Sonntag, 7. Juli 2024

Kulturbrief 19: "Unsere Epoche in erzählter Form." - Ein Gespräch mit Robert Menasse anlässlich unseres gemeinsamen Siebzigers

Robert Menasse feierte am 21. Juni seinen 70. Geburtstag, ich einen Tag später. Wir kennen uns seit der Studienzeit in den roten Siebzigern. Das nahm ich zum Anlass für ein Gespräch über das Literaturverständnis unserer Generation, es erschien (leicht gekürzt) in den OÖN vom 22./23. Juni 24.

 Man sieht es dir zwar nicht an, Robert, aber du bist um einen ganzen Tag älter als ich. In den Siebzigerjahren, als wir uns kennengelernt haben, war – im Unterschied zu heute – Literatur für viele junge Männer etwas sehr Wichtiges. Zu unserem Jahrgang 1954 gehören auch Erich Hackl, Karl-Markus Gauß, Christoph Ransmayr. Können wir daraus ein Profil unserer Generation entwickeln?

Ich kann nur sagen, was Literatur für mich war. Es war eine Fluchtmöglichkeit. Ich war in einem Internat und die einzige Möglichkeit, zumindest mit dem Kopf rauzukommen, war lesen. In der Schulbibliothek durfte man sich nur an einem bestimmten Tag ein Buch ausborgen, und das für eine Woche. Damit es für die ganze Woche reicht, habe ich die Bücher nach dem Umfang ausgesucht. So bin ich zu Dostojewskij gekommen.

Ich war zwar nicht in einem Wiener Internat, sondern daheim bei Mama und Papa im Innviertel. Aber die Mama war Mitglied der Buchgemeinschaft Donauland…

Ja, das war meine auch. Beim Aussuchen der Quartalsbestellung durfte ich immer mitreden, und wenn ich für das Quartal mehr als einen Wunsch hatte, hat ihn meine Mutter erfüllt.

Als wir Anfang der Siebzigerjahre begonnen haben, Germanistik zu studieren, ist für mich eine neue, anfangs irritierende Dimension dazugekommen. Man konnte damals kaum ein Gespräch über Literatur führen, ohne gleichzeitig über Politik zu sprechen. Für die ganz strammen Linken musste Literatur parteilich sein, zugunsten von Arbeitern, Ausgebeuteten…

Das habe ich nie so eng gesehen. Ich habe mich vor allem für Romane interessiert und für die Frage: Was erzählt mir ein Roman über die Zeit, in der er geschrieben wurde? Da geht es um den Anspruch auf Realismus…

…der ja damals auch nicht unumstritten war. Angesagt war das Sprachexperiment. Bloß keine Geschichten erzählen! Hat dich das irritiert?

Nein, obwohl ich mich für das Sprachexperiment interessiert habe – interessieren musste. Professor Schmidt-Dengler, bei dem ich studiert habe, hat großen Wert darauf gelegt, uns ein breites Literaturverständnis zu vermitteln. Und die linken Kreise, in denen ich damals verkehrt bin, das waren keine dogmatischen Klassenkämpfer. Das war ein Diskussionszirkel. Wir brauchten nicht zu einer Demo aufrufen, weil mehr als die fünf Leute, die im Kaffeehaus sowieso zusammengesessen sind, wären eh nicht gekommen. Beim Germanistikstudium hatte ich die naive Vorstellung, ich würde lernen, wie es die großen Schriftsteller machen, also für das „Handwerkliche“ profitieren. Ich habe aber nur gelernt, wie es die Germanisten machen. Trotzdem, es gab wunderbare Gespräche auf der Universität und auch außerhalb. Adorno oder Lukacs? Solche Sachen haben wir intensiv diskutiert.

Als du in den Achtzigern deine ersten Romane geschrieben hast, war Realismus für dich eine Art literaturästhetische Leitvorstellung?

Ja – und auch wieder nicht. Ich hatte anfangs kein klares ästhetisches Programm. Was realistische Literatur ist, da gibt es verschiedene Zugänge und Vorstellungen. Ich habe eben lieber Thomas Mann gelesen als Samuel Beckett, und was grundsätzlich bleibt: Es geht beim realistischen Schreiben nicht darum, fotografisch genaue Abbildungen zu liefern, sondern um eine Erzählbewegung, die nicht nur das Wirkliche darstellt, sondern auch andere Möglichkeiten andenkt. Und ganz wichtig für die Kunst des realistischen Romans: Jede Romanfigur muss individuell und einzigartig sein, so wie jeder Mensch einzigartig ist, gleichzeitig soll sie aber auch exemplarisch sein. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch.

Neben dem Roman ist der politische Essay die literarische Form, die wir mit dem Autor Robert Menasse verbinden. Ist der Essay für dich die tauglichste Form der politischen Einmischung?

Ich sehe mich in erster Linie als Erzähler. Das ist mein größtes Talent. Das interessiert mich auch als Leser am meisten, ob jemand gut erzählen kann, das heißt mit Kunstanspruch. In den Siebzigern stand das Erzählen generell unter Trivialitätsverdacht. Wenn ich damals den Literaturzeitschriften Erzählungen angeboten habe, war das ziemlich aussichtslos. Essays hingegen haben die gerne genommen, weil es auch nicht so viele gab, die das gut konnten. Mit einem Essay hatte ich bessere Aussichten auf Veröffentlichung, so einfach war das, das würde ich im Nachhinein nicht mystifizieren.

Für mich ist der literarische Essay nicht die, aber eine Königsdisziplin des Schreibens.

Ja, wenn du ihn nicht als journalistischen Artikel definierst, als bloßen Kommentar, sondern als literarische Kunstform. Karl-Markus Gauß hat einmal gesagt: Wenn man einen Essay schreibt, muss man auf den Gedanken warten können. Der Gedanke soll, wenn man zu schreiben beginnt, noch lange nicht fertig sein. Und dieser Wunsch, schreibend einen Gedanken zu entwickeln, das reizt mich schon.

1990 ist dein vielbeachteter Essay „Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik“ erschienen. Seither sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen und auch die Sozialpartnerschaft hatte ihr Schicksal. Teilst du heute noch deine Kritik von damals?

Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der Sozialpartnerschaft hat sich meine Sicht nicht geändert. Sie hat in der österreichischen Öffentlichkeit und in der Mentalität etwas bewirkt, diese Glocke der Harmonisierung, und dafür habe ich ein Erklärungsmodell geliefert. Die Vertuschung von Widersprüchen verhindert produktive Auseinandersetzungen und damit gesellschaftliche Dynamik. Das ist die eine Seite, die andere: Die Sozialpartnerschaft hat im Hinblick auf sozialen Frieden und wachsenden Wohlstand auch ihre Meriten. Da bin ich milder geworden im Urteil.

2012 erschien dein Essay „Der europäische Landbote“, später deine Romane „Die Hauptstadt“ und „Die Erweiterung“, jetzt „Die Welt von morgen“. Ich kenne keinen zweiten Autor, der seine Literatur so sehr in den Dienst der europäischen Idee stellt wie du.

Da muss ich dir widersprechen. Ich stelle meine Arbeit in keiner Weise in irgendeinen Dienst. Es verhält sich anders. Reden wir noch einmal vom Realismus. Wenn wir den realistischen Roman definieren als „die Epoche, in eine Erzählung gefasst“, dann muss uns klar sein, dass wesentliche Rahmenbedingungen unseres Lebens, zum Beispiel rechtliche, in Brüssel produziert werden, dass diese Bedingungen in unser aller Leben hineinspielen. Ich war in Brüssel, weil ich diese Welt, die eine andere ist als die unserer Großeltern, besser verstehen wollte, denn meine Romanfiguren bewegen sich in dieser Welt. So wie ein lateinamerikanischer Autor, der in einer Diktatur lebt und eine Liebesgeschichte erzählt, zwangsläufig nicht nur von der Liebe erzählen kann, sondern auch von der Diktatur erzählen muss. Tut er das nicht, dann ist es Kitsch.

Apropos Lateinamerika. Du hast in den Achtzigern in Brasilien gelebt. War das eine Episode in deinem Leben oder haben dich diese sieben Jahre geprägt?

Ich wäre heute nicht der, der ich bin, ohne diese Jahre in Brasilien. Erstens habe ich dadurch eine ziemliche Distanz zu meiner Herkunft entwickelt, eine Distanz, die mich nie wieder ganz verlassen hat und die für mein Schreiben wichtig ist. Zweitens habe ich damals die Transformation Brasiliens von der Diktatur zur Demokratie miterlebt, und zwar mit allen Transformationskrisen. Da hat so richtig Geschichte stattgefunden. Als ich 1989 zurückgekommen bin, meinte ich, in ein vergleichsweise versteinertes Europa zurückzukehren.

Wenige Monate später fiel aber die Berliner Mauer…

Und da erlebte ich die europäische Variante einer Transformationskrise. Durch diese Erfahrungen habe ich mein Verständnis von gesellschaftspolitischem Wandel entwickelt. Weil wir von unserer Generation reden - unsere Generation hat die Erfahrung gemacht, dass politisch Wünschenswertes auch machbar ist. Das ist eine immens produktive Erfahrung und die soll zur Grundlage unseres politischen, gesellschaftlichen und sozialen Denkens werden. Die Gesellschaft ist immer im Wandel und die entscheidende Frage ist: Wollen wir ihn erleiden oder gestalten?


Donnerstag, 6. Juni 2024

Kulturbrief 18: Wie man eine Prophetenstimme zum Klingen bringt. Mendelssohns "Elias" in der Friedenskirche

 Mit einer beeindruckenden Aufführung von Felix Mendelssohn-Bartholdys Oratorium „Elias“ beendete die Sinfonia Christkönig am 26. Mai in der Friedenskirche Linz-Urfahr ihre dreiteilige Konzertreihe 2023/24. „Elias“ hat eine langwierige, fast zehnjährige Entstehungsgeschichte, die damit beginnt, dass Felix Mendelssohn-Bartholdy im Jahr 1836 zu seinem Freund Karl Klingemann sagt, er halte die Geschichte des Propheten Elias, wie sie im ersten Buch der Könige (1 Kön 19,11-13) erzählt werde, als „herrlich“ geeignet für ein Oratorium.

Die Arbeit am Libretto, die Klingemann nicht weiterverfolgte, übernahm – gemeinsam mit Mendelssohn selbst – der Dresdener Pastor Julius Schubring, der das alttestamentarische Narrativ des mutigen, auch erbarmungslosen Propheten und seines zürnenden Gottes mit christologischen, also neutestamentarischen Akzenten durchsetzte. Der zum Christentum konvertierte Mendelssohn-Bartholdy hatte damit kein Problem, achtete aber darauf, dass der alttestamentarische Erzählduktus nicht zu sehr aufgeweicht wurde, was allein aus dramaturgischen Gründen sinnvoll war. Die Uraufführung des Oratoriums in Birmingham (1846) war ein großer Erfolg. Mendelssohn veranschaulichte den dramatischen Handlungsbogen der Elias-Geschichte in einer abwechslungsreichen musikalischen Nummernfolge, setzte neben dem Chor mehrere Solostimmen und einen großen Orchesterapparat ein.

Eduard Matscheko, dem musikalischen Leiter der Sinfonia Christkönig, gelang es wieder einmal, sein Ensemble zu einer künstlerischen Glanztat zu führen. Als ebenso stimmsichere wie interpretatorisch einfühlsame Solisten bewährten sich Ilja Staple (Sopran), Valentina Kutzarova (Alt), Jan Petryka (Tenor), Klaus Kuttler (Bariton) sowie im berührenden Engelsterzett „Hebe deine Augen auf“ Elisabeth Baehr, Gabriel Federspieler und Selma Spitzer. Eduard Matscheko und die Sinfonia Christkönig brachten die wechselhaften Stimmungs- und Klangnuancen der Komposition wirkungsvoll zum Singen und Klingen.

Dass der wechselhafte Einfall des nachmittäglichen Sonnenlichts in den Kirchenraum die „Elias“-Dramaturgie kongenial unterstützte, mag man – ganz nach dem Ausmaß eigener Wundergläubigkeit – als schönen Zufall oder höhere Gnade einordnen. Jedenfalls dankte das zahlreich erschienene Publikum nach mehr als zwei Stunden konzentrierten Lauschens mit ausdauerndem Beifall und Jubel.

Sonntag, 26. Mai 2024

Kulturbrief 17: Subventioniertes Jakobinerspielen als Festspieleröffung

Ich habe im Fernsehen die Eröffnung der Wiener Festwochen gesehen und gehört. Ich war aufgrund der Vorberichte gewarnt und hatte trotzdem den festen Vorsatz der Vorurteilslosigkeit. Aber trotz ehrlichen Bemühens sehe ich dieses Jakobinerspielen nur im Planquadrat von ALBERN - REFLEXIONSBEFREIT - SELBSTGEIL - GRUSELIG. Diesen subventionierten Revolutionshabitus finde ich ebenso pubertär wie fahrlässig. Ich hoffe, die einzelnen Produktionen setzen andere politische Zeichen (oder gar keine vordergründigen!) und erheben sich über das künstlerische Niveau der Eröffnung. Mit gewisser Sorge sehe ich dem Gerichtshof der freien Republik Wien entgegen. Mit selbstherrlichen, machtgeilen Revolutionstribunalen dieser Sorte haben wir ja in der Geschichte die tollsten Erfahrungen gemacht. Warum gibt sich eine Irmgard Griess für dieses Kasperltheater her? Allerdings muss ich selbstkritisch einräumen, dass ich zu den alten, weißen Säcken gehöre, für die die Gruppe "Bipolar feminin" bei der Eröffnung der Festspiele diesen um menschliche Nähe bemühten Refrain gesungen hat: "Ich töte euch alle / Ich bring euch alle um / Vielleicht häng ich euch auf / Vielleicht stech ich euch in den Bauch." Nur zu! Wenn ihr die Zukunft seid, will ich sie eh nicht erleben.

Sonntag, 31. März 2024

Kulturbrief 16: Wer Gauß nicht liest, versäumt viel. Zur Neuerscheinung "Schiff aus Stein. Orte und Träume"

 Unter dem Titel "Jeder Ort hat sein Geheimnis und seine Geschichte" erschien am 23. März meine OÖN-Rezension zum neuen Buch von Karl-Markus Gauß.

In der Nähe der albanischen Gemeinde Roskovec steht auf einem Hügel ein wuchtiges Schiff aus Stein. Gebaut wurde es in den Neunzigerjahren, gedacht war es als Hotel, es wurde aber nie eröffnet. Drei Brüder aus der Familie, die den seltsamen Bau errichten ließ, hatten im albanischen Hafen Vlora ein Flüchtlingsschiff bestiegen, das aber nie im italienischen Zielort ankam. Mit dem steinernen Schiff sollte den Toten ein Denkmal gesetzt werden.

Das ist der Inhalt der Titelgeschichte von Karl-Markus Gauß‘ neuem Buch „Schiff aus Stein. Orte und Träume“. Wie so oft erzählt der Salzburger Autor von Orten, die ihm Geschichten erzählen, nicht immer spektakuläre, denn für Gauß gibt es „keinen Ort, der es nicht wert wäre, durchwandert und erkundet zu werden, weil ein jeder sein Geheimnis und seine Geschichte hat.“ Immer wieder zieht es den Reisenden nach Südosteuropa. Er erzählt aber auch vom Selbstbehauptungswillen der Litauer, die ihre Sprache gegen die imperialen Dampfwalzen aus Deutschland und Russland verteidigt haben, und er erzählt vom Stift Schlägl, wo er noch dem Orgelspiel des 2016 verstorbenen Musikers Ruprecht Gottfried Frieberger lauschte.

Ob man von „andächtigem“ Lauschen sprechen kann, mag offen bleiben. Gauß verwendet zur Selbstbenennung das Oxymoron „glaubensstrenger katholischer Atheist“, verschweigt aber nicht seine Bewunderung für die Schönheit einer schwarzen Madonna in einer litauischen Renaissancekapelle und den „Schmerz“ des Bewunderers, der „in die Frömmigkeit nicht zurückfinden kann.“ Als er sich gemeinsam mit vielen anderen Trauernden in der Wallfahrtskirche von Attersee für immer vom Schriftsteller Hans Eichhorn verabschiedet, ist er dankbar für das „bewährte Ritual“, das die Kirche anbietet.

Auch über den Leser Karl-Markus Gauß erfahren wir in „Schiff aus Stein“ so manches Erhellende, zum Beispiel über die „Anna Karenina“-Lektüre des Sechzehnjährigen und über jenen Zustand des Lesenden, in dem er so ganz „in einer anderen Welt und zugleich bei sich selbst ist“. Aus Gauß‘ sensiblen Impressionen spricht die genaue, aber nie indezente Menschenbeobachtung, dort und da ironisch, aber zurückhaltend im Urteil. Er beobachtet eine in die Buchstabenwelt versunkene Leserin im Bus, eine gealterte Hippie-Frau in Vilnius, einen Spaghetti essenden Kaffeehausbesucher und andere mehr.

Auch die sogenannten „letzten Dinge“ drängen sich bisweilen in diese literarischen Miniaturen: Friedhöfe, verblassende Erinnerungen und die mit dem Alter zunehmende Anfälligkeit für Krankheiten. Karl-Markus Gauß wird im Mai seinen Siebziger feiern. Dennoch dominieren helle Tonlagen, Schönheit und Humanität – kraftvoll akzentuiert durch die Buch-Widmung: Sie gilt der vor wenigen Monaten geborenen Enkeltochter Amalia Sophie.

Karl-Markus Gauß: „Schiff aus Stein. Orte und Träume“, Zsolnay, 143 Seiten, 23,70 Euro

Dienstag, 12. März 2024

Kulturbrief 15: Valerie Fritschs neues Buch "Zitronen", ein großartiger Roman

Diese Rezension erschien am 1. März in den OÖN

Das Dorf, in dem August Drach aufwächst, ist so klein, „dass man sich, wenn man sich umschaute, nie sicher war, ob jeder jeden kannte oder niemand niemanden.“ Man erzählt Geschichten hinter vorgehaltener Hand. Ob sie der Wahrheit entsprechen, bleibt offen. Die Unsicherheit doppelter Böden ist hier soziale Normalität, im Elternhaus des kleinen August äußert sie sich auch als Unberechenbarkeit.

Unberechenbar ist Augusts Vater, ein Alkoholiker, der seinen Gemütsschwankungen ausgeliefert ist. Der Sohn bemüht sich zwar zu durchschauen, welche seiner Sätze und Verhaltensweisen beim Vater welche Reaktionen bewirken, aber vergeblich. Ein und dieselbe Handlung löst einmal Gleichgültigkeit aus, ein anderes Mal Lachen, ein drittes Mal Wut und Gewalttätigkeit. Dass der Vater eines Tages spur- und kommentarlos verschwindet, passt ins Bild seiner Unberechenbarkeit.

Die schöne Lilly Drach scheint alles in allem eine fürsorgliche Mutter zu sein. Ihre Unberechenbarkeit zeigt sich anfangs nur in alltäglichen Verrichtungen. In einem Jahr pflegt sie den Obstgarten hingebungsvoll, im nächsten lässt sie ihn verkommen. Sie hängt gerne ihrem Traum vom glanzvollen Frauenleben nach, während die Wohnräume der Verwahrlosung entgegenschimmeln.

Die scheinbar liebevolle Pflege ihres kränkelnden Kindes wird für Lilly zum Sinnzentrum in einem ansonsten flachen Dasein. Um darauf nicht verzichten zu müssen, hält sie August durch schädigende, heimlich verabreichte Medikamente in seinem rätselhaften Krankheitszustand. Dieser zerstörerischen Mutterliebe entkommt August durch die Hilfe des Hausarztes, der zwar in Lilly Drach verliebt ist, aber sich dann doch auf seine Verantwortung besinnt. Der gemeinsame Sommerurlaub mit der Mutter und ihrem Verehrer – symbolisch verbunden mit der Zitrone – bleibt Augusts schönste Kindheitserinnerung.

Es verwundert nicht, dass nach solch einer Kindheit Unsicherheit und Labilität Augusts hartnäckige Lebensbegleiter bleiben. Dass ausgerechnet er die Liebe der exzentrischen Künstlerin Ava wecken kann, sieht er anfangs als Gottesgeschenk, was aber nur zuträfe, wenn der liebe Gott Zyniker wäre.

