Freitag, 4. Oktober 2024

Kulturbrief 21: Wer fürchtet sich vorm Störenfried?

 Meine OÖN-Nachlese zum PHILOSOPHICUM LECH 24 (erschienen am 28.9.24);

Unter dem Motto „Sand im Getriebe“ wurde beim 27. Philosophicum Lech über Störungen aller Art nachgedacht.

Die Impulsdiskussion gehört zu den schönen Ritualen des traditionsreichen Philosophicums, das jedes Jahr mehr als 500 Besucher ins Ländle lockt. „Sind wir uns zu einig?“ Mit dieser Frage sollten sich die Podiumsdiskutanten diesmal beschäftigen, und spätestens nach einer halben Stunde stand die Antwort fest: Nein. Eher nicht. Der als ZEIT-Kolumnist bekannte Autor Harald Martenstein und die linksliberale Gallionsfigur Robert Misik machten aus ihren Differenzen kein Geheimnis, wenn auch im Rahmen einer zivilisierten Kontroverse. Für dessen wuchtige Sprengung sorgte die Klimaaktivistin Anja Windl („Letzte Generation“), die unter häufigem Gebrauch der Vokabel „fucking“ ihren bittersten Affekten freien Lauf ließ und vorzeitig unter Tränen den Saal verließ, weil sie sich vom Moderator benachteiligt fühlte. Windls starker Abgang polarisierte auch im Publikum. Und so blieb für Schisprung-Legende Toni Innauer jene Podiumsrolle, die er am meisten mag: die des klug ausgleichenden Sympathieträgers.

„Sand im Getriebe. Eine Philosophie der Störung“. Unter diesem Motto stand das 27. Philosophicum, und so kann man festhalten: Passender, themagerechter hätte die Impulsdiskussion gar nicht verlaufen können. Sie lieferte das anschauliche Lehrbeispiel einer Ritualstörung, und man kann darüber streiten, ob diese Art von Störung eine produktive Intervention oder eine ärgerliche Destruktion war. Zwischen diesen Polen bewegte sich das knappe Dutzend an Vorträgen, die das Thema „Störung“ unter ökonomisch-technologischen, politischen, kulturellen und alltagskulturellen Aspekten beleuchteten.

Guter oder böser Störenfried?

Einigkeit bestand immerhin darin, dass der Störenfried ein ambivalentes Phänomen ist. Einerseits behindert er vertraute Abläufe, schafft Chaos und stört den Frieden. Andererseits kann ein Friede auch faul sein, eine Ordnung ungerecht, eine lieb gewordene Gewohnheit reformreif, sodass die Störung unverzichtbare Voraussetzung der Verbesserung ist. So weit, so einleuchtend, aber nach welchen Kriterien unterscheiden wir zwischen nützlichen und schädlichen Varianten der Störung, zwischen dem hilfreichen und dem bedenklichen Störenfried?

Der Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) hielt den Menschen grundsätzlich für ein störrisches, moralisch fragwürdiges Wesen, das individuelle Freiheitsrechte an den Staat abgeben muss, damit der Kampf jeder gegen jeden („homo homini lupus“) nicht zum Normalzustand wird. Mit dem Begriff „puer robustus“ (starker Bub) bezeichnete Hobbes den Menschen, der als Erwachsener kindisch und sozial unreif bleibt, aber so stark und mächtig wird, dass er mit seiner infantilen Egozentrik allerhand Schaden anrichten kann, zumal er bisweilen erstaunlich viele Fans um sich schart. Dass man beim Typus des „puer robustus“, den Dieter Thomä (Universität St. Gallen) in seiner erhellenden Typologie der Störenfriede listet, auch an Politikergestalten der Gegenwart denkt, liegt nahe. Der Name Donald Trump fiel in Lech nicht nur einmal.

Als Verteidiger „guter“ Störenfriede positionierte sich der Sozialphilosoph Robin Celikates (Freie Universität Berlin), wobei die von ihm favorisierten Beispiele gesellschaftlich wünschenswerter Störung die ideologischen Präferenzen des Sozialphilosophen verraten. Als historische Vorbilder zivilen Ungehorsams bemühte er respektable Beispiele wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King. In der Gegenwart findet er die „guten“ Störenfriede vor allem unter Klimaaktivisten und Kapitalismuskritikern. In ihrem Fall ist für Celikates der Rechtsbruch „legitimer“ Teil zivilen Ungehorsams, denn ihre Ziele seien „universal“ und stünden im Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts. Den Störenfrieden auf der rechten Seite des politischen Spektrums gesteht er diese moralische Qualität nicht zu. Im Gegenteil.

