tag:blogger.com,1999:blog-18721850166093866562024-03-12T12:03:27.997+01:00Christian SchacherreiterChristian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.comBlogger15125tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-56128611051017081472024-03-12T12:02:00.001+01:002024-03-12T12:02:38.224+01:00Kulturbrief 15: Valerie Fritschs neues Buch "Zitronen", ein großartiger Roman <p><i>Diese Rezension erschien am 1. März in den OÖN</i></p><p>Das Dorf, in dem August Drach aufwächst, ist so klein, „dass
man sich, wenn man sich umschaute, nie sicher war, ob jeder jeden kannte oder
niemand niemanden.“ Man erzählt Geschichten hinter vorgehaltener Hand. Ob sie
der Wahrheit entsprechen, bleibt offen. Die Unsicherheit doppelter Böden ist hier
soziale Normalität, im Elternhaus des kleinen August äußert sie sich auch als
Unberechenbarkeit.</p><p class="MsoNormal"><o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Unberechenbar ist Augusts Vater, ein Alkoholiker, der seinen
Gemütsschwankungen ausgeliefert ist. Der Sohn bemüht sich zwar zu durchschauen,
welche seiner Sätze und Verhaltensweisen beim Vater welche Reaktionen bewirken,
aber vergeblich. Ein und dieselbe Handlung löst einmal Gleichgültigkeit aus,
ein anderes Mal Lachen, ein drittes Mal Wut und Gewalttätigkeit. Dass der Vater
eines Tages spur- und kommentarlos verschwindet, passt ins Bild seiner
Unberechenbarkeit. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Die schöne Lilly Drach scheint alles in allem eine
fürsorgliche Mutter zu sein. Ihre Unberechenbarkeit zeigt sich anfangs nur in
alltäglichen Verrichtungen. In einem Jahr pflegt sie den Obstgarten hingebungsvoll,
im nächsten lässt sie ihn verkommen. Sie hängt gerne ihrem Traum vom
glanzvollen Frauenleben nach, während die Wohnräume der Verwahrlosung
entgegenschimmeln.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Die scheinbar liebevolle Pflege ihres kränkelnden Kindes
wird für Lilly zum Sinnzentrum in einem ansonsten flachen Dasein. Um darauf
nicht verzichten zu müssen, hält sie August durch schädigende, heimlich
verabreichte Medikamente in seinem rätselhaften Krankheitszustand. Dieser
zerstörerischen Mutterliebe entkommt August durch die Hilfe des Hausarztes, der
zwar in Lilly Drach verliebt ist, aber sich dann doch auf seine Verantwortung
besinnt. Der gemeinsame Sommerurlaub mit der Mutter und ihrem Verehrer –
symbolisch verbunden mit der Zitrone – bleibt Augusts schönste
Kindheitserinnerung.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Es verwundert nicht, dass nach solch einer Kindheit
Unsicherheit und Labilität Augusts hartnäckige Lebensbegleiter bleiben. Dass
ausgerechnet er die Liebe der exzentrischen Künstlerin Ava wecken kann, sieht
er anfangs als Gottesgeschenk, was aber nur zuträfe, wenn der liebe Gott
Zyniker wäre.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Mit ihrem neuen Roman „Zitronen“ liefert Valerie Fritsch die
literarische Diagnose einer durch und durch kranken Familienkonstellation. Die
Überzeugungskraft des Texts ist nicht nur den fundierten Kenntnissen, sondern
auch der beeindruckenden Formulierungskraft der Autorin zu verdanken. Mit ihrer
genauen, gleichzeitig melodiös-eleganten Sprache dringt sie sehr subtil zum
Kern des psychischen Desasters vor. Dass Valerie Fritsch bisweilen zum
stilistischen Virtuosentum neigt und gerne in kühnen Metaphern und sogenannten
Amplifikationen (variierenden Wiederholungen) schwelgt, mag man ihr verzeihen.
Schön ist es ja!</p>
<p class="MsoNormal"><b>Valerie Fritsch: „Zitronen“, Roman, Suhrkamp, 186 Seiten, 25,50
Euro</b><o:p></o:p></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-21790687364064965052024-02-19T18:04:00.000+01:002024-02-19T18:04:10.222+01:00Kulturbrief 14: "Wir sitzen im Dickicht und weinen" - ein lesenswertes Romandebüt<p> <i>Meine Rezension zum gelungenen Roman von Felicitas Prokopetz (OÖN 17.2.24)</i></p>
<p class="MsoNormal">Valerie hat es nicht leicht. Ihre Mutter, zu der sie
ohnedies eine durchwachsene Beziehung hat, erkrankt an Krebs. Valeries
sechzehnjähriger Sohn Tobias hält sich für einen Erwachsenen und möchte mit
zwei Freunden ein Schuljahr in England verbringen, was Valerie für zu
gefährlich hält. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt Felicitas Prokopetz
den Plot ihres Debütromans „Wir sitzen im Dickicht und weinen“. Unterbrochen
wird die Haupthandlung durch markante Rückblenden in die Familiengeschichte bis
zu den Urgroßmüttern.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Valeries Mutter Christina stammt aus einer konservativen
Schweizer Lehrerfamilie. Sie gehört zur Pioniergeneration der
Frauenemanzipation. Ihre Ehe mit Roman ist bald zerbrochen, und Roman hat nicht
nur das Interesse an seiner Ex-Frau, sondern auch an seiner Tochter verloren.
Christina wiederum verbraucht viele Lebensjahre für ein Langzeitstudium, das aber
keine Grundlage für ein solides finanzielles Auskommen liefert.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Dennoch ist Christina davon überzeugt, dass sie für ihre
Tochter immer das Bestmögliche getan hat, eine Überzeugung, die Valerie nicht
teilen kann. Den antiautoritären Erziehungsstil ihrer Mutter erlebte sie vor
allem als Vernachlässigung aus egoistischen Motiven. Der emotionale Anker des
Kindes war Großmutter Charlotte. Aus der Tochter-Perspektive ist Christina eine
emotional labile Frau, selbstgerecht und selbstmitleidig, empfindlich, aber unsensibel
im Umgang mit anderen.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Dass Valerie als Jugendliche fast den Boden unter den Füßen
verloren hätte, sieht sie auch als Versagen ihrer Mutter. Aus der dunklen Welt
von Schulabbruch, Alkohol- und Drogenmissbrauch hat sie die Liebesbeziehung mit
Benedikt und die frühe Schwangerschaft befreit. Dass ihr ausgerechnet Christina
jetzt vorwirft, perfektionistisch und kühl zu sein, empört Valerie. So belastet
die Mutter-Tochter-Beziehung aber auch ist, ausgerechnet jetzt, in den Monaten
nach Christinas Krebserkrankung, hätte es nicht zum Zerwürfnis kommen dürfen.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Das ist ein Stoff, aus dem andere Autorinnen ein voluminöses
Generationenepos machen würden. Felicitas Prokopetz, eine Meisterin der
Verdichtung, bringt ihn auf 200 Seiten unter. Sie schreibt skizzenhaft und
episodisch, reduziert die Fülle des Materials auf Wesentliches. Die Autorin hat
an der Universität Wien Sprachkunst und am deutschen Literaturinstitut Leipzig
Literarisches Schreiben studiert, und sie hat Praxiserfahrung als
Gebrauchstexterin. Diese solide „handwerkliche“ Grundlage erkennt man. Mit
Gespür für eine kompakte Textstruktur gestaltet Felicitas Prokopetz die
Zeitsprünge. Durch gezielten Perspektivenwechsel verdeutlicht sie, wie sehr die
Figuren in ihrer Selbstwahrnehmung befangen sind. Ihre Erzählsprache ist
scheinbar einfach, tatsächlich aber von schlichter, unaufdringlicher, mitunter
heiterer Eleganz; und in den knappen Dialogen sitzt wirklich jeder Satz. Kurzum,
„Wir sitzen im Dickicht und weinen“ ist ein überaus gelungenes, lesenswertes Debüt.</p>
<p class="MsoNormal">Felicitas Prokopetz: „Wir sitzen im Dickicht und weinen“,
Eichborn, 204 Seiten, 22,80 Euro<o:p></o:p></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-20857266574991084462024-02-03T21:01:00.002+01:002024-02-03T21:01:37.785+01:00Kulturbrief 13: Meine OÖN-Rezension zu Michael Köhlmeiers "Das Philosophenschiff"<p> <b>Das soziale Gift der Revolution</b></p>
<p class="MsoNormal">Am Anfang steht die verlockende Aussicht auf eine starke
Geschichte. Michael Köhlmeier erzählt, er sei im Jahr 2008 zur Geburtstagsfeier
einer Hundertjährigen eingeladen worden, was ihn verwundert habe. Denn zur
berühmten Architektin Anouk Perleman-Jacob habe er bis dahin keinerlei
persönlichen Kontakt gehabt. Die schwerhörige, gebrechliche, aber geistig
frische Jubilarin vertraut dem Autor den Grund der Einladung an. Sie möchte,
dass er sie ab nun täglich besucht, um ihre Geschichte zu hören…<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Von Anfang an betreibt Michael Köhlmeier in seinem neuen
Roman „Das Philosophenschiff“ sein geistvolles Spiel mit Fakten und Fiktionen.
