Erschienen in: DIE FURCHE 2/2024, 10.1.24
Der liberale Rechtsstaat und die parlamentarische Demokratie
– Klügeres und Menschenfreundlicheres konnten Völker in ihrer jeweiligen
Geschichte bislang nicht hervorbringen. Dennoch ist dieses politische System
weltweit nicht mehrheitsfähig und viele Beispiele zeigen, dass es keine
Garantie für seinen dauerhaften Bestand gibt. Bedroht wird der demokratische
Rechtsstaat nicht nur von äußeren Feinden, sondern auch von internen Skeptikern
und Gegnern, die zwar gerne die Vorteile des „Systems“ nützen, nicht zuletzt
aber dazu, es lautstark zu diffamieren.
Die Systemkritiker findet man auf der rechten und auf der
linken Seite des politischen Spektrums. Viktor Orban hat in Ungarn anschaulich
demonstriert, wie man die Gewaltenteilung verwässert und die Medienfreiheit
aushöhlt. Auch in Österreich kündigte Manfred Haimbuchner (FPÖ) vollmundig an,
ein „Volkskanzler“ Kickl werde den Journalist/innen Benehmen beibringen. Wie,
bitte, dürfen wir uns Kickls Erziehungsanstalt vorstellen? Und was ist
eigentlich ein „Volkskanzler“?
Bestellung, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen
eines Bundeskanzlers sind in unserer Verfassung klar geregelt. Der „Volkskanzler“
ist ein fragwürdiges Alternativmodell, das wir aus faschistischen Ideologien
kennen. Es stilisiert den Kanzler zum mythischen Träger eines kollektiven
Willens, den Gewählten zum Erwählten, den Regierungschef zum
„Führer“. Aus ihm spricht die „Volksbewegung“, und wer dieser Stimme
widerspricht, bekommt schnell einmal das Schild „Volksfeind“ umgehängt. Wie
solch eine „illiberale Demokratie“ in der Praxis funktioniert, kann man an
Putins Russland eindrucksvoll studieren.
Auch die sozialistische Linke muss man von Zeit zu Zeit
daran erinnern, dass sich im Laufe ihrer facettenreichen Geschichte nur die
gemäßigte, sozialdemokratische Linie mit der parlamentarischen Demokratie
angefreundet hat. Für alle anderen Erben des Marxismus waren Parlamentarismus und
Mehrparteiensystem nur der staatsrechtliche „Überbau“ der kapitalistischen
Produktions- und Eigentumsverhältnisse, also die politische Form bürgerlicher
Klassenherrschaft. Bestenfalls taugte das Parlament als Agitationsraum und als strategische
Aufstiegshilfe zu Machtpositionen, von denen aus jene „Rätedemokratie“ erkämpft
werden sollte, die realpolitisch nie etwas anderes war als die totalitäre
Herrschaft der Partei.
Diese verheißungsvollen Alternativen zum kritisierten
„System“ mögen sich alle vor Augen führen, die heute unter ausgiebiger Nutzung
ihrer bürgerlichen Freiheiten lautstark als „Systemkritiker“ auftreten. Auf
Recht und Gesetz berufen sich diese kompromisslosen Selbstermächtiger aller
Farben und Ideen nur dann, wenn ihre eigenen Vorstellungen und Interessen
bedient werden. Ist das nicht der Fall, stellt sich das große Unbehagen ein.
Das geltende Recht und seine Institutionen werden zu bösen Orten des Unrechts
uminterpretiert, nicht selten im Kontext haarsträubender Verschwörungsideologien.
Der Typus des konsequenten Systemkritikers (meist männlich,
aber nicht nur) gefällt sich in der heroischen Pose des Widerstandskämpfers.
Das gilt für die Corona-Leugner, die trotz bedrohlicher Infektionszahlen in
U-Bahnen und Supermärkten als Rächer ohne Maske aufgetreten sind. Es gilt aber
auch für die Klimakämpfer, die sich auf gut frequentierten Straßen
einbetonieren, unter Berufung darauf, dass Rechtsfragen überflüssig werden,
wenn es darum geht, die Apokalypse zu verhindern.
Der religiös motivierte Widerstand neigt in pluralistischen
Demokratien besonders dann zum selbstgerechten Rechtsbruch, wenn er das
göttliche Gesetz über das säkulare stellt. Dann patrouillieren jugendliche
Tugendwächter durch die Straßen ihres Viertels und „bestrafen“ Mädchen und
Frauen, die sich nicht nach Allahs Modegeschmack kleiden. Man muss allerdings
auch christliche Glaubensgenossen bisweilen daran erinnern, dass Asylverfahren
in letzter Instanz von Gerichten entschieden werden, nicht von Pfarrgemeinden –
so gut ihre Absichten auch sein mögen.
Spontanes oder moralisch motiviertes Rechtsempfinden ist eine Sache, reflektiertes Rechtsbewusstsein eine andere. Ich gehöre nicht zu den
Zeitgenossen, die bei jedem gesellschaftlichen Problem gleich die Verantwortung
der Schule einfordern. Wenn es um die Ausbildung eines tragfähigen
Rechtsbewusstseins geht, scheint mir aber die Schule tatsächlich ein wichtiger
früher Lernort zu sein, denn auch sie ist – glücklicherweise! – kein
rechtsfreier Raum. Das Schulunterrichtsgesetz, die
Leistungsbeurteilungsverordnung u.a.m. bestimmen den Rahmen, in dem Schule und
Unterricht gestaltet werden.
Darauf berufen sich Eltern gerne, wenn sie die Interessen
ihrer Kinder gewahrt wissen wollen. Aber wie oft habe ich in meinen sozialpsychologisch
ergiebigen Arbeitsjahren als Direktor auch den Vorwurf gehört, diese und jene
Lehrkraft unterrichte „stur nach dem Lehrplan“. Nun ja, wonach denn sonst?
Lehrpläne sind keine unverbindlichen Empfehlungen, sondern Gesetzestexte.
Umgekehrt hat mir einmal ein Lehrer, den ich auf seine bizarre Didaktik und
rechtsferne Notengebung hinwies, selbstbewusst entgegengedonnert: „Ich bin
Lehrer nach Gewissen, nicht nach Gesetz!“ Meinetwegen, allerdings nicht in
einer öffentlichen Schule, sondern nur als privatisierender Wanderpädagoge.
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