Sonntag, 7. Juli 2024

Kulturbrief 19: "Unsere Epoche in erzählter Form." - Ein Gespräch mit Robert Menasse anlässlich unseres gemeinsamen Siebzigers

Robert Menasse feierte am 21. Juni seinen 70. Geburtstag, ich einen Tag später. Wir kennen uns seit der Studienzeit in den roten Siebzigern. Das nahm ich zum Anlass für ein Gespräch über das Literaturverständnis unserer Generation, es erschien (leicht gekürzt) in den OÖN vom 22./23. Juni 24.

 Man sieht es dir zwar nicht an, Robert, aber du bist um einen ganzen Tag älter als ich. In den Siebzigerjahren, als wir uns kennengelernt haben, war – im Unterschied zu heute – Literatur für viele junge Männer etwas sehr Wichtiges. Zu unserem Jahrgang 1954 gehören auch Erich Hackl, Karl-Markus Gauß, Christoph Ransmayr. Können wir daraus ein Profil unserer Generation entwickeln?

Ich kann nur sagen, was Literatur für mich war. Es war eine Fluchtmöglichkeit. Ich war in einem Internat und die einzige Möglichkeit, zumindest mit dem Kopf rauzukommen, war lesen. In der Schulbibliothek durfte man sich nur an einem bestimmten Tag ein Buch ausborgen, und das für eine Woche. Damit es für die ganze Woche reicht, habe ich die Bücher nach dem Umfang ausgesucht. So bin ich zu Dostojewskij gekommen.

Ich war zwar nicht in einem Wiener Internat, sondern daheim bei Mama und Papa im Innviertel. Aber die Mama war Mitglied der Buchgemeinschaft Donauland…

Ja, das war meine auch. Beim Aussuchen der Quartalsbestellung durfte ich immer mitreden, und wenn ich für das Quartal mehr als einen Wunsch hatte, hat ihn meine Mutter erfüllt.

Als wir Anfang der Siebzigerjahre begonnen haben, Germanistik zu studieren, ist für mich eine neue, anfangs irritierende Dimension dazugekommen. Man konnte damals kaum ein Gespräch über Literatur führen, ohne gleichzeitig über Politik zu sprechen. Für die ganz strammen Linken musste Literatur parteilich sein, zugunsten von Arbeitern, Ausgebeuteten…

Das habe ich nie so eng gesehen. Ich habe mich vor allem für Romane interessiert und für die Frage: Was erzählt mir ein Roman über die Zeit, in der er geschrieben wurde? Da geht es um den Anspruch auf Realismus…

…der ja damals auch nicht unumstritten war. Angesagt war das Sprachexperiment. Bloß keine Geschichten erzählen! Hat dich das irritiert?

Nein, obwohl ich mich für das Sprachexperiment interessiert habe – interessieren musste. Professor Schmidt-Dengler, bei dem ich studiert habe, hat großen Wert darauf gelegt, uns ein breites Literaturverständnis zu vermitteln. Und die linken Kreise, in denen ich damals verkehrt bin, das waren keine dogmatischen Klassenkämpfer. Das war ein Diskussionszirkel. Wir brauchten nicht zu einer Demo aufrufen, weil mehr als die fünf Leute, die im Kaffeehaus sowieso zusammengesessen sind, wären eh nicht gekommen. Beim Germanistikstudium hatte ich die naive Vorstellung, ich würde lernen, wie es die großen Schriftsteller machen, also für das „Handwerkliche“ profitieren. Ich habe aber nur gelernt, wie es die Germanisten machen. Trotzdem, es gab wunderbare Gespräche auf der Universität und auch außerhalb. Adorno oder Lukacs? Solche Sachen haben wir intensiv diskutiert.

Als du in den Achtzigern deine ersten Romane geschrieben hast, war Realismus für dich eine Art literaturästhetische Leitvorstellung?

Ja – und auch wieder nicht. Ich hatte anfangs kein klares ästhetisches Programm. Was realistische Literatur ist, da gibt es verschiedene Zugänge und Vorstellungen. Ich habe eben lieber Thomas Mann gelesen als Samuel Beckett, und was grundsätzlich bleibt: Es geht beim realistischen Schreiben nicht darum, fotografisch genaue Abbildungen zu liefern, sondern um eine Erzählbewegung, die nicht nur das Wirkliche darstellt, sondern auch andere Möglichkeiten andenkt. Und ganz wichtig für die Kunst des realistischen Romans: Jede Romanfigur muss individuell und einzigartig sein, so wie jeder Mensch einzigartig ist, gleichzeitig soll sie aber auch exemplarisch sein. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch.

Neben dem Roman ist der politische Essay die literarische Form, die wir mit dem Autor Robert Menasse verbinden. Ist der Essay für dich die tauglichste Form der politischen Einmischung?

Ich sehe mich in erster Linie als Erzähler. Das ist mein größtes Talent. Das interessiert mich auch als Leser am meisten, ob jemand gut erzählen kann, das heißt mit Kunstanspruch. In den Siebzigern stand das Erzählen generell unter Trivialitätsverdacht. Wenn ich damals den Literaturzeitschriften Erzählungen angeboten habe, war das ziemlich aussichtslos. Essays hingegen haben die gerne genommen, weil es auch nicht so viele gab, die das gut konnten. Mit einem Essay hatte ich bessere Aussichten auf Veröffentlichung, so einfach war das, das würde ich im Nachhinein nicht mystifizieren.

Für mich ist der literarische Essay nicht die, aber eine Königsdisziplin des Schreibens.

Ja, wenn du ihn nicht als journalistischen Artikel definierst, als bloßen Kommentar, sondern als literarische Kunstform. Karl-Markus Gauß hat einmal gesagt: Wenn man einen Essay schreibt, muss man auf den Gedanken warten können. Der Gedanke soll, wenn man zu schreiben beginnt, noch lange nicht fertig sein. Und dieser Wunsch, schreibend einen Gedanken zu entwickeln, das reizt mich schon.

1990 ist dein vielbeachteter Essay „Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik“ erschienen. Seither sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen und auch die Sozialpartnerschaft hatte ihr Schicksal. Teilst du heute noch deine Kritik von damals?

Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der Sozialpartnerschaft hat sich meine Sicht nicht geändert. Sie hat in der österreichischen Öffentlichkeit und in der Mentalität etwas bewirkt, diese Glocke der Harmonisierung, und dafür habe ich ein Erklärungsmodell geliefert. Die Vertuschung von Widersprüchen verhindert produktive Auseinandersetzungen und damit gesellschaftliche Dynamik. Das ist die eine Seite, die andere: Die Sozialpartnerschaft hat im Hinblick auf sozialen Frieden und wachsenden Wohlstand auch ihre Meriten. Da bin ich milder geworden im Urteil.

2012 erschien dein Essay „Der europäische Landbote“, später deine Romane „Die Hauptstadt“ und „Die Erweiterung“, jetzt „Die Welt von morgen“. Ich kenne keinen zweiten Autor, der seine Literatur so sehr in den Dienst der europäischen Idee stellt wie du.

Da muss ich dir widersprechen. Ich stelle meine Arbeit in keiner Weise in irgendeinen Dienst. Es verhält sich anders. Reden wir noch einmal vom Realismus. Wenn wir den realistischen Roman definieren als „die Epoche, in eine Erzählung gefasst“, dann muss uns klar sein, dass wesentliche Rahmenbedingungen unseres Lebens, zum Beispiel rechtliche, in Brüssel produziert werden, dass diese Bedingungen in unser aller Leben hineinspielen. Ich war in Brüssel, weil ich diese Welt, die eine andere ist als die unserer Großeltern, besser verstehen wollte, denn meine Romanfiguren bewegen sich in dieser Welt. So wie ein lateinamerikanischer Autor, der in einer Diktatur lebt und eine Liebesgeschichte erzählt, zwangsläufig nicht nur von der Liebe erzählen kann, sondern auch von der Diktatur erzählen muss. Tut er das nicht, dann ist es Kitsch.

Apropos Lateinamerika. Du hast in den Achtzigern in Brasilien gelebt. War das eine Episode in deinem Leben oder haben dich diese sieben Jahre geprägt?

Ich wäre heute nicht der, der ich bin, ohne diese Jahre in Brasilien. Erstens habe ich dadurch eine ziemliche Distanz zu meiner Herkunft entwickelt, eine Distanz, die mich nie wieder ganz verlassen hat und die für mein Schreiben wichtig ist. Zweitens habe ich damals die Transformation Brasiliens von der Diktatur zur Demokratie miterlebt, und zwar mit allen Transformationskrisen. Da hat so richtig Geschichte stattgefunden. Als ich 1989 zurückgekommen bin, meinte ich, in ein vergleichsweise versteinertes Europa zurückzukehren.

Wenige Monate später fiel aber die Berliner Mauer…

Und da erlebte ich die europäische Variante einer Transformationskrise. Durch diese Erfahrungen habe ich mein Verständnis von gesellschaftspolitischem Wandel entwickelt. Weil wir von unserer Generation reden - unsere Generation hat die Erfahrung gemacht, dass politisch Wünschenswertes auch machbar ist. Das ist eine immens produktive Erfahrung und die soll zur Grundlage unseres politischen, gesellschaftlichen und sozialen Denkens werden. Die Gesellschaft ist immer im Wandel und die entscheidende Frage ist: Wollen wir ihn erleiden oder gestalten?


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