Freitag, 12. Januar 2024

Kulturbrief 10: Meine OÖN-Rezension zu "Zeilen und Tage III" von Peter Sloterdijk


Nein, die Philosophie ist nicht überflüssig geworden, weder ersetzbar durch Biowissenschaften noch durch Soziologie und schon gar nicht durch künstliche Intelligenz. Geben wir die Philosophie auf, dann verabschieden wir uns vom Grundvertrauen in die Reflexionskraft unserer Vernunft, also vom Kern des europäischen Menschenbilds. Wer für die Glaubwürdigkeit dieser These einen Beleg braucht, dem sei der jüngst erschienene dritte Band von „Zeilen und Tage“ empfohlen.

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk schreibt seit Jahrzehnten jeden Morgen persönliche Wahrnehmungen und Überlegungen nieder. Die ersten beiden Bände umfassen die Jahre 2008 bis 2013, „Zeilen und Tage III“ die Jahre 2013-2016. Privates und Alltägliches fehlt nicht völlig in Sloterdijks Tagebüchern, es tritt aber zurück hinter den teils ausführlichen, teils knappen Reflexionen zu Politik, Kultur und Gesellschaft.

Seine Themen entnimmt Peter Sloterdijk oft dem medialen Mainstream, seine Denkarbeit folgt aber nicht bequemen, das heißt bekannten und im Juste Milieu akzeptierten Wegen. Im Gegenteil, er setzt gerne dort an, wo ideologische Schimären und moralische Dogmen den klaren Blick vernebeln. Deutlich zeigt sich dieses Phänomen bei den Themen Migration und Wohlfahrtsstaat. Sloterdijk gab sich schon im Jahr 2015 nicht mit der Wir-schaffen-das-Parole zufrieden, sprach von der drohenden Überforderung der Mehrheitsgesellschaft und vom religiösen Politikverständnis vieler Muslime, das mit dem säkularen Verfassungsstaat unvereinbar ist.

Dass ihm von Gegnern „rechtes“ Denken unterstellt wurde, hielt er aus, ebenso die Entrüstung, die er sich im Laufe der Griechenland-Krise zuzog, als er nüchtern feststellte, dass auch Staatsschulden richtige Schulden sind. „Ist der Schuldner ein Staat“, schreibt Sloterdijk, „neigen manchen Apologeten zu der Behauptung, der Geldgeber sei an dem Mißstand schuldiger als der Kreditnehmer. (…) Augstein junior meint geradezu, Frau Merkel haben den Griechen Kredite ohne Ende aufgezwungen und am Ende die Unverfrorenheit besessen, ihnen nur die Hälfte davon zu erlassen.“

Die Lektüre von Peter Sloterdijks Texten ist nicht nur ein intellektuelles, sondern auch ein sprachliches Vergnügen, insbesondere dann, wenn er seine Sichtweisen zu pointierten Aphorismen verdichtet: „Was ist konservativ? An erster Stelle die Bereitschaft, Revolutionsnebenkosten zu berechnen.“ Gewiss denkt der 1947 geborene Philosoph auch ans eigene Alter, wenn er schreibt: „Im Lebensabendland, wo die Schatten lang werden, folgst du am besten der Devise: Bleib bei den bisherigen Übungen!“ Dass er seine „Übungen“ noch lange fortsetzen kann, wünschen ihm zu Jahresbeginn seine Leserinnen und Leser.

Peter Sloterdijk: „Zeilen und Tage III. Notizen 2013-2016“, Suhrkamp Verlag, 598 Seiten, 35 Euro

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