Nein, die Philosophie ist nicht überflüssig geworden, weder
ersetzbar durch Biowissenschaften noch durch Soziologie und schon gar nicht
durch künstliche Intelligenz. Geben wir die Philosophie auf, dann verabschieden
wir uns vom Grundvertrauen in die Reflexionskraft unserer Vernunft, also vom
Kern des europäischen Menschenbilds. Wer für die Glaubwürdigkeit dieser These
einen Beleg braucht, dem sei der jüngst erschienene dritte Band von „Zeilen und
Tage“ empfohlen.
Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk schreibt seit
Jahrzehnten jeden Morgen persönliche Wahrnehmungen und Überlegungen nieder. Die
ersten beiden Bände umfassen die Jahre 2008 bis 2013, „Zeilen und Tage III“ die
Jahre 2013-2016. Privates und Alltägliches fehlt nicht völlig in Sloterdijks
Tagebüchern, es tritt aber zurück hinter den teils ausführlichen, teils knappen
Reflexionen zu Politik, Kultur und Gesellschaft.
Seine Themen entnimmt Peter Sloterdijk oft dem medialen Mainstream,
seine Denkarbeit folgt aber nicht bequemen, das heißt bekannten und im Juste
Milieu akzeptierten Wegen. Im Gegenteil, er setzt gerne dort an, wo
ideologische Schimären und moralische Dogmen den klaren Blick vernebeln. Deutlich
zeigt sich dieses Phänomen bei den Themen Migration und Wohlfahrtsstaat. Sloterdijk
gab sich schon im Jahr 2015 nicht mit der Wir-schaffen-das-Parole zufrieden,
sprach von der drohenden Überforderung der Mehrheitsgesellschaft und vom religiösen
Politikverständnis vieler Muslime, das mit dem säkularen Verfassungsstaat
unvereinbar ist.
Dass ihm von Gegnern „rechtes“ Denken unterstellt wurde,
hielt er aus, ebenso die Entrüstung, die er sich im Laufe der
Griechenland-Krise zuzog, als er nüchtern feststellte, dass auch Staatsschulden
richtige Schulden sind. „Ist der Schuldner ein Staat“, schreibt Sloterdijk,
„neigen manchen Apologeten zu der Behauptung, der Geldgeber sei an dem Mißstand
schuldiger als der Kreditnehmer. (…) Augstein junior meint geradezu, Frau
Merkel haben den Griechen Kredite ohne Ende aufgezwungen und am Ende die
Unverfrorenheit besessen, ihnen nur die Hälfte davon zu erlassen.“
Die Lektüre von Peter Sloterdijks Texten ist nicht nur ein
intellektuelles, sondern auch ein sprachliches Vergnügen, insbesondere dann,
wenn er seine Sichtweisen zu pointierten Aphorismen verdichtet: „Was ist
konservativ? An erster Stelle die Bereitschaft, Revolutionsnebenkosten zu
berechnen.“ Gewiss denkt der 1947 geborene Philosoph auch ans eigene Alter,
wenn er schreibt: „Im Lebensabendland, wo die Schatten lang werden, folgst du
am besten der Devise: Bleib bei den bisherigen Übungen!“ Dass er seine „Übungen“
noch lange fortsetzen kann, wünschen ihm zu Jahresbeginn seine Leserinnen und
Leser.
Peter Sloterdijk: „Zeilen und Tage III. Notizen 2013-2016“,
Suhrkamp Verlag, 598 Seiten, 35 Euro
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