Meine Rezension zu Libellen im Winter (Verlag Jung und Jung) ist am 1. Juli 23 in den OÖN erschienen:
Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist, sagte Friedrich Torbergs berühmte Tante Jolesch. Mali hat „noch so ein Glück“, denn sie hat wenigstens ihre Tante Ada in Wien, bei der sie Zuflucht findet. Was die junge Frau hinter sich hat, ist aber das blanke Unglück. Zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt – und das gleich über beide Ohren, wird sie von ihrem Freund Roland schwanger. Roland trennt sich von Mali, nicht aus roher Rücksichtslosigkeit, sondern aufgrund verhängnisvoller Umstände, und sie verlässt fluchtartig ihr tschechisches Heimatdorf. Wenige Tage später marschiert die Rote Armee ein. Wir schreiben das Jahr 1945.
In Wien lernt Mali eine andere junge Frau kennen. Vera hat
in Notwehr einen amerikanischen Soldaten erschlagen, der sie vergewaltigen
wollte. Sie konnte unerkannt fliehen und findet nun Zuflucht bei Mali, die eine
zuverlässige Mitbewohnerin brauchen kann, die auf ihren kleinen Robert
aufpasst. Es gibt zwar noch eine zweite Mitwisserin, aber auf Gretes
solidarisches Schweigen ist Verlass.
Grete arbeitet als Dolmetscherin bei der US Army und träumt
davon, eines nicht allzu fernen Tages im glamourösen New York zu leben.
Einstweilen muss sie sich mit dem Wiener Vorgeschmack des american way of life
bemühen: Army-Bars und Tanzmusik, Orangen und Nylonstrümpfe. Solche
Vergünstigungen haben zwar ihren Preis, aber Grete achtet darauf, dass er nicht
zu hoch ausfällt, denn sie liebt eigentlich Frauen. Keine einfache
Gratwanderung!
Gudrun Seidenauer erzählt in ihrem neuen Roman „Libellen im
Winter“ von einer ungewöhnlichen Frauenfreundschaft, die als Zweckgemeinschaft für
harte Zeiten beginnt, aber über Jahrzehnte Bestand hat. Aus wechselnden
Perspektiven beleuchtet sie nicht nur die Lebenswege der drei Frauen und
Roberts nicht ganz einfachen Weg ins Erwachsenenalter, sondern auch die
gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die vier individuellen Biographien
verankert sind.
Man macht sich heute keine Vorstellungen mehr von der
rechtlichen und sozialen Diskriminierung, denen lesbische Frauen wie Grete in
der Nachkriegszeit noch ausgesetzt waren. In den Sechzigern kündigen sich
Modernisierung und Liberalisierung zumindest zaghaft an. Auch die ökonomische
Lage verbessert sich und im Jahrzehnt des Wirtschaftswunders machen die drei
Freundinnen schon Urlaub in Italien.
Im letzten Romankapitel lebt die neunzigjährige Mali im Altersheim. Ihre Pflegerin heißt Manal, eine Frau, der nach furchtbaren Erlebnissen die Flucht aus Syrien geglückt ist. Auch sie hat „noch Glück gehabt“ im Sinne der Tante Jolesch. Und damit schließt sich der weite epische Bogen eines inhaltlich bewegenden und kompositorisch überzeugenden Romans.
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