Dienstag, 23. Januar 2024

Kulturbrief 11: Das Unbehagen im Rechtsstaat

Erschienen in: DIE FURCHE 2/2024, 10.1.24

Der liberale Rechtsstaat und die parlamentarische Demokratie – Klügeres und Menschenfreundlicheres konnten Völker in ihrer jeweiligen Geschichte bislang nicht hervorbringen. Dennoch ist dieses politische System weltweit nicht mehrheitsfähig und viele Beispiele zeigen, dass es keine Garantie für seinen dauerhaften Bestand gibt. Bedroht wird der demokratische Rechtsstaat nicht nur von äußeren Feinden, sondern auch von internen Skeptikern und Gegnern, die zwar gerne die Vorteile des „Systems“ nützen, nicht zuletzt aber dazu, es lautstark zu diffamieren.

Die Systemkritiker findet man auf der rechten und auf der linken Seite des politischen Spektrums. Viktor Orban hat in Ungarn anschaulich demonstriert, wie man die Gewaltenteilung verwässert und die Medienfreiheit aushöhlt. Auch in Österreich kündigte Manfred Haimbuchner (FPÖ) vollmundig an, ein „Volkskanzler“ Kickl werde den Journalist/innen Benehmen beibringen. Wie, bitte, dürfen wir uns Kickls Erziehungsanstalt vorstellen? Und was ist eigentlich ein „Volkskanzler“?

Bestellung, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen eines Bundeskanzlers sind in unserer Verfassung klar geregelt. Der „Volkskanzler“ ist ein fragwürdiges Alternativmodell, das wir aus faschistischen Ideologien kennen. Es stilisiert den Kanzler zum mythischen Träger eines kollektiven Willens, den Gewählten zum Erwählten, den Regierungschef zum „Führer“. Aus ihm spricht die „Volksbewegung“, und wer dieser Stimme widerspricht, bekommt schnell einmal das Schild „Volksfeind“ umgehängt. Wie solch eine „illiberale Demokratie“ in der Praxis funktioniert, kann man an Putins Russland eindrucksvoll studieren.

Auch die sozialistische Linke muss man von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass sich im Laufe ihrer facettenreichen Geschichte nur die gemäßigte, sozialdemokratische Linie mit der parlamentarischen Demokratie angefreundet hat. Für alle anderen Erben des Marxismus waren Parlamentarismus und Mehrparteiensystem nur der staatsrechtliche „Überbau“ der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, also die politische Form bürgerlicher Klassenherrschaft. Bestenfalls taugte das Parlament als Agitationsraum und als strategische Aufstiegshilfe zu Machtpositionen, von denen aus jene „Rätedemokratie“ erkämpft werden sollte, die realpolitisch nie etwas anderes war als die totalitäre Herrschaft der Partei.

Diese verheißungsvollen Alternativen zum kritisierten „System“ mögen sich alle vor Augen führen, die heute unter ausgiebiger Nutzung ihrer bürgerlichen Freiheiten lautstark als „Systemkritiker“ auftreten. Auf Recht und Gesetz berufen sich diese kompromisslosen Selbstermächtiger aller Farben und Ideen nur dann, wenn ihre eigenen Vorstellungen und Interessen bedient werden. Ist das nicht der Fall, stellt sich das große Unbehagen ein. Das geltende Recht und seine Institutionen werden zu bösen Orten des Unrechts uminterpretiert, nicht selten im Kontext haarsträubender Verschwörungsideologien.

Der Typus des konsequenten Systemkritikers (meist männlich, aber nicht nur) gefällt sich in der heroischen Pose des Widerstandskämpfers. Das gilt für die Corona-Leugner, die trotz bedrohlicher Infektionszahlen in U-Bahnen und Supermärkten als Rächer ohne Maske aufgetreten sind. Es gilt aber auch für die Klimakämpfer, die sich auf gut frequentierten Straßen einbetonieren, unter Berufung darauf, dass Rechtsfragen überflüssig werden, wenn es darum geht, die Apokalypse zu verhindern.

Der religiös motivierte Widerstand neigt in pluralistischen Demokratien besonders dann zum selbstgerechten Rechtsbruch, wenn er das göttliche Gesetz über das säkulare stellt. Dann patrouillieren jugendliche Tugendwächter durch die Straßen ihres Viertels und „bestrafen“ Mädchen und Frauen, die sich nicht nach Allahs Modegeschmack kleiden. Man muss allerdings auch christliche Glaubensgenossen bisweilen daran erinnern, dass Asylverfahren in letzter Instanz von Gerichten entschieden werden, nicht von Pfarrgemeinden – so gut ihre Absichten auch sein mögen.

Spontanes oder moralisch motiviertes Rechtsempfinden ist eine Sache, reflektiertes Rechtsbewusstsein eine andere. Ich gehöre nicht zu den Zeitgenossen, die bei jedem gesellschaftlichen Problem gleich die Verantwortung der Schule einfordern. Wenn es um die Ausbildung eines tragfähigen Rechtsbewusstseins geht, scheint mir aber die Schule tatsächlich ein wichtiger früher Lernort zu sein, denn auch sie ist – glücklicherweise! – kein rechtsfreier Raum. Das Schulunterrichtsgesetz, die Leistungsbeurteilungsverordnung u.a.m. bestimmen den Rahmen, in dem Schule und Unterricht gestaltet werden.

Darauf berufen sich Eltern gerne, wenn sie die Interessen ihrer Kinder gewahrt wissen wollen. Aber wie oft habe ich in meinen sozialpsychologisch ergiebigen Arbeitsjahren als Direktor auch den Vorwurf gehört, diese und jene Lehrkraft unterrichte „stur nach dem Lehrplan“. Nun ja, wonach denn sonst? Lehrpläne sind keine unverbindlichen Empfehlungen, sondern Gesetzestexte. Umgekehrt hat mir einmal ein Lehrer, den ich auf seine bizarre Didaktik und rechtsferne Notengebung hinwies, selbstbewusst entgegengedonnert: „Ich bin Lehrer nach Gewissen, nicht nach Gesetz!“ Meinetwegen, allerdings nicht in einer öffentlichen Schule, sondern nur als privatisierender Wanderpädagoge.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen