Die Grundlagen unserer Zivilisation
ändern sich dramatisch
SCHACHERREITER Der alte Goethe schrieb einmal den bemerkenswerten Satz: Man wird sich selbst historisch. Fängst du damit etwas an oder kommt dieser Satz für dich zu früh?
GAUSS Der Satz kommt nicht zu früh. Erstens weil ich mein Leben im
Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen sehe, die historisch sind. Zweitens ist
vieles in meinem Leben schon vorbei, und ich stelle natürlich die Frage: Was habe
ich in all den Jahren gewollt? Woraus ist nichts geworden, woraus schon? Nicht
nur in privater Hinsicht, sondern auch politisch. Was habe ich falsch gesehen?
Wofür soll ich weiterhin einstehen? Und so weiter…
Die linke Studentengeneration,
zu der wir damals gehörten, war unzufrieden mit der Gesellschaft und wollte
Veränderung. Ich würde sogar von Fortschrittspathos sprechen. Die Welt hat sich
auch verändert, aber nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben. Manche
scheint das sehr gekränkt zu haben, aber damit musste man wohl rechnen.
Haben wir überhaupt ein klares Konzept gehabt dafür, wie
sich die Welt verändern soll? Ich habe an der Universität diese jugendlichen Formen
heiterer Renitenz erlebt, die dann zu fast sektiererischem politischem Kaderdenken
mutiert sind. Ich bin – vielleicht durch Zufall, vielleicht auch durch
charakterliche Disposition – nicht in diese linken Fraktionierungen
hineingeraten. Am nächsten stand ich damals diesen abgehängten Kommunisten wie
Ernst Fischer. Heute sehe ich sie zwar auch kritischer als damals, aber
interessante Denker waren sie schon. Was ich bedaure, ist, dass ich damals viele
leere Lesekilometer hinter mich gebracht habe mit eher dummen, rein
ideologischen Büchern wie „Der Roman als bürgerliche Institution“.
Findest du es
überzogen, von einem epochalen Wandel rund um die Jahrtausendwende zu sprechen?
Ich habe oft das Gefühl, aus einer anderen Welt zu kommen. Wenn wir an unsere
Kindheit denken, da war der Fernsehapparat die kühnste mediale Revolution. Schlagwörter
für den großen Epochenbruch wären aber Digitalisierung, Globalisierung,
Klimawandel.
Schon im Gefolge von 1968 hat sich die Gesellschaft
gewandelt und in vielem auch zum Guten. Darauf beharre ich. Aber dieser Wandel
war – historisch gesehen – wesentlich geringer, als es jetzt der Fall ist, wo
sich tatsächlich die Grundlagen unserer Zivilisation dramatisch verändern.
Um mit Marx zu
sprechen: die Produktivkräfte werden revolutioniert – allerdings mit unmarxistischen
Folgen.
Man müsste aus demokratischer linker Perspektive fragen:
Welches emanzipatorische und humanistische Potenzial haben diese Veränderungen,
und wie könnte man sie politisch in diese Richtung steuern? Mit dieser Verheißung sind ja die
Leute im Silicon Valley einmal angetreten: Demokratisierung der Kommunikation. Aber
heute erleben wir, dass die dümmsten populistischen Bewegungen mit der
digitalisierten Kommunikation Hand in Hand gehen und dass die Gesellschaft in sich
selbst bestätigende Blasen zerfällt. Die Vorstellung, immer intelligentere
Botschaften würden das Netz durchdringen und langfristig zu einem qualitativen
Strukturwandel der Öffentlichkeit führen, ist heute fast lächerlich geworden.
Das beginnt bei Kindern, die keine zwei Minuten mehr konzentrationsfähig sind, geht
über Studierende der Germanistik, die keinen längeren Roman mehr durchalten,
bis hin zur Krise des kritischen Feuilletons. Wenn ich heute über ein aus
meiner Sicht interessantes Osteuropa-Thema schreiben will, sagt man mir: Na gehen
S‘, Herr Gauß, schreiben Sie doch lieber über dieses Buch einer queeren karibischen
Autorin, die mit dem Enkel eines Holocaust-Opfers in Tanger eine prekäre
Beziehung eingeht und sich in Rotterdam im Drogenmilieu verirrt.
Viele deiner
Reisebücher haben etwas mit dem osteuropäischen und südosteuropäischen Raum zu
tun. Wenn du heute einen nüchternen Blick auf diese Regionen wirfst, siehst du
dann auch eine bedrückende Fülle ungelöster historischer Probleme?
Absolut. Nicht selten verlaufen diese Krisen auf uralten
historischen Bruchlinien, die in der Gegenwart weitermachen und zu permanenter
Aufrüstung führen. Dieses Beharrungsvermögen der Geschichte steht in
Widerspruch zur Beobachtung, dass sich alles verändert und alles Alte
verschwindet.
Das blöde Alte
bleibt.
Leider. Ich hatte in den Achtzigerjahren gute Kontakte mit
beeindruckenden osteuropäischen Intellektuellen, die sich für den Westen
interessiert haben. Und ich darf sagen, dass ich ein bisschen daran beteiligt
war, dass wir uns auch verstärkt für Osteuropa interessiert haben. Das ist
vorbei. Osteuropa und Südosteuropa sind mit ihrem eigenen Diskurs beschäftigt
und der ist nicht mehr auf kritischen Austausch angelegt. Jean Amery hat einmal
gesagt, das Schlimme am Altwerden sei nicht, dass körperlich das eine oder
andere nicht mehr möglich ist, sondern das Bewusstsein, dass eine Welt um einen
wächst, zu der man keinen geistigen Zugang mehr findet.
Offen gesagt, so
befremdlich erlebe ich Teile der digitalen Medienwelt, zum Beispiel künstliche
Intelligenz. Wie geht es dir damit?
Natürlich benütze ich das Internet, radikale
Modernisierungsverweigerung wäre ja selbstschädigend. Aber ich muss mir nicht mehr
alles zumuten, nur weil es modern ist. Manches überfordert mich technisch,
manches verweigere ich trotzig. Es ist eine Gratwanderung.
Sprechen wir über
Literatur und blenden wir noch einmal in die Siebzigerjahre zurück. Damals
hatte Literatur „gesellschaftskritisch“ zu sein und nach Möglichkeit sprachlich
und formal avantgardistisch. Das traditionelle Erzählen, hieß es, sei an sein
Ende gekommen. Das ist aber nicht eingetreten.
Und da muss man sagen: Gott sei Dank ist es nicht
eingetreten. Ich respektiere die Arbeit experimentell arbeitender Künstler. Sie
haben es ohnedies nicht leicht, weil sich das kaum jemand anschauen oder
anhören will. Aber die These, erzählen sei in der Moderne grundsätzlich nicht
mehr möglich, war ein ähnlich dogmatischer Unsinn wie die Aussage, man könne
keine Menschen mehr malen. Das wurde als große Modernisierung ausgegeben. Heute
hängt in den Büros von Generaldirektoren und auch von konservativen Politikern meistens
ein Nitsch oder irgendein gestischer Expressionist…
Und Thomas Bernhard
ist längst zum Liebling des konservativen Bildungsbürgertums avanciert.
Ich gehöre zur kleinen Gruppe derer, die Thomas Bernhard
nicht für den heiligen Thomas halten, sondern für einen Autor, der eine
manichäische, auch denunziatorische und elitär-antidemokratische Literatur
geschrieben hat, wenn auch auf sehr hohem Niveau.
Es gibt so viele kluge
Bücher von dir, Essays, Journale, Reiseliteratur. Hat es dich nie gereizt,
einen Roman oder Lyrik zu schreiben?
Lyrik nicht, aber ich glaube, dass ich in meinen Büchern,
auch wenn sie nicht als fiktionale Literatur gelten, stark vom Erzählen
Gebrauch mache. Es ist nicht alles, was ich geschrieben habe, zu hundert
Prozent verbürgt. Ich gehe zwar von Fakten aus, arbeite aber manchmal bewusst mit
Fiktionen, damit die Fakten besser erkennbar werden.
(Eine etwas gekürzte Version dieses Gesprächs erschien am 13.10.23 in den Oberösterreichischen Nachrichten)
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