Robert Menasse feierte am 21. Juni seinen 70. Geburtstag, ich einen Tag später. Wir kennen uns seit der Studienzeit in den roten Siebzigern. Das nahm ich zum Anlass für ein Gespräch über das Literaturverständnis unserer Generation, es erschien (leicht gekürzt) in den OÖN vom 22./23. Juni 24.
Ich kann nur sagen, was Literatur für mich war. Es war eine
Fluchtmöglichkeit. Ich war in einem Internat und die einzige Möglichkeit,
zumindest mit dem Kopf rauzukommen, war lesen. In der Schulbibliothek durfte
man sich nur an einem bestimmten Tag ein Buch ausborgen, und das für eine
Woche. Damit es für die ganze Woche reicht, habe ich die Bücher nach dem Umfang
ausgesucht. So bin ich zu Dostojewskij gekommen.
Ich war zwar nicht in
einem Wiener Internat, sondern daheim bei Mama und Papa im Innviertel. Aber die
Mama war Mitglied der Buchgemeinschaft Donauland…
Ja, das war meine auch. Beim Aussuchen der
Quartalsbestellung durfte ich immer mitreden, und wenn ich für das Quartal mehr
als einen Wunsch hatte, hat ihn meine Mutter erfüllt.
Als wir Anfang der
Siebzigerjahre begonnen haben, Germanistik zu studieren, ist für mich eine neue,
anfangs irritierende Dimension dazugekommen. Man konnte damals kaum ein
Gespräch über Literatur führen, ohne gleichzeitig über Politik zu sprechen. Für
die ganz strammen Linken musste Literatur parteilich sein, zugunsten von Arbeitern,
Ausgebeuteten…
Das habe ich nie so eng gesehen. Ich habe mich vor allem für
Romane interessiert und für die Frage: Was erzählt mir ein Roman über die Zeit,
in der er geschrieben wurde? Da geht es um den Anspruch auf Realismus…
…der ja damals auch
nicht unumstritten war. Angesagt war das Sprachexperiment. Bloß keine
Geschichten erzählen! Hat dich das irritiert?
Nein, obwohl ich mich für das Sprachexperiment interessiert
habe – interessieren musste.
Professor Schmidt-Dengler, bei dem ich studiert habe, hat großen Wert darauf
gelegt, uns ein breites Literaturverständnis zu vermitteln. Und die linken
Kreise, in denen ich damals verkehrt bin, das waren keine dogmatischen
Klassenkämpfer. Das war ein Diskussionszirkel. Wir brauchten nicht zu einer
Demo aufrufen, weil mehr als die fünf Leute, die im Kaffeehaus sowieso
zusammengesessen sind, wären eh nicht gekommen. Beim Germanistikstudium hatte
ich die naive Vorstellung, ich würde lernen, wie es die großen Schriftsteller
machen, also für das „Handwerkliche“ profitieren. Ich habe aber nur gelernt,
wie es die Germanisten machen. Trotzdem, es gab wunderbare Gespräche auf der Universität
und auch außerhalb. Adorno oder Lukacs? Solche Sachen haben wir intensiv
diskutiert.
Als du in den
Achtzigern deine ersten Romane geschrieben hast, war Realismus für dich eine
Art literaturästhetische Leitvorstellung?
Ja – und auch wieder nicht. Ich hatte anfangs kein klares
ästhetisches Programm. Was realistische Literatur ist, da gibt es verschiedene
Zugänge und Vorstellungen. Ich habe eben lieber Thomas Mann gelesen als Samuel
Beckett, und was grundsätzlich bleibt: Es geht beim realistischen Schreiben
nicht darum, fotografisch genaue Abbildungen zu liefern, sondern um eine
Erzählbewegung, die nicht nur das Wirkliche darstellt, sondern auch andere Möglichkeiten
andenkt. Und ganz wichtig für die Kunst des realistischen Romans: Jede
Romanfigur muss individuell und einzigartig sein, so wie jeder Mensch
einzigartig ist, gleichzeitig soll sie aber auch exemplarisch sein. Das ist nur
scheinbar ein Widerspruch.
Neben dem Roman ist
der politische Essay die literarische Form, die wir mit dem Autor Robert
Menasse verbinden. Ist der Essay für dich die tauglichste Form der politischen
Einmischung?
Ich sehe mich in erster Linie als Erzähler. Das ist mein
größtes Talent. Das interessiert mich auch als Leser am meisten, ob jemand gut
erzählen kann, das heißt mit Kunstanspruch. In den Siebzigern stand das
Erzählen generell unter Trivialitätsverdacht. Wenn ich damals den
Literaturzeitschriften Erzählungen angeboten habe, war das ziemlich aussichtslos.
Essays hingegen haben die gerne genommen, weil es auch nicht so viele gab, die
das gut konnten. Mit einem Essay hatte ich bessere Aussichten auf Veröffentlichung,
so einfach war das, das würde ich im Nachhinein nicht mystifizieren.
Für mich ist der literarische
Essay nicht die, aber eine Königsdisziplin des Schreibens.
Ja, wenn du ihn nicht als journalistischen Artikel
definierst, als bloßen Kommentar, sondern als literarische Kunstform.
Karl-Markus Gauß hat einmal gesagt: Wenn man einen Essay schreibt, muss man auf
den Gedanken warten können. Der Gedanke soll, wenn man zu schreiben beginnt,
noch lange nicht fertig sein. Und dieser Wunsch, schreibend einen Gedanken zu
entwickeln, das reizt mich schon.
1990 ist dein
vielbeachteter Essay „Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik“ erschienen.
Seither sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen und auch die
Sozialpartnerschaft hatte ihr Schicksal. Teilst du heute noch deine Kritik von
damals?
Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der
Sozialpartnerschaft hat sich meine Sicht nicht geändert. Sie hat in der
österreichischen Öffentlichkeit und in der Mentalität etwas bewirkt, diese
Glocke der Harmonisierung, und dafür habe ich ein Erklärungsmodell geliefert.
Die Vertuschung von Widersprüchen verhindert produktive Auseinandersetzungen
und damit gesellschaftliche Dynamik. Das ist die eine Seite, die andere: Die
Sozialpartnerschaft hat im Hinblick auf sozialen Frieden und wachsenden Wohlstand
auch ihre Meriten. Da bin ich milder geworden im Urteil.
2012 erschien dein
Essay „Der europäische Landbote“, später deine Romane „Die Hauptstadt“ und „Die
Erweiterung“, jetzt „Die Welt von morgen“. Ich kenne keinen zweiten Autor, der
seine Literatur so sehr in den Dienst der europäischen Idee stellt wie du.
Da muss ich dir widersprechen. Ich stelle meine Arbeit in
keiner Weise in irgendeinen Dienst. Es verhält sich anders. Reden wir noch
einmal vom Realismus. Wenn wir den realistischen Roman definieren als „die
Epoche, in eine Erzählung gefasst“, dann muss uns klar sein, dass wesentliche
Rahmenbedingungen unseres Lebens, zum Beispiel rechtliche, in Brüssel
produziert werden, dass diese Bedingungen in unser aller Leben hineinspielen. Ich
war in Brüssel, weil ich diese Welt, die eine andere ist als die unserer Großeltern,
besser verstehen wollte, denn meine Romanfiguren bewegen sich in dieser Welt. So
wie ein lateinamerikanischer Autor, der in einer Diktatur lebt und eine
Liebesgeschichte erzählt, zwangsläufig nicht nur von der Liebe erzählen kann,
sondern auch von der Diktatur erzählen muss. Tut er das nicht, dann ist es
Kitsch.
Apropos
Lateinamerika. Du hast in den Achtzigern in Brasilien gelebt. War das eine
Episode in deinem Leben oder haben dich diese sieben Jahre geprägt?
Ich wäre heute nicht der, der ich bin, ohne diese Jahre in
Brasilien. Erstens habe ich dadurch eine ziemliche Distanz zu meiner Herkunft
entwickelt, eine Distanz, die mich nie wieder ganz verlassen hat und die für
mein Schreiben wichtig ist. Zweitens habe ich damals die Transformation
Brasiliens von der Diktatur zur Demokratie miterlebt, und zwar mit allen Transformationskrisen.
Da hat so richtig Geschichte stattgefunden. Als ich 1989 zurückgekommen bin,
meinte ich, in ein vergleichsweise versteinertes Europa zurückzukehren.
Wenige Monate später
fiel aber die Berliner Mauer…
Und da erlebte ich die europäische Variante einer
Transformationskrise. Durch diese Erfahrungen habe ich mein Verständnis von
gesellschaftspolitischem Wandel entwickelt. Weil wir von unserer Generation
reden - unsere Generation hat die Erfahrung gemacht, dass politisch
Wünschenswertes auch machbar ist. Das ist eine immens produktive Erfahrung und
die soll zur Grundlage unseres politischen, gesellschaftlichen und sozialen
Denkens werden. Die Gesellschaft ist immer im Wandel und die entscheidende
Frage ist: Wollen wir ihn erleiden oder gestalten?
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