Montag, 11. Dezember 2023

Kulturbrief 9: Wenn die Kinder ausziehen - Meine OÖN-Rezension zum neuen Roman von Doris Knecht

 Wozu Geschichten erfinden? Das Leben ist einfallsreich genug. Doris Knecht erzählt in ihrem neuen Buch mit dem paradoxen Titel „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ von den alltäglichen Herausforderungen einer Wendezeit. Die Zwillinge Max und Mila haben gerade maturiert und spielen ernsthaft mit dem Gedanken, aus der Wohnung auszuziehen, in der sie mit ihrer alleinerziehenden Mama sei fast zwei Jahrzehnten gelebt haben.

Keine einfache Situation für die Mutter, aus deren Perspektive die Autorin erzählt. Erstens stellt sich, wenn die Kinder signalisieren, dass sie jetzt ihr Leben selbst in die Hand nehmen, ein ambivalentes Gefühl ein: einerseits Befreiung und Erleichterung, andererseits Wehmut und Abschiedsschmerz. Zweitens entsteht für die Erzählerin dadurch ein pragmatisches Problem mit emotionaler Grundierung. Wenn Mila und Max ausziehen und die Alimente ausbleiben, kann sie sich die Wohnung nicht mehr leisten, die nicht nur bloße Behausung ist.

Mit einem Ort, an dem wir lange unser Leben verbracht haben, verbinden wir Erinnerungen und Befindlichkeiten, er ist in gewisser Hinsicht Symbol unserer Identität geworden. Daher verbindet sich die Suche nach einer neuen Wohnung zwangsläufig mit der belastenden Frage nach der Neuausrichtung und Qualität des künftigen Lebens. Leitmotivisch zieht sich dieser Motivkomplex durch Doris Knechts Roman, der keinen stringenten Plot zur Grundlage hat, sondern aus Episoden, Momentaufnahmen und Erinnerungsbildern besteht.

Die Erzählerin erinnert sich nicht nur an Phasen des Heranwachsens ihrer Zwillinge und an ihre gescheiterte Liebesbeziehung mit deren Vater, sondern auch an die eigene Herkunftsfamilie, in der sie neben vier blonden Schwestern immer eine etwas sperrige Sonderrolle besetzte. Während Eltern und Schwestern traditionelle Lebensformen – Ehe, Kinder, Eigenheim – gewählt haben, folgte die Erzählerin den Verlockungen der Freiheit. Bekanntlich halten sie nicht immer, was sie versprechen.

Die saloppe, humorvolle, mit umgangssprachlichen Floskeln gespickte Erzählsprache soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autorin immer wieder gewichtige Themen anspricht, die des ernsten Nachdenkens wert sind: Wie zuverlässig ist das Bild, das ich mir von mir mache? Werden unsere Kinder nur dann erwachsen, wenn wir aufhören, sie als Kinder zu behandeln? Wir komme ich mit dem Alleinsein zurecht? Leide ich darunter oder halte ich es mit Wilhelm Busch: Wer einsam ist, der hat es gut, weil keiner da, der ihm was tut?

Wer einen literarischen Stimmungsaufheller sucht, ohne auf seine mühsam erarbeiteten Desillusionierungen verzichten, wird mit „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ seine Freude haben.

Doris Knecht: „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“, Roman, Hanser Berlin, 235 Seiten, 24,70 Euro

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