Mit ihrem neuen Roman „Zitronen“ liefert Valerie Fritsch die literarische Diagnose einer durch und durch kranken Familienkonstellation. Die Überzeugungskraft des Texts ist nicht nur den fundierten Kenntnissen, sondern auch der beeindruckenden Formulierungskraft der Autorin zu verdanken. Mit ihrer genauen, gleichzeitig melodiös-eleganten Sprache dringt sie sehr subtil zum Kern des psychischen Desasters vor. Dass Valerie Fritsch bisweilen zum stilistischen Virtuosentum neigt und gerne in kühnen Metaphern und sogenannten Amplifikationen (variierenden Wiederholungen) schwelgt, mag man ihr verzeihen. Schön ist es ja!

Valerie Fritsch: „Zitronen“, Roman, Suhrkamp, 186 Seiten, 25,50 Euro

Montag, 19. Februar 2024

Kulturbrief 14: "Wir sitzen im Dickicht und weinen" - ein lesenswertes Romandebüt

 Meine Rezension zum gelungenen Roman von Felicitas Prokopetz (OÖN 17.2.24)

Valerie hat es nicht leicht. Ihre Mutter, zu der sie ohnedies eine durchwachsene Beziehung hat, erkrankt an Krebs. Valeries sechzehnjähriger Sohn Tobias hält sich für einen Erwachsenen und möchte mit zwei Freunden ein Schuljahr in England verbringen, was Valerie für zu gefährlich hält. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt Felicitas Prokopetz den Plot ihres Debütromans „Wir sitzen im Dickicht und weinen“. Unterbrochen wird die Haupthandlung durch markante Rückblenden in die Familiengeschichte bis zu den Urgroßmüttern.

Valeries Mutter Christina stammt aus einer konservativen Schweizer Lehrerfamilie. Sie gehört zur Pioniergeneration der Frauenemanzipation. Ihre Ehe mit Roman ist bald zerbrochen, und Roman hat nicht nur das Interesse an seiner Ex-Frau, sondern auch an seiner Tochter verloren. Christina wiederum verbraucht viele Lebensjahre für ein Langzeitstudium, das aber keine Grundlage für ein solides finanzielles Auskommen liefert.

Dennoch ist Christina davon überzeugt, dass sie für ihre Tochter immer das Bestmögliche getan hat, eine Überzeugung, die Valerie nicht teilen kann. Den antiautoritären Erziehungsstil ihrer Mutter erlebte sie vor allem als Vernachlässigung aus egoistischen Motiven. Der emotionale Anker des Kindes war Großmutter Charlotte. Aus der Tochter-Perspektive ist Christina eine emotional labile Frau, selbstgerecht und selbstmitleidig, empfindlich, aber unsensibel im Umgang mit anderen.

Dass Valerie als Jugendliche fast den Boden unter den Füßen verloren hätte, sieht sie auch als Versagen ihrer Mutter. Aus der dunklen Welt von Schulabbruch, Alkohol- und Drogenmissbrauch hat sie die Liebesbeziehung mit Benedikt und die frühe Schwangerschaft befreit. Dass ihr ausgerechnet Christina jetzt vorwirft, perfektionistisch und kühl zu sein, empört Valerie. So belastet die Mutter-Tochter-Beziehung aber auch ist, ausgerechnet jetzt, in den Monaten nach Christinas Krebserkrankung, hätte es nicht zum Zerwürfnis kommen dürfen.

Das ist ein Stoff, aus dem andere Autorinnen ein voluminöses Generationenepos machen würden. Felicitas Prokopetz, eine Meisterin der Verdichtung, bringt ihn auf 200 Seiten unter. Sie schreibt skizzenhaft und episodisch, reduziert die Fülle des Materials auf Wesentliches. Die Autorin hat an der Universität Wien Sprachkunst und am deutschen Literaturinstitut Leipzig Literarisches Schreiben studiert, und sie hat Praxiserfahrung als Gebrauchstexterin. Diese solide „handwerkliche“ Grundlage erkennt man. Mit Gespür für eine kompakte Textstruktur gestaltet Felicitas Prokopetz die Zeitsprünge. Durch gezielten Perspektivenwechsel verdeutlicht sie, wie sehr die Figuren in ihrer Selbstwahrnehmung befangen sind. Ihre Erzählsprache ist scheinbar einfach, tatsächlich aber von schlichter, unaufdringlicher, mitunter heiterer Eleganz; und in den knappen Dialogen sitzt wirklich jeder Satz. Kurzum, „Wir sitzen im Dickicht und weinen“ ist ein überaus gelungenes, lesenswertes Debüt.

Felicitas Prokopetz: „Wir sitzen im Dickicht und weinen“, Eichborn, 204 Seiten, 22,80 Euro

Samstag, 3. Februar 2024

Kulturbrief 13: Meine OÖN-Rezension zu Michael Köhlmeiers "Das Philosophenschiff"

 Das soziale Gift der Revolution

Am Anfang steht die verlockende Aussicht auf eine starke Geschichte. Michael Köhlmeier erzählt, er sei im Jahr 2008 zur Geburtstagsfeier einer Hundertjährigen eingeladen worden, was ihn verwundert habe. Denn zur berühmten Architektin Anouk Perleman-Jacob habe er bis dahin keinerlei persönlichen Kontakt gehabt. Die schwerhörige, gebrechliche, aber geistig frische Jubilarin vertraut dem Autor den Grund der Einladung an. Sie möchte, dass er sie ab nun täglich besucht, um ihre Geschichte zu hören…

Von Anfang an betreibt Michael Köhlmeier in seinem neuen Roman „Das Philosophenschiff“ sein geistvolles Spiel mit Fakten und Fiktionen. Eine reale Anouk Perleman-Jacob gibt es zwar nicht, einige Ähnlichkeiten mit Margarete Schütte-Lihotzky sind aber kein Zufall. Die Lebensgeschichte der fiktiven Perleman-Jacob, die sie dem Autor in mehreren Sitzungen anvertraut, ist zwar in historischen Fundamenten verankert. So manches Teilereignis kann aber gar nicht so verlaufen sein, wie es die alte Dame erzählt. Sie gesteht, dass sie manchmal ein bisschen lügt.

Geboren wurde die weibliche Hauptfigur 1908 in St. Petersburg. Der Vater war Architekt, die Mutter Ornithologin. Abgesehen von einem nervösen Durcheinander im Liebesleben der Eltern verlief Anouks Kindheit einigermaßen günstig. Zur ersten schlimmen Bruchstelle kommt es im Jahr 1922. Lenin lässt etwa 400 Intellektuelle ausweisen. Trotzki rechtfertigt die Ausweisung als humanitären Akt. Würde man diese möglicherweise unzuverlässigen Leute im Land lassen, müsste man sie wahrscheinlich irgendwann als „Agenten des Feindes“ liquidieren. Auf einem Luxusdampfer schwimmt nun ein knappes Dutzend Exilierter gegen Westen, unter ihnen Anouk und ihre Eltern, die in keiner Weise politisch aktiv waren und sogar mit den Bolschewisten sympathisierten.

Mit seiner wohltemperierten Mischung aus politischem Scharfblick und erzähltechnischer Meisterschaft seziert Michael Köhlmeier in seinem neuen Roman die Herrschaftsmechanismen der bolschewistischen Diktatur. Einerseits die erschreckende Gewaltbereitschaft, andererseits die systematische Vergiftung sozialer Beziehungen in einer Gesellschaft, in der jeder ein Denunziant oder ein „Agent des Feindes“ sein könnte. Jede Wahrnehmung wird zum mehrdeutigen Zeichen. Alles könnte verdächtig sein, sogar das schlichte Naturgedicht einer Lyrikerin – gerade wegen seiner scheinbaren Harmlosigkeit!

Das Misstrauen wird zur ständigen Begleiterin und legt sich als partiell lächerliche Kollektivparanoia über die Gesellschaft – bis die Revolutionsführer anfangen, sich gegenseitig zu misstrauen. Diese Erfahrung macht letztlich auch Lenin, zumindest im Roman „Die Philosophenschule“, einem ganz heißen Lesetipp, besonders für Zeitgenossen, die sich noch immer gerne süße, kleine Lenin-Statuen aufs Bücherregal stellen und sie mit tränenfeuchter Nostalgie anlächeln.

Erschienen in OÖN am 27.1.24

Michael Köhlmeier: „Das Philosophenschiff“, Roman, Hanser, 220 Seiten, 24,70 Euro