Grenzen zivilen Ungehorsams

Das konnte die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann, Direktorin des liberalen John-Stuart-Mill-Instituts, nicht unwidersprochen lassen. Man könne doch nicht leugnen, dass es auch von linker Seite unerwünschte Störungen des demokratischen Rechtsstaats und eines aufgeklärten Freiheitsverständnisses gäbe. Ackermann verwies auf autoritäre Machtansprüche einer „political correctness“, die demokratisch nicht legitimiert ist, aber für sich moralische Überlegenheit und eine Art Deutungshoheit in Anspruch nimmt. Antiaufklärerisch sei auch das „woke“ Prinzip, für Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion und ethnischen Zugehörigkeit kollektive Opferidentität und in weiterer Folge Sonderrechte zu beanspruchen.

Einigkeit besteht darüber, dass physische Gewalt gegen Menschen eine Grenzlinie ist, die ziviler Ungehorsam keinesfalls überschreiten darf. Wie weit Störaktivitäten gegen „böse“ Dinge gehen dürfen, bleibt allerdings umstritten, zumal mittlerweile die globale Infrastruktur so komplex ist, dass auch punktuelle Störungen massive Auswirkungen mit nicht abschätzbaren Folgen haben können. Die Wirtschaftshistorikerin Monika Dommann (Universität Zürich) führte das Phänomen am Beispiel der Störungsanfälligkeit von Lieferketten und logistischen Systemen aus.

Entspannter können wir über Störungen plaudern, wenn wir das Feld der Kunst betreten, denn spätestens seit dem 18. Jahrhundert definiert sich „moderne“ europäische Kunst maßgeblich durch die Störung von Tradition und Konvention, durch Tabubrüche und provokante Innovationen. Es überrascht daher nicht, dass in Dieter Thomäs Typologie der Störenfriede der Exzentriker häufig unter Künstlern zu finden ist. Lambert Wiesing, Professor für Bildtheorie und Phänomenologie in Jena, erörterte die bewussten Störmanöver von Kommunikationsgewohnheiten durch Dadaismus und Postmoderne und setzte sie in Beziehung zum radikalen Skeptizismus.

Störfälle der Schöpfung

Wenn sich die Philosophie in der sokratischen Tradition als Wahrheitssuche versteht, kann sie den radikalen Skeptizismus, also die Leugnung jeder zuverlässigen Erkenntnis, nicht akzeptieren. Geert Keil (Humboldt-Universität Berlin) erklärte die Unterschiede zwischen einer Wissenschaft, die den Zweifel methodisch einsetzt, und einem generellen Skeptizismus, wie er insbesondere von Verschwörungstheoretikern und Wissenschaftsgegnern vertreten wird. Die Tatsache, dass unser Erkenntnisvermögen begrenzt ist und dass wir irren, bedeutet nicht, dass wir gar nichts mit Sicherheit wissen können.

Dogmatischen Wissenschaftsgegnern fehlt jene maßgebliche Tugend, welche die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch schon in ihrem Eröffnungsvortrag einmahnte: die Bereitschaft zur Selbstkritik. Ein hilfreicher, konstruktiv agierender Störenfried zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass er sich auch selbst stören lässt. Verweigert er jede Selbstrelativierung durch Argumentation und Dialog, dann wird der Zweifler selbst zweifelhaft.

Nichts ist vollkommen! Wie es scheint, gehört die Störung zur menschlichen Grundausstattung. Und es ist auch nicht blasphemisch zu behaupten, sie sei im göttlichen Schöpfungsplan vorgesehen. Denn wie wäre es sonst zu erklären, dass es innerhalb der Vollkommenheit des Gartens Eden einen Baum gibt, der es dem in Schlangengestalt eindringenden Teufel ermöglicht, Adam und Eva zur berüchtigten Verbotsübertretung zu verlocken, also zu jener folgenreichen Störung, der die Menschheit den Verlust des Paradieses „verdankt“.

Schriftsteller Michael Köhlmeier und Philosophicum-Ikone Konrad Paul Liessmann widmeten den traditionellen „Vorabend“, an dem sich Mythos und philosophische Reflexion begegnen, nicht nur diesem biblischen Mythos, sondern auch der unangenehmen Frage, ob von scheinbarer Schwäche, Hilfsbedürftigkeit und Traurigkeit eine heimtückische Kraft ausgehen kann, die nicht nur stört, sondern zerstört. So kann man es nämlich im verstörenden Märchen vom traurigen Mädchen nachlesen.


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