Eine reale Anouk Perleman-Jacob gibt es zwar nicht, einige Ähnlichkeiten mit
Margarete Schütte-Lihotzky sind aber kein Zufall. Die Lebensgeschichte der
fiktiven Perleman-Jacob, die sie dem Autor in mehreren Sitzungen anvertraut,
ist zwar in historischen Fundamenten verankert. So manches Teilereignis kann
aber gar nicht so verlaufen sein, wie es die alte Dame erzählt. Sie gesteht,
dass sie manchmal ein bisschen lügt.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Geboren wurde die weibliche Hauptfigur 1908 in St.
Petersburg. Der Vater war Architekt, die Mutter Ornithologin. Abgesehen von
einem nervösen Durcheinander im Liebesleben der Eltern verlief Anouks Kindheit
einigermaßen günstig. Zur ersten schlimmen Bruchstelle kommt es im Jahr 1922.
Lenin lässt etwa 400 Intellektuelle ausweisen. Trotzki rechtfertigt die Ausweisung
als humanitären Akt. Würde man diese möglicherweise unzuverlässigen Leute im
Land lassen, müsste man sie wahrscheinlich irgendwann als „Agenten des Feindes“
liquidieren. Auf einem Luxusdampfer schwimmt nun ein knappes Dutzend Exilierter
gegen Westen, unter ihnen Anouk und ihre Eltern, die in keiner Weise politisch
aktiv waren und sogar mit den Bolschewisten sympathisierten. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Mit seiner wohltemperierten Mischung aus politischem
Scharfblick und erzähltechnischer Meisterschaft seziert Michael Köhlmeier in
seinem neuen Roman die Herrschaftsmechanismen der bolschewistischen Diktatur.
Einerseits die erschreckende Gewaltbereitschaft, andererseits die systematische
Vergiftung sozialer Beziehungen in einer Gesellschaft, in der jeder ein Denunziant
oder ein „Agent des Feindes“ sein könnte. Jede Wahrnehmung wird zum
mehrdeutigen Zeichen. Alles könnte verdächtig sein, sogar das schlichte Naturgedicht
einer Lyrikerin – gerade wegen seiner scheinbaren Harmlosigkeit!<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Das Misstrauen wird zur ständigen Begleiterin und legt sich
als partiell lächerliche Kollektivparanoia über die Gesellschaft – bis die
Revolutionsführer anfangen, sich gegenseitig zu misstrauen. Diese Erfahrung
macht letztlich auch Lenin, zumindest im Roman „Die Philosophenschule“, einem ganz
heißen Lesetipp, besonders für Zeitgenossen, die sich noch immer gerne süße,
kleine Lenin-Statuen aufs Bücherregal stellen und sie mit tränenfeuchter
Nostalgie anlächeln.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Erschienen in OÖN am 27.1.24<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Michael Köhlmeier: „Das Philosophenschiff“, Roman, Hanser,
220 Seiten, 24,70 Euro<o:p></o:p></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-55001812026493300402024-02-03T20:57:00.000+01:002024-02-03T20:57:20.357+01:00Kulturbrief 12: Alles für den Hugo?<p> </p><p class="MsoNormal"><i>Für seinen Krimi „Silentium!“ ließ sich Wolf Haas einen
schrägen Salzburger Kulturzirkel einfallen. Vereinsmotto: Alles für den Hugo! Die
doppeldeutige Anspielung bezieht sich natürlich auf Hugo von Hofmannsthal,
dessen Geburtstag sich am 1.Februar zum 150. Mal jährt.</i><o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Der erste „Edle von Hofmannsthal“ war Hugos jüdischer
Urgroßvater, der durch Seidenraupenzucht nicht nur ein reicher Mann, sondern
auch ein Aristokrat wurde. Der Sohn des ersten Edlen war mit dem lombardischen
Zweig des Familienunternehmens erfolgreich und konvertierte zur katholischen
Religion. Hugos Vater war Direktor der Wiener Central-Boden-Creditanstalt, die
Mutter Tochter eines Richters. Kurzum, Hugo Hofmannsthal hat einen nahezu idealtypischen
bildungsbürgerlich-aristokratischen Familienhintergrund.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Bildung wird bekanntlich vererbt. Der hochbegabte Knabe
besuchte in Wien das Akademische Gymnasium und veröffentlichte unter dem
Pseudonym Loris schon als Siebzehnjähriger erste Gedichte von erstaunlicher
Qualität. Nach der Matura verlief Hofmannsthals Bildungsweg nicht mehr ganz so
geradlinig. Jus studierte er nur bis zum ersten Staatsexamen, nach einem
Freiwilligenjahr in einem Dragonerregiment wechselte er zur Romanistik. 1898
promovierte er, die geplante Habilitationsschrift über Victor Hugo stellte er
aber nicht fertig.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Dafür hörte er Vorlesungen beim Physiker und Philosophen
Ernst Mach, dessen Erkenntnistheorie die Literatur und Kunst des
Impressionismus beeinflusste. Hugo von Hofmannsthals poetisches Frühwerk trägt wesentliche
Merkmale dieser Stilrichtung. In seinen formvollendeten Gedichten fand er
außergewöhnliche Sprachbilder für Gedanken, atmosphärische Eindrücke und
Stimmungslagen, zum Beispiel so: „Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
/ Und viel zu grauenvoll, als daß man klage: / Daß alles gleitet und
vorüberrinnt. / Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, / Herüberglitt
aus einem kleinen Kind / Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.“
(Terzinen über Vergänglichkeit)<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Worte zerfallen wie
modrige Pilze<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">In den lyrischen Kurzdramen der Neunzigerjahre („Der Tod des
Tizian“, „Der Tor und der Tod“) geht es hauptsächlich um die Kunst und das
Schöne, aber auch um Vergänglichkeit, Verfall und Tod, Motive, die Hofmannsthal
bis zum eigenen Tod (1929) begleiteten. Der künstlerische Rang der frühen Werke
öffnete Hofmannsthal schon bald den Zugang zu den Zirkeln der Wiener Moderne.
Freundschaftliche Beziehungen unterhielt er unter anderem zu Arthur Schnitzler
und Hermann Bahr. Der deutsche Lyriker Stefan George war – nicht nur aus
künstlerischen Gründen – vom jungen Genie fasziniert. Auf Dauer wurde Georges
eindringliches Werben für den Umworbenen, der seit 1901 verheiratet war, zur
aufdringlichen Qual. 1906 zerbrach die Freundschaft endgültig.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Rund um die Jahrhundertwende kam es bei Hugo von
Hofmannsthal zu einem folgenreichen Wandel der Weltsicht und der
Kunstauffassung. Dafür gibt es mehrere Gründe. Nicht zuletzt hatte er bei
militärischen Manövern in Ostgalizien das materielle und moralische Elend der
Bevölkerung kennengelernt. Der elitäre Ästhetizismus seiner Jugendjahre wurde
ihm in solcher Umgebung fremd. Wie man an den Erzählungen und Essays aus dieser
Zeit erkennen kann, weitete sich Hofmannsthals sozialer und philosophischer
Horizont.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Ein in der Literaturwissenschaft viel beachteter Text aus
dem Jahr 1902 trägt den Titel „Ein Brief“. Der fiktive Briefschreiber Lord
Chandos erklärt darin seinem väterlichen Mentor Francis Bacon, warum er seinen eigenen
literarischen Jugendwerken nicht mehr viel abgewinnen kann, ja mehr noch, warum
er an der Sprache grundsätzlich zweifelt. „Die abstrakten Worte zerfielen mir
im Munde wie modrige Pilze“, lautet ein oft zitierter Satz. Lord Chandos mag
zwar auch Sprachrohr des Autors sein, von einer generellen Schaffenskrise kann
man aber im Fall von Hofmannsthal nicht sprechen.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Schon bald begann nämlich die dauerhafte, fruchtbare
Zusammenarbeit mit Max Reinhardt und Richard Strauss. Hofmannsthal beschäftigte
sich intensiv mit Mythologie und Dramatik der griechischen Antike und
verknüpfte die klassische Tradition mit neueren Erkenntnissen der freudschen
Psychoanalyse. Eigene Versuche mit „großen“, also mehraktigen Dramen verliefen
zwar nicht besonders erfolgreich, umso eindrucksvoller bewährte sich Hugo von
Hofmannsthal als Librettist für Richard Strauss, mit dem er auch einen
intensiven Briefverkehr führte. „Text und Musik“, schrieb er, müssten
zueinander passen „wie Hand und Handschuh“. 1909 wurde „Elektra“ uraufgeführt,
1911 „Der Rosenkavalier“, 1912 „Ariadne auf Naxos“.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Fronterlebnis im
Kriegsfürsorgeamt<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">Zwei Jahre später brach der Erste Weltkrieg aus. Gegen die absurde
Kriegsbegeisterung der Massen war auch Hofmannsthal nicht immun. Dass er seine
„Kampfbereitschaft“ für Kaiser und Vaterland nicht als Offizier an der Front,
sondern als kulturpolitischer Mitarbeiter im Kriegsfürsorgeamt auslebte,
brachte ihm den berechtigten Spott des kriegskritischen Kollegen Karl Kraus
ein. Hofmannsthal war zwar nicht blind gegenüber den Problem- und
Schwachstellen der Habsburgermonarchie, grundsätzlich war er aber
gesellschaftspolitisch konservativ und blieb auch nach 1918 monarchistisch
gesinnt. Mit seinen kulturpolitischen Aufsätzen geriet er in die geistige Nähe
zu jener „Konservativen Revolution“, die sich Erneuerung nur als Rückgriff auf
alte Größe vorstellen konnte. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Das gilt auch für einige kontrovers aufgenommene Aufsätze,
die Hofmannsthal zur Gründung der Salzburger Festspiele (1920) beisteuerte. Es
gab auch Zweifel, ob die soeben unter heftigen Geburtswehen startende republikanische
Epoche ausgerechnet den kulturellen Rückgriff auf das geistliche Mysterienspiel
des Mittelalters brauchte. Aber aller Skepsis zum Trotz behauptet sich Hugo von
Hofmannsthals berühmtestes Stück, der „Jedermann“, bei den Salzburger
Festspielen seit mehr als 100 Jahren. Es hat viele Neuinterpretationen
überstanden, auch die allzu kühnen, und dass Rollen wie die Buhlschaft oder die
des Titelhelden bei der Bühnenprominenz immer noch heiß begehrt sind, haben wir
beim Besetzungsdrama des Vorjahrs erlebt.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Vergleichsweise erfolglos blieb Hugo von Hofmannsthal mit
seinem kulturphilosophischen Vermächtnis, dem oft umgearbeiteten Königsdrama
„Der Turm“ (letzte Fassung 1928). Dass er seinen konservativen Grant über Werteverfall
und Modernisierungsgeschwätz nicht nur im tragischen Ton, sondern auch mit
feiner ironischer Klinge präsentieren konnte, bewies Hofmannsthal mit dem Lustspiel
„Der Schwierige“ (1921). Die Hauptfigur Hans Karl Bühl, in gewisser Weise ein
Selbstporträt des Autors, hat nicht nur mit dem vermeintlichen „Fortschritt“
seine Probleme, sondern auch mit einer intellektuell leichtgewichtigen
Verwandtschaft. Und am Ende siegt die Liebe, was wir ihr herzlich gönnen!<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Ältere Theaterfreunde erinnern sich vielleicht noch an
wunderbare Inszenierungen des „Schwierigen“ mit Wiener Bühnengrößen wie Susanne
Almassy und Wolfgang Gasser. Nur dieser spezielle Wiener Sound und dieses
Gespür für atmosphärische Zwischentöne bringen das Potential dieses fein
gearbeiteten Dramas zu voller Entfaltung. Vielleicht ist es gut, dass „Der
Schwierige“ heute nur mehr selten gespielt wird. Vor dem selbstgefällig
„heutigen“ Zugriff sogenannter „postdramatischer“ Inszenierungskunst auf diese kulturhistorische
Kostbarkeit fürchten wir uns zurecht. Das wäre wahrscheinlich wirklich für den
Hugo!<o:p></o:p></p><p class="MsoNormal"><i>Erschienen in: OÖN 27.1.24</i></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-61256356035253001022024-01-23T13:44:00.004+01:002024-01-23T13:44:58.566+01:00Kulturbrief 11: Das Unbehagen im Rechtsstaat<p><i>Erschienen in: DIE FURCHE 2/2024, 10.1.24</i></p><p></p><p class="MsoNormal">Der liberale Rechtsstaat und die parlamentarische Demokratie
– Klügeres und Menschenfreundlicheres konnten Völker in ihrer jeweiligen
Geschichte bislang nicht hervorbringen. Dennoch ist dieses politische System
weltweit nicht mehrheitsfähig und viele Beispiele zeigen, dass es keine
Garantie für seinen dauerhaften Bestand gibt. Bedroht wird der demokratische
Rechtsstaat nicht nur von äußeren Feinden, sondern auch von internen Skeptikern
und Gegnern, die zwar gerne die Vorteile des „Systems“ nützen, nicht zuletzt
aber dazu, es lautstark zu diffamieren.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Die Systemkritiker findet man auf der rechten und auf der
linken Seite des politischen Spektrums. Viktor Orban hat in Ungarn anschaulich
demonstriert, wie man die Gewaltenteilung verwässert und die Medienfreiheit
aushöhlt. Auch in Österreich kündigte Manfred Haimbuchner (FPÖ) vollmundig an,
ein „Volkskanzler“ Kickl werde den Journalist/innen Benehmen beibringen. Wie,
bitte, dürfen wir uns Kickls Erziehungsanstalt vorstellen? Und was ist
eigentlich ein „Volkskanzler“?<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Bestellung, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen
eines Bundeskanzlers sind in unserer Verfassung klar geregelt. Der „Volkskanzler“
ist ein fragwürdiges Alternativmodell, das wir aus faschistischen Ideologien
kennen. Es stilisiert den Kanzler zum mythischen Träger eines kollektiven
Willens, den <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Ge</i>wählten zum <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Er</i>wählten, den Regierungschef zum
„Führer“. Aus ihm spricht die „Volksbewegung“, und wer dieser Stimme
widerspricht, bekommt schnell einmal das Schild „Volksfeind“ umgehängt. Wie
solch eine „illiberale Demokratie“ in der Praxis funktioniert, kann man an
Putins Russland eindrucksvoll studieren.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Auch die sozialistische Linke muss man von Zeit zu Zeit
daran erinnern, dass sich im Laufe ihrer facettenreichen Geschichte nur die
gemäßigte, sozialdemokratische Linie mit der parlamentarischen Demokratie
angefreundet hat. Für alle anderen Erben des Marxismus waren Parlamentarismus und
Mehrparteiensystem nur der staatsrechtliche „Überbau“ der kapitalistischen
Produktions- und Eigentumsverhältnisse, also die politische Form bürgerlicher
Klassenherrschaft. Bestenfalls taugte das Parlament als Agitationsraum und als strategische
Aufstiegshilfe zu Machtpositionen, von denen aus jene „Rätedemokratie“ erkämpft
werden sollte, die realpolitisch nie etwas anderes war als die totalitäre
Herrschaft der Partei.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Diese verheißungsvollen Alternativen zum kritisierten
„System“ mögen sich alle vor Augen führen, die heute unter ausgiebiger Nutzung
ihrer bürgerlichen Freiheiten lautstark als „Systemkritiker“ auftreten. Auf
Recht und Gesetz berufen sich diese kompromisslosen Selbstermächtiger aller
Farben und Ideen nur dann, wenn ihre eigenen Vorstellungen und Interessen
bedient werden. Ist das nicht der Fall, stellt sich das große Unbehagen ein.
Das geltende Recht und seine Institutionen werden zu bösen Orten des Unrechts
uminterpretiert, nicht selten im Kontext haarsträubender Verschwörungsideologien.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Der Typus des konsequenten Systemkritikers (meist männlich,
aber nicht nur) gefällt sich in der heroischen Pose des Widerstandskämpfers.
Das gilt für die Corona-Leugner, die trotz bedrohlicher Infektionszahlen in
U-Bahnen und Supermärkten als Rächer ohne Maske aufgetreten sind. Es gilt aber
auch für die Klimakämpfer, die sich auf gut frequentierten Straßen
einbetonieren, unter Berufung darauf, dass Rechtsfragen überflüssig werden,
wenn es darum geht, die Apokalypse zu verhindern.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Der religiös motivierte Widerstand neigt in pluralistischen
Demokratien besonders dann zum selbstgerechten Rechtsbruch, wenn er das
göttliche Gesetz über das säkulare stellt. Dann patrouillieren jugendliche
Tugendwächter durch die Straßen ihres Viertels und „bestrafen“ Mädchen und
Frauen, die sich nicht nach Allahs Modegeschmack kleiden. Man muss allerdings
auch christliche Glaubensgenossen bisweilen daran erinnern, dass Asylverfahren
in letzter Instanz von Gerichten entschieden werden, nicht von Pfarrgemeinden –
so gut ihre Absichten auch sein mögen.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Spontanes oder moralisch motiviertes <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Rechtsempfinden</i> ist eine Sache, reflektiertes <i style="mso-bidi-font-style: normal;">Rechtsbewusstsein</i> eine andere. Ich gehöre nicht zu den
Zeitgenossen, die bei jedem gesellschaftlichen Problem gleich die Verantwortung
der Schule einfordern. Wenn es um die Ausbildung eines tragfähigen
Rechtsbewusstseins geht, scheint mir aber die Schule tatsächlich ein wichtiger
früher Lernort zu sein, denn auch sie ist – glücklicherweise! – kein
rechtsfreier Raum. Das Schulunterrichtsgesetz, die
Leistungsbeurteilungsverordnung u.a.m. bestimmen den Rahmen, in dem Schule und
Unterricht gestaltet werden.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Darauf berufen sich Eltern gerne, wenn sie die Interessen
ihrer Kinder gewahrt wissen wollen. Aber wie oft habe ich in meinen sozialpsychologisch
ergiebigen Arbeitsjahren als Direktor auch den Vorwurf gehört, diese und jene
Lehrkraft unterrichte „stur nach dem Lehrplan“. Nun ja, wonach denn sonst?
Lehrpläne sind keine unverbindlichen Empfehlungen, sondern Gesetzestexte.
Umgekehrt hat mir einmal ein Lehrer, den ich auf seine bizarre Didaktik und
rechtsferne Notengebung hinwies, selbstbewusst entgegengedonnert: „Ich bin
Lehrer nach Gewissen, nicht nach Gesetz!“ Meinetwegen, allerdings nicht in
einer öffentlichen Schule, sondern nur als privatisierender Wanderpädagoge.<o:p></o:p></p><br /><p></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-8507757405548635162024-01-12T15:08:00.000+01:002024-01-12T15:08:44.819+01:00Kulturbrief 10: Meine OÖN-Rezension zu "Zeilen und Tage III" von Peter Sloterdijk<p><br /></p>
<p class="MsoNormal">Nein, die Philosophie ist nicht überflüssig geworden, weder
ersetzbar durch Biowissenschaften noch durch Soziologie und schon gar nicht
durch künstliche Intelligenz. Geben wir die Philosophie auf, dann verabschieden
wir uns vom Grundvertrauen in die Reflexionskraft unserer Vernunft, also vom
Kern des europäischen Menschenbilds. Wer für die Glaubwürdigkeit dieser These
einen Beleg braucht, dem sei der jüngst erschienene dritte Band von „Zeilen und
Tage“ empfohlen.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk schreibt seit
Jahrzehnten jeden Morgen persönliche Wahrnehmungen und Überlegungen nieder. Die
ersten beiden Bände umfassen die Jahre 2008 bis 2013, „Zeilen und Tage III“ die
Jahre 2013-2016. Privates und Alltägliches fehlt nicht völlig in Sloterdijks
Tagebüchern, es tritt aber zurück hinter den teils ausführlichen, teils knappen
Reflexionen zu Politik, Kultur und Gesellschaft. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Seine Themen entnimmt Peter Sloterdijk oft dem medialen Mainstream,
seine Denkarbeit folgt aber nicht bequemen, das heißt bekannten und im Juste
Milieu akzeptierten Wegen. Im Gegenteil, er setzt gerne dort an, wo
ideologische Schimären und moralische Dogmen den klaren Blick vernebeln. Deutlich
zeigt sich dieses Phänomen bei den Themen Migration und Wohlfahrtsstaat. Sloterdijk
gab sich schon im Jahr 2015 nicht mit der Wir-schaffen-das-Parole zufrieden,
sprach von der drohenden Überforderung der Mehrheitsgesellschaft und vom religiösen
Politikverständnis vieler Muslime, das mit dem säkularen Verfassungsstaat
unvereinbar ist.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Dass ihm von Gegnern „rechtes“ Denken unterstellt wurde,
hielt er aus, ebenso die Entrüstung, die er sich im Laufe der
Griechenland-Krise zuzog, als er nüchtern feststellte, dass auch Staatsschulden
richtige Schulden sind. „Ist der Schuldner ein Staat“, schreibt Sloterdijk,
„neigen manchen Apologeten zu der Behauptung, der Geldgeber sei an dem Mißstand
schuldiger als der Kreditnehmer. (…) Augstein junior meint geradezu, Frau
Merkel haben den Griechen Kredite ohne Ende aufgezwungen und am Ende die
Unverfrorenheit besessen, ihnen nur die Hälfte davon zu erlassen.“<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Die Lektüre von Peter Sloterdijks Texten ist nicht nur ein
intellektuelles, sondern auch ein sprachliches Vergnügen, insbesondere dann,
wenn er seine Sichtweisen zu pointierten Aphorismen verdichtet: „Was ist
konservativ? An erster Stelle die Bereitschaft, Revolutionsnebenkosten zu
berechnen.“ Gewiss denkt der 1947 geborene Philosoph auch ans eigene Alter,
wenn er schreibt: „Im Lebensabendland, wo die Schatten lang werden, folgst du
am besten der Devise: Bleib bei den bisherigen Übungen!“ Dass er seine „Übungen“
noch lange fortsetzen kann, wünschen ihm zu Jahresbeginn seine Leserinnen und
Leser.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Peter Sloterdijk: „Zeilen und Tage III. Notizen 2013-2016“,
Suhrkamp Verlag, 598 Seiten, 35 Euro<o:p></o:p></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-81989391635390793182023-12-11T15:33:00.001+01:002023-12-11T15:33:15.679+01:00Kulturbrief 9: Wenn die Kinder ausziehen - Meine OÖN-Rezension zum neuen Roman von Doris Knecht<p> Wozu Geschichten erfinden? Das Leben ist einfallsreich
genug. Doris Knecht erzählt in ihrem neuen Buch mit dem paradoxen Titel „Eine
vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ von den alltäglichen
Herausforderungen einer Wendezeit. Die Zwillinge Max und Mila haben gerade
maturiert und spielen ernsthaft mit dem Gedanken, aus der Wohnung auszuziehen,
in der sie mit ihrer alleinerziehenden Mama sei fast zwei Jahrzehnten gelebt
haben.</p><p class="MsoNormal"><o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Keine einfache Situation für die Mutter, aus deren
Perspektive die Autorin erzählt. Erstens stellt sich, wenn die Kinder
signalisieren, dass sie jetzt ihr Leben selbst in die Hand nehmen, ein
ambivalentes Gefühl ein: einerseits Befreiung und Erleichterung, andererseits
Wehmut und Abschiedsschmerz. Zweitens entsteht für die Erzählerin dadurch ein
pragmatisches Problem mit emotionaler Grundierung. Wenn Mila und Max ausziehen
und die Alimente ausbleiben, kann sie sich die Wohnung nicht mehr leisten, die
nicht nur bloße Behausung ist.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Mit einem Ort, an dem wir lange unser Leben verbracht haben,
verbinden wir Erinnerungen und Befindlichkeiten, er ist in gewisser Hinsicht Symbol
unserer Identität geworden. Daher verbindet sich die Suche nach einer neuen
Wohnung zwangsläufig mit der belastenden Frage nach der Neuausrichtung und
Qualität des künftigen Lebens. Leitmotivisch zieht sich dieser Motivkomplex
durch Doris Knechts Roman, der keinen stringenten Plot zur Grundlage hat,
sondern aus Episoden, Momentaufnahmen und Erinnerungsbildern besteht.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Die Erzählerin erinnert sich nicht nur an Phasen des
Heranwachsens ihrer Zwillinge und an ihre gescheiterte Liebesbeziehung mit
deren Vater, sondern auch an die eigene Herkunftsfamilie, in der sie neben vier
blonden Schwestern immer eine etwas sperrige Sonderrolle besetzte. Während
Eltern und Schwestern traditionelle Lebensformen – Ehe, Kinder, Eigenheim – gewählt
haben, folgte die Erzählerin den Verlockungen der Freiheit. Bekanntlich halten
sie nicht immer, was sie versprechen.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Die saloppe, humorvolle, mit umgangssprachlichen Floskeln
gespickte Erzählsprache soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autorin
immer wieder gewichtige Themen anspricht, die des ernsten Nachdenkens wert
sind: Wie zuverlässig ist das Bild, das ich mir von mir mache? Werden unsere
Kinder nur dann erwachsen, wenn wir aufhören, sie als Kinder zu behandeln? Wir
komme ich mit dem Alleinsein zurecht? Leide ich darunter oder halte ich es mit
Wilhelm Busch: Wer einsam ist, der hat es gut, weil keiner da, der ihm was tut?<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Wer einen literarischen Stimmungsaufheller sucht, ohne auf
seine mühsam erarbeiteten Desillusionierungen verzichten, wird mit „Eine
vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ seine Freude haben.</p>
<p class="MsoNormal">Doris Knecht: „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich
vergessen habe“, Roman, Hanser Berlin, 235 Seiten, 24,70 Euro<o:p></o:p></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-39613423474580104792023-11-19T13:53:00.001+01:002023-11-19T13:53:46.219+01:00Kulturbrief 8: Karl-Markus Gauß im OÖN-Gespräch mit Christian Schacherreiter<p> </p><p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;"><span style="font-size: 14.0pt; line-height: 107%;">Die Grundlagen unserer Zivilisation
ändern sich dramatisch<o:p></o:p></span></b></p>
<p class="MsoNormal"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal"><b>SCHACHERREITER Der alte Goethe
schrieb einmal den bemerkenswerten Satz: Man wird sich selbst historisch. Fängst
du damit etwas an oder kommt dieser Satz für dich zu früh?</b></p>
<p class="MsoNormal">GAUSS Der Satz kommt nicht zu früh. Erstens weil ich mein Leben im
Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen sehe, die historisch sind. Zweitens ist
vieles in meinem Leben schon vorbei, und ich stelle natürlich die Frage: Was habe
ich in all den Jahren gewollt? Woraus ist nichts geworden, woraus schon? Nicht
nur in privater Hinsicht, sondern auch politisch. Was habe ich falsch gesehen?
Wofür soll ich weiterhin einstehen? Und so weiter…<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Die linke Studentengeneration,
zu der wir damals gehörten, war unzufrieden mit der Gesellschaft und wollte
Veränderung. Ich würde sogar von Fortschrittspathos sprechen. Die Welt hat sich
auch verändert, aber nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben. Manche
scheint das sehr gekränkt zu haben, aber damit musste man wohl rechnen.<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">Haben wir überhaupt ein klares Konzept gehabt dafür, wie
sich die Welt verändern soll? Ich habe an der Universität diese jugendlichen Formen
heiterer Renitenz erlebt, die dann zu fast sektiererischem politischem Kaderdenken
mutiert sind. Ich bin – vielleicht durch Zufall, vielleicht auch durch
charakterliche Disposition – nicht in diese linken Fraktionierungen
hineingeraten. Am nächsten stand ich damals diesen abgehängten Kommunisten wie
Ernst Fischer. Heute sehe ich sie zwar auch kritischer als damals, aber
interessante Denker waren sie schon. Was ich bedaure, ist, dass ich damals viele
leere Lesekilometer hinter mich gebracht habe mit eher dummen, rein
ideologischen Büchern wie „Der Roman als bürgerliche Institution“.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Findest du es
überzogen, von einem epochalen Wandel rund um die Jahrtausendwende zu sprechen?
Ich habe oft das Gefühl, aus einer anderen Welt zu kommen. Wenn wir an unsere
Kindheit denken, da war der Fernsehapparat die kühnste mediale Revolution. Schlagwörter
für den großen Epochenbruch wären aber Digitalisierung, Globalisierung,
Klimawandel.<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">Schon im Gefolge von 1968 hat sich die Gesellschaft
gewandelt und in vielem auch zum Guten. Darauf beharre ich. Aber dieser Wandel
war – historisch gesehen – wesentlich geringer, als es jetzt der Fall ist, wo
sich tatsächlich die Grundlagen unserer Zivilisation dramatisch verändern.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Um mit Marx zu
sprechen: die Produktivkräfte werden revolutioniert – allerdings mit unmarxistischen
Folgen.<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">Man müsste aus demokratischer linker Perspektive fragen:
Welches emanzipatorische und humanistische Potenzial haben diese Veränderungen,
und wie könnte man sie politisch in diese Richtung<span style="mso-spacerun: yes;"> </span>steuern? Mit dieser Verheißung sind ja die
Leute im Silicon Valley einmal angetreten: Demokratisierung der Kommunikation. Aber
heute erleben wir, dass die dümmsten populistischen Bewegungen mit der
digitalisierten Kommunikation Hand in Hand gehen und dass die Gesellschaft in sich
selbst bestätigende Blasen zerfällt. Die Vorstellung, immer intelligentere
Botschaften würden das Netz durchdringen und langfristig zu einem qualitativen
Strukturwandel der Öffentlichkeit führen, ist heute fast lächerlich geworden.
Das beginnt bei Kindern, die keine zwei Minuten mehr konzentrationsfähig sind, geht
über Studierende der Germanistik, die keinen längeren Roman mehr durchalten,
bis hin zur Krise des kritischen Feuilletons. Wenn ich heute über ein aus
meiner Sicht interessantes Osteuropa-Thema schreiben will, sagt man mir: Na gehen
S‘, Herr Gauß, schreiben Sie doch lieber über dieses Buch einer queeren karibischen
Autorin, die mit dem Enkel eines Holocaust-Opfers in Tanger eine prekäre
Beziehung eingeht und sich in Rotterdam im Drogenmilieu verirrt. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Viele deiner
Reisebücher haben etwas mit dem osteuropäischen und südosteuropäischen Raum zu
tun. Wenn du heute einen nüchternen Blick auf diese Regionen wirfst, siehst du
dann auch eine bedrückende Fülle ungelöster historischer Probleme?<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">Absolut. Nicht selten verlaufen diese Krisen auf uralten
historischen Bruchlinien, die in der Gegenwart weitermachen und zu permanenter
Aufrüstung führen. Dieses Beharrungsvermögen der Geschichte steht in
Widerspruch zur Beobachtung, dass sich alles verändert und alles Alte
verschwindet. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Das blöde Alte
bleibt.<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">Leider. Ich hatte in den Achtzigerjahren gute Kontakte mit
beeindruckenden osteuropäischen Intellektuellen, die sich für den Westen
interessiert haben. Und ich darf sagen, dass ich ein bisschen daran beteiligt
war, dass wir uns auch verstärkt für Osteuropa interessiert haben. Das ist
vorbei. Osteuropa und Südosteuropa sind mit ihrem eigenen Diskurs beschäftigt
und der ist nicht mehr auf kritischen Austausch angelegt. Jean Amery hat einmal
gesagt, das Schlimme am Altwerden sei nicht, dass körperlich das eine oder
andere nicht mehr möglich ist, sondern das Bewusstsein, dass eine Welt um einen
wächst, zu der man keinen geistigen Zugang mehr findet.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Offen gesagt, so
befremdlich erlebe ich Teile der digitalen Medienwelt, zum Beispiel künstliche
Intelligenz. Wie geht es dir damit?<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">Natürlich benütze ich das Internet, radikale
Modernisierungsverweigerung wäre ja selbstschädigend. Aber ich muss mir nicht mehr
alles zumuten, nur weil es modern ist. Manches überfordert mich technisch,
manches verweigere ich trotzig. Es ist eine Gratwanderung.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Sprechen wir über
Literatur und blenden wir noch einmal in die Siebzigerjahre zurück. Damals
hatte Literatur „gesellschaftskritisch“ zu sein und nach Möglichkeit sprachlich
und formal avantgardistisch. Das traditionelle Erzählen, hieß es, sei an sein
Ende gekommen. Das ist aber nicht eingetreten.<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">Und da muss man sagen: Gott sei Dank ist es nicht
eingetreten. Ich respektiere die Arbeit experimentell arbeitender Künstler. Sie
haben es ohnedies nicht leicht, weil sich das kaum jemand anschauen oder
anhören will. Aber die These, erzählen sei in der Moderne grundsätzlich nicht
mehr möglich, war ein ähnlich dogmatischer Unsinn wie die Aussage, man könne
keine Menschen mehr malen. Das wurde als große Modernisierung ausgegeben. Heute
hängt in den Büros von Generaldirektoren und auch von konservativen Politikern meistens
ein Nitsch oder irgendein gestischer Expressionist…<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Und Thomas Bernhard
ist längst zum Liebling des konservativen Bildungsbürgertums avanciert.<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">Ich gehöre zur kleinen Gruppe derer, die Thomas Bernhard
nicht für den heiligen Thomas halten, sondern für einen Autor, der eine
manichäische, auch denunziatorische und elitär-antidemokratische Literatur
geschrieben hat, wenn auch auf sehr hohem Niveau.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Es gibt so viele kluge
Bücher von dir, Essays, Journale, Reiseliteratur. Hat es dich nie gereizt,
einen Roman oder Lyrik zu schreiben?<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">Lyrik nicht, aber ich glaube, dass ich in meinen Büchern,
auch wenn sie nicht als fiktionale Literatur gelten, stark vom Erzählen
Gebrauch mache. Es ist nicht alles, was ich geschrieben habe, zu hundert
Prozent verbürgt. Ich gehe zwar von Fakten aus, arbeite aber manchmal bewusst mit
Fiktionen, damit die Fakten besser erkennbar werden.<o:p></o:p></p><p class="MsoNormal"><i>(Eine etwas gekürzte Version dieses Gesprächs erschien am 13.10.23 in den Oberösterreichischen Nachrichten)</i></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-3043520257189925682023-10-01T11:55:00.001+02:002023-10-01T11:55:58.934+02:00Kulturbrief 7: Was dürfen wir hoffen? <p> </p><p></p><p class="MsoNormal"><i>Das 26. Philosophicum Lech bespielte unter dem Motto „Alles
wird gut“ das weite Feld zwischen Utopie und Apokalypse. Meine kleine Nachlese erschien am 30.9. in den OÖN</i></p>
<p class="MsoNormal">Am „Vorabend“, der traditionellen Auftaktveranstaltung zum
Philosophicum Lech, diskutierte der Philosoph Konrad Paul Liessmann mit dem
Autor Michael Köhlmeier den auf Hesiod zurückgehenden Mythos von der „Büchse
der Pandora“. Laut Hesiod war Zeus erzürnt darüber, dass der selbstherrliche
Titan Prometheus menschliche Wesen erschaffen hatte, und rächte sich mit einem
teuflischen Geschenk.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Der Göttervater schickte die bezaubernde Pandora mit einer
Büchse zu den Menschen, in die er sämtliche Übel gepackt hatte, von Krankheiten
und Leiden über Laster bis hin zur Sterblichkeit. Epimetheus, der dümmere
Bruder des Prometheus, fiel auf Pandora herein und ließ die Büchse öffnen. Erst
als alle Übel entwichen waren, schloss er sie wieder. Pandoras Büchse war aber
noch nicht leer. Ganz unten wäre noch die Hoffnung gelegen – und so wurde die
Erde für den Menschen nicht nur zu einem üblen, sondern auch zu einem
hoffnungslosen Ort.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Der von Liessmann gerne zitierte Philosoph Friedrich
Nietzsche bot allerdings eine alternative Interpretation des Missgeschicks an:
Die Hoffnung ist sehr wohl auch entwichen, erweist sich aber als das größte
aller Übel, weil sie den Menschen zu Illusionen über sein jämmerliches Dasein
verführt. Diese spannungsreiche Ambivalenz bestimmte nicht nur den Untertitel
des 26. Philosophicums Lech („Zur Dialektik der Hoffnung“), sie zog sich als
roter Faden durch die Vorträge der Referentinnen und Referenten, die nicht nur
aus dem Fachbereich Philosophie kamen und so die interdisziplinäre Weite des
Themas repräsentierten. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Immanuel Kant stellte die Frage „Was dürfen wir hoffen?“
noch im religiösen Kontext der Metaphysik, weil sie über den Tod hinausweist.
Dass sich die Frage nach göttlicher Transzendenz auch in unserer
säkularisierten Gesellschaft nicht völlig erledigt hat, zeigte sich in den
Referaten des Berliner Theologen Hartmut von Sass und des Grazer Philosophen
Peter Strasser. Von Sass unterscheidet zwischen der konkreten Hoffnung auf
etwas, zum Beispiel auf einen beruflichen Erfolg, und der Hoffnung als
Grundstimmung. Wer grundsätzlich „hoffnungsvoll lebt“, begegnet der Welt und
den Menschen anders als der Hoffnungslose. Hoffnung definiert von Sass als
„Sinn für die Möglichkeit des Guten“, verbunden mit einem Grundvertrauen in die
Gestaltungskraft des Menschen, gerade auch unter ungünstigen Bedingungen.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Säkulare Staats- und Sozialutopien sind ein starker Vertrauensbeweis
in diese menschliche Gestaltungskraft. In Ernst Blochs Hauptwerk „Das Prinzip
Hoffnung“, das die Kulturwissenschaftlerin Francesca Vidal ins Zentrum ihres
Referats stellte, sind Tagtraum und Hoffnung die elementare Kraft hinter
unseren utopischen Anstrengungen. Dass diese selbstbewusste Haltung zur Welt
auch auf verhängnisvollen Irrtümern beruhen und zu inhumaner politischer Praxis
führen kann, zeigt die Geschichte des radikalen Sozialismus. Der undogmatische
Marxist Ernst Bloch verließ die DDR 1961, kurz nach dem Mauerbau.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Große gesellschaftspolitische Hoffnungskonzepte haben –
ähnlich wie religiöse Heilsbotschaften – im mehr oder weniger aufgeklärten
Westen ihre Anziehungskraft verloren. Die Hoffnung, dass vielleicht nicht
alles, aber doch so manches gut werden könnte, stützt sich heute eher auf den
technologischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt. Die menschliche
Hoffnung auf Unsterblichkeit wird, wie die Biochemikerin Renée Schroeder
humorvoll ausführte, vom Jenseits ins Diesseits verlagert. Ob die Vorstellung,
durch biochemische Intervention das Leben des Menschen auf 500 Jahre zu
verlängern, tatsächlich wünschenswert ist, bleibt allerdings umstritten; ebenso
wie die von der Philosophin Catrin Misselhorn relativierte Hoffnung, eine zur
Superintelligenz weiterentwickelte Künstliche Intelligenz werde für uns alle
Probleme lösen, die wir selbst verursacht haben, zum Beispiel den Klimawandel.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Es war nicht überraschend, dass die Dialektik von Hoffnung
und apokalyptischer Furcht mehrmals am Öko-Thema diskutiert wurde, wobei sich
relativer Pessimismus (vertreten durch den Soziologen Harald Welzer) und
vorsichtiger Optimismus (vertreten durch den Ökonomen Fred Luks) in etwa die
Waage hielten. Einigkeit bestand darüber, dass die Zukunft grundsätzlich offen
und Hoffnung realistisch ist, solange Möglichkeiten des Handelns erkennbar
sind. Und manchmal kann es angebracht sein, das erkennbar Sinnvolle zu tun,
auch dann, wenn die Erfolgsaussichten mager sind.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Mit dieser Ermunterung ging das 26. Philosophicum Lech zu
Ende. Es war wie immer professional organisiert und bot mehr als 600
denkwilligen Menschen die Möglichkeit zur Teilhabe an einem anspruchsvollen,
aber auch heiteren philosophischen Diskurs. Für das 27. Philosophicum (17.-22.9.2024)
hat Konrad Paul Liessmann die bekannte Schweizer Philosophin Barbara Bleisch
als Co-Intendantin ins Leitungsteam geholt. Das Thema: „Sand im Getriebe. Eine
Philosophie der Störung“.<o:p></o:p></p><br /><p></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-91108264192339991762023-08-24T17:24:00.001+02:002023-08-24T17:24:48.470+02:00Kulturbrief 6: "Die Dauer der Liebe" von Sabine Gruber<p><i>Sabine Grubers neuer Roman "Die Dauer der Liebe" gehört zu den besten Neuerscheinungen, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Warum ich das meine, habe ich für die Oberösterreichischen Nachrichten (24.8.23) folgendermaßen ausgeführt:</i></p><p class="MsoNormal">Die Übersetzerin Renata Spaziani bekommt eines Morgens
Besuch von der Polizei. Der Beamte teilt ihr mit, dass der Künstler Konrad
Grasmann, seit 25 Jahren Renatas Lebensgefährte, auf einem Parkplatz tot
zusammengebrochen ist. Eine dauerhafte, tiefe Liebesbeziehung wird plötzlich
abgerissen; Schmerz und Trauer sind heftig. <o:p></o:p></p><p class="MsoNormal">Der Verlust des geliebten Mannes bleibt aber nicht die
einzige Zumutung, mit der Renata zurechtkommen muss. Ihre Partnerschaft mit
Konrad war rechtlich nicht abgesichert, und das Testament, das Konrad
hinterlassen hat, erweist sich als ungültig. Das wäre vielleicht halb so
schlimm, wäre da nicht Konrads Tiroler Familie. <o:p></o:p></p><p class="MsoNormal">Konrads Geschwister, vor allem der jüngere Bruder Marcel,
setzen sich über die Wünsche des Verstorbenen pietätlos hinweg. Die
schwierigste Angehörige ist Mutter Henriette, schon zu Lebzeiten des
Verstorbenen ein Musterbeispiel an mangelnder Empathie, Bösartigkeit und
bigotter Selbstgerechtigkeit.<o:p></o:p></p><p class="MsoNormal">Obwohl Konrad allem Kirchlichen fernstand, wird ein
katholisches Begräbnis inszeniert. Der in Kunstfragen inkompetente Marcel nimmt
nicht nur Konrads künstlerische Werke an sich, sondern bedient sich auch an
Einrichtungsgegenständen und Kleidungsstücken, um sie im Internet zu verscherbeln.
Renata ist nicht imstande, sich gegen die Familie zu wehren. Halt geben ihr
gute Freundschaften, vor allem die zu Bruno, einem Kriegsfotografen, den man
schon aus Sabine Grubers Roman „Daldossi
oder Das Leben des Augenblicks“ kennt.<o:p></o:p></p><p class="MsoNormal">Es ist nicht leicht, für dieses sensible Thema eine
angemessene Sprache zu finden. Nur eine Autorin mit dem stilistischen Können
einer Sabine Gruber ist solch einer Herausforderung gewachsen. Ihre Sprache ist
gefühlvoll, aber ohne Pathos, bisweilen ironisch, aber ohne jeden Zynismus. Zurückhaltend,
aber treffend geht sie mit Metaphern um.<o:p></o:p></p><p class="MsoNormal">So erzählt Gruber von den mehr oder weniger erfolgreichen
Versuchen Renatas, mit dem Verlust ihres Lebensmenschen zurechtzukommen, von
Erinnerungen an eine Liebe, die nicht nur Schönwettertage hervorbrachte, von
der Notwendigkeit, sich auf den neuen Lebensabschnitt zu besinnen und
vielleicht auch eine neue Liebesbeziehung zu erwägen. Gelungen sind auch die
Abschnitte, in denen Sabine Gruber von Konrad Grasmanns künstlerischer Arbeit
erzählt, in deren Mittelpunkt ein politisch heikles Thema stand: die
Architektur in der Pontinischen Ebene, die in den Dreißigerjahren unter
Mussolini trockengelegt wurde. <o:p></o:p></p><p class="MsoNormal">Gewidmet ist „Die Dauer der Liebe“ Wolfgang Fetz, dem
langjährigen Leiter des Bregenzer Kulturamts, geboren 1958, verstorben im Jahr
2022. Autobiographische Zusammenhänge dürfen vermutet werden, aber ein Roman
präsentiert Erlebtes und Erlittenes allemal in freier, fiktionaler Gestalt. Das
ist zu respektieren.</p><p>
</p><p class="MsoNormal"><b>Sabine Gruber: „Die Dauer der Liebe“, Roman, C.H. Beck, 250
Seiten, 24,80 Euro</b><o:p></o:p></p><p><br /></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-63813417505589255602023-07-05T12:10:00.000+02:002023-07-05T12:10:51.565+02:00Kulturbrief 5: Gudrun Seidenauer hat einen lesenswerten Roman geschrieben<p>Meine Rezension zu <i>Libellen im Winter</i> (Verlag Jung und Jung) ist am 1. Juli 23 in den OÖN erschienen:</p><p>Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist,
sagte Friedrich Torbergs berühmte Tante Jolesch. Mali hat „noch so ein Glück“,
denn sie hat wenigstens ihre Tante Ada in Wien, bei der sie Zuflucht findet.
Was die junge Frau hinter sich hat, ist aber das blanke Unglück. Zum ersten Mal
in ihrem Leben verliebt – und das gleich über beide Ohren, wird sie von ihrem
Freund Roland schwanger. Roland trennt sich von Mali, nicht aus roher
Rücksichtslosigkeit, sondern aufgrund verhängnisvoller Umstände, und sie
verlässt fluchtartig ihr tschechisches Heimatdorf. Wenige Tage später
marschiert die Rote Armee ein. Wir schreiben das Jahr 1945.</p><p class="MsoNormal"><o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">In Wien lernt Mali eine andere junge Frau kennen. Vera hat
in Notwehr einen amerikanischen Soldaten erschlagen, der sie vergewaltigen
wollte. Sie konnte unerkannt fliehen und findet nun Zuflucht bei Mali, die eine
zuverlässige Mitbewohnerin brauchen kann, die auf ihren kleinen Robert
aufpasst. Es gibt zwar noch eine zweite Mitwisserin, aber auf Gretes
solidarisches Schweigen ist Verlass.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Grete arbeitet als Dolmetscherin bei der US Army und träumt
davon, eines nicht allzu fernen Tages im glamourösen New York zu leben.
Einstweilen muss sie sich mit dem Wiener Vorgeschmack des american way of life
bemühen: Army-Bars und Tanzmusik, Orangen und Nylonstrümpfe. Solche
Vergünstigungen haben zwar ihren Preis, aber Grete achtet darauf, dass er nicht
zu hoch ausfällt, denn sie liebt eigentlich Frauen. Keine einfache
Gratwanderung!<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Gudrun Seidenauer erzählt in ihrem neuen Roman „Libellen im
Winter“ von einer ungewöhnlichen Frauenfreundschaft, die als Zweckgemeinschaft für
harte Zeiten beginnt, aber über Jahrzehnte Bestand hat. Aus wechselnden
Perspektiven beleuchtet sie nicht nur die Lebenswege der drei Frauen und
Roberts nicht ganz einfachen Weg ins Erwachsenenalter, sondern auch die
gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die vier individuellen Biographien
verankert sind.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Man macht sich heute keine Vorstellungen mehr von der
rechtlichen und sozialen Diskriminierung, denen lesbische Frauen wie Grete in
der Nachkriegszeit noch ausgesetzt waren. In den Sechzigern kündigen sich
Modernisierung und Liberalisierung zumindest zaghaft an. Auch die ökonomische
Lage verbessert sich und im Jahrzehnt des Wirtschaftswunders machen die drei
Freundinnen schon Urlaub in Italien.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Im letzten Romankapitel lebt die neunzigjährige Mali im
Altersheim. Ihre Pflegerin heißt Manal, eine Frau, der nach furchtbaren
Erlebnissen die Flucht aus Syrien geglückt ist. Auch sie hat „noch Glück
gehabt“ im Sinne der Tante Jolesch. Und damit schließt sich der weite epische
Bogen eines inhaltlich bewegenden und kompositorisch überzeugenden Romans.</p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-3399647032964360342023-06-26T09:51:00.001+02:002023-06-26T09:51:52.814+02:00Kulturbrief 4: Schöne Erinnerung an Franz Rieger im StifterHaus Linz<p> </p><p class="MsoNormal">Der Name Franz Rieger ist selbst in der literarischen Community von
Oberösterreich nur mehr uns Älteren ein Begriff. Sein Werk droht in
Vergessenheit zu geraten. Ein bedauerlicher Irrtum, denn der 2005 verstorbene
Franz Rieger gehört zu den besten Erzählern des Landes. Er war schon fünfzig,
als 1973 sein erster Roman „Paß“ erschien; geschrieben hat Franz Rieger
allerdings schon seit seiner Jugend. Schreiben war seine eigentliche Daseinsform,
auch wenn seine in eigenwilliger Mikroschrift beschriebenen Manuskripte jahrelang von
Verlagen zurückgewiesen wurden.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Rieger kämpfte nicht um den äußeren Erfolg, er suchte nicht
einmal das sogenannte Licht der Öffentlichkeit. Er schrieb unentwegt, weil er
schreiben musste. Seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie sicherte er
seit 1955 als Bibliothekar bei den Büchereien der Stadt Linz. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Nachdem im Jahr 1973 der Roman „Paß“ erschienen war, stieg – zumindest
vorübergehend – die Wahrnehmungskurve steil an. In rascher zeitlicher Folge wurden
nun weitere Romane gedruckt. Riegers bis heute meistgelesenes Buch ist –
vorrangig wegen dessen gesellschaftskritischer Thematik – der Roman
„Schattenschweigen oder Hartheim“ (1985). Die Rieger-Ausstellung im StifterHaus
zeigt allerdings, dass es bedauerlich wäre, würde man den Autor auf sein
erfolgreichstes Werk reduzieren. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Das Ausstellungskuratorium, bestehend aus Gerhard
Zeillinger, Georg Hofer und Petra-Maria Dallinger, rückt neun Bücher von Franz
Rieger ins Zentrum (Ausstellungsgestaltung: Gerold Tagwerker), denen fünf bestimmende
Motive und Themen der literarischen Rieger-Welt zu entnehmen sind: das Dorf,
das Schweigen, beobachten und beobachtet werden, bedrohte Psyche, Gewalt.
Inhalt und Sprache weisen Franz Rieger als abseitigen, eigenwilligen
Repräