Am Samstag haben meine Frau und ich Rossinis Guillaume Tell im Linzer Musiktheater gehört und gesehen. Musikalisch war es wunderbar, Georg Schmiedleitners Inszenierung ist – naja… Von wie ferne kann man Modernisierungseinfälle eigentlich herholen? Um den Transhumanismus an Habsburgs Hausmachtspolitik und die Tell-Sage heranzuziehen, braucht es verdammt lange Greifarme. Wenn ich um drei bis vier Ecken denke, dann geht das wahrscheinlich so: Die Habsburger haben in der Schweiz imperiale Hausmachtpolitik betrieben. Heute liebäugeln Tech-Milliardäre mit Weltherrschaftsideen. Die Tech-Industrie hat teilweise etwas mit Transhumanismus zu tun. Also besteht eine klitzekleine gedankliche Schnittmenge zwischen Transhumanismus und den Habsburgern. Ein bisserl arg krampfig, dieses „Konstrukt“. Da gäbe es überzeugendere Aktualisierungskonzepte. Dass Schmiedleitner bei den Schweizern das Naturbelassene, Archaische unterstreicht, passt aber gut. Und die seltsamen Laborgestalten, die Habsburgs Truppen ersetzen, wirken zwar, als hätten sie sich aus einer anderen Inszenierung hierher verirrt, sie stören aber nur gelegentlich das Bühnengeschehen.
Mit Interesse habe ich auch den Konflikt um die Linzer Inszenierung von Yasmina Rezas Komödie "James Brown trug Lockenwickler" verfolgt. Dazu erschien ein Leserbrief von mir in den OÖN:
Yasmina Rezas Intervention gegen die Freiheiten, die sich Fanny
Brunner bei der Inszenierung von „James Brown trug Lockenwickler“ nahm, will Intendant
Hermann Schneider zum Anlass nehmen, am Linzer Landestheater grundsätzlich über
das Thema „Werktreue“ zu diskutieren. Dazu kann ich ihm nur gratulieren, denn
gegen Ende der Saison 24/25 blicken wir auf einige diskussionswürdige Fälle
zurück, unter anderem auf die Demontage der Oper „Die gerissene Füchsin“ durch
den Regisseur Peter Konwitschny, der nichts mit böhmischen Wäldern und Fabelfiguren
anfangen konnte. Macht ja nichts, aber man könnte die Sache Berufeneren
überlassen.
Diskussionen über „Werktreue“ sind wünschenswert. Zu hoffen
ist allerdings, dass sie nicht frühzeitig in der unergiebigen, weil falschen
Kampfschablone „Werktreue gegen Regietheater“ steckenbleiben. Denn grundsätzlich
ist natürlich jede Bühnenrealisierung eines Texts (ob mit oder ohne Musik) ein
kreativer inszenatorischer Akt, folglich „Regietheater“. Die einzig richtige,
der Uraufführung nachgestellte „Originalversion“ gibt es nicht.
Glücklicherweise, denn sonst würden wir bei Klassiker-Inszenierungen jahrhundertelang
dieselbe Inszenierung sehen.
Allerdings ist es eine Sache, ältere Bühnenwerke für unsere
Zeit anschaulich zu machen, eine andere ist es, ihren ästhetischen „Eigensinn“,
ihre Aussage- und Wirkungsabsicht hemmungslos zu ignorieren und über alles und
jedes ideologische und ästhetische Präferenzen von heute zu stülpen (von
Postkolonialismus über Gender bis LGBTIQ+). Lebende Künstlerinnen wie Yasmina
Reza können sich gegen allzu selbstherrliche Willküraktionen im Umgang mit
ihren Texten wehren, tote leider nicht mehr. Das erste Gebot für jeden
Regisseur/jede Regisseurin sollte sein: Nimm dich nicht selbst wichtiger als
das Werk, das man dir anvertraut hat.