befremdet von dem, was mit ihm passiert ist, unterwirft er sich nun wieder seinen Pflichten als Herrscher. Er zieht in den Krieg gegen die Mauren und erwartet dabei wohl auch ein Gottesurteil. Sein Ausruf „Voraus! Voran! Geliebt es Gott: zum Sieg.“ beendet aber das Stück noch nicht. Das Schlusswort, in dem einseitige Schuldzuweisungen relativiert werden, lässt Grillparzer Esther sprechen: „Wir stehn gleich jenen in der Sünder Reihe;/ Verzeihn wir denn, damit uns Gott verzeihe.“

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Zitate aus der Reclam-Ausgabe der „Jüdin von Toledo“ (Stuttgart 1999)

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