Mit meiner Kritik an der Schreibdidaktik, die sich als Folge der standardisierten Reifeprüfung flächendeckend über die Sekundarstufe II legt, bin ich nicht allein. DIE FURCHE hat mir die Möglichkeit gegeben, in der Kolumne DIESSEITS VON GUT UND BÖSE (4.5.23) meine Meinung darzulegen.
Sixtus Beckmessers Deutsch-Matura
Sowohl in der Wiener Staatsoper als auch im Linzer
Musiktheater steht derzeit Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von
Nürnberg“ auf dem Programm. Ein Aufführungsbesuch ist nicht nur Opernfreund(inn)en
zu empfehlen, sondern auch dem Freundeskreis „kompetenzorientierter Didaktik“.
Am erhellenden Beispiel des Meistersingers Sixtus Beckmesser können sie sehen
und hören, wie es um die Kunst stünde, würden Pedanten wie Beckmesser die Richtung
vorgeben.
Wagners Oper ist eine treffende Satire auf jene unangenehme
Sektion der Kunstkritik, die sich im Besitz eines verbindlichen Regelsystems
für die „Herstellung“ von Musik und Literatur wähnt. Ein wirklich gutes Lied
hat zwar auch „handwerkliche“ Implikationen, es ist aber mehr als ein
Werkstück. Harmonielehre, Metrik, Metaphorik – das alles kann man lernen; dichten
und komponieren nur zum Teil.
Schön und gut, wird man nun einwenden, aber was hat das mit „kompetenzorientierter
Didaktik“ im Allgemeinen und mit der standardisierten Reifeprüfung aus Deutsch im
Speziellen zu tun? Leider ziemlich viel – zumindest dann, wenn man auch einen
Schüleraufsatz als sprachlich-kreative Hervorbringung achtet. Allein die
Richtlinien, nach denen die Aufgaben für die Reifeprüfung erstellt werden
müssen, sind Beckmesserei, ein pedantischer Regelkanon, der die Sache
einerseits unnötig verkompliziert, andererseits ein Korsett schnürt, das
Schreibprozesse so sehr reglementiert, dass intellektuelle Dürftigkeit und
formale Uniformität die Folge sind.
Verkrampfte Formulierungen
So sieht sie nämlich aus, die Bastelanleitung, nach der die
Schreibaufgaben für die Reifeprüfung aus Deutsch (und daher auch für
Schularbeiten in der Sekundarstufe II) zusammengeleimt werden müssen: Erstens
wähle man aus einem Kanon von sieben Textsorten eine aus. Damit bewegen wir uns
noch im akzeptablen Bereich. Die Meinungsrede, der Kommentar, die
Textinterpretation etc. sind geeignete Textsorten. Zweitens suche man einen Text,
der sich als Ausgangsmaterial für die Schreibaufgabe eignet. Auch das ist sinnvoll.
Bis hierher wäre also die Sache auf einem guten Weg, aber plötzlich
trampelt Sixtus Beckmesser auf die Bühne des Schullebens und sagt: Drittens
formuliere man exakt drei Einzelanweisungen für den Schreibprozess und bediene
sich dabei eines Kanons von Operatoren (das sind Verben, die
Handlungsanweisungen geben, z.B. fasse zusammen, erläutere, stelle dar). Die
kanonisierten Operatoren sind drei Kategorien zugeordnet (Reproduktion,
Reorganisation und Reflexion). Alle drei Kategorien müssen in der
Aufgabenstellung berücksichtigt werden und jede der drei Teilanweisungen darf
nur einen Operator enthalten. Verboten ist es, schlichte Fragen zum Text zu
stellen, auch wenn das praktisch und zielführend wäre. – Alles klar? Die Folgen
solch einer Bastelanleitung sind verkrampfte Formulierungen und inhaltliche
Reduktionen in der Aufgabenstellung. Die geistige Eigenleistung der
Schreibenden wird ebenso beschnitten wie ihr gestalterischer Freiraum. Das
Ergebnis sind biedere, einander ähnliche Texte.
Wiedergeburt der
Regelpoetik
Damit aber immer noch nicht genug der Vorgaben! Die
Schreibaufgabe soll auch in eine lebensnahe Schreibsituation eingebettet
werden. Das mag bei Meinungsrede oder Kommentar bisweilen passend sein. Als generelle
Verpflichtung taugt es aber nicht. Es soll Maturant*innen erlaubt sein, über
die Angelegenheiten dieser Welt schreibend nachzudenken, ohne sich einem
kommunikativen Verwertungszusammenhang zu unterwerfen.
Und wenn wir schon von „Lebensnähe“ reden! Niemand geht im
wirklichen Schreibleben so vor, wie die Kandidat(inn)en bei einer schriftlichen
Reifeprüfung vorgehen müssen. Weder
Journalistin noch Essayistin noch politischer Redenschreiber formulieren, bevor
sie ans Werk gehen, unter Verwendung eines Operatorenkanons für sich selbst drei
Schreibaufgaben, die sie dann Schritt für Schritt folgsam abarbeiten.
Diese einerseits aufgeblasene, andererseits kümmerliche Schreibdidaktik
ist die Wiedergeburt der Regelpoetik in zeitgeistigem Kleid. Dahinter steht jenes
philisterhafte Verständnis von Schreiben, gegen das schon Lessing und der junge
Goethe polemisiert haben. Auch Kleists Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ ist in
diesem Zusammenhang ein heißer Lektüretipp.
Das didaktische Beckmessertum, das sich in der standardisierten
Deutsch-Matura selbstverwirklicht, zeigt seine Wirkungen auch im
Beurteilungsraster für die Korrektur. Jede Maturaarbeit muss nach ungefähr 30
(in Worten: dreißig!) Einzelkriterien beurteilt werden. Meint man wirklich,
dass man durch diese Erbsenzählerei zu einem optimalen, „gerechten“ Urteil über
Texte kommt?
Eine sachdienliche und schülerorientierte Schreibdidaktik soll
zwar solide „handwerkliche“ Fertigkeiten vermitteln, nicht zuletzt logisches
Argumentieren und normgerechte Grammatik, sie soll aber auch individuelle
Freiräume ermöglichen, für Gedankenreichtum und gestalterische Originalität.
Gerade in der originellen Abweichung von der Regel kann die besondere Qualität
eines Texts bestehen. Für solche Texte wird man auch in Zukunft menschliche
Verfasser(inn)en brauchen, standardisierte Werkstücke hingegen können wir
neidlos der künstlichen Intelligenz überlassen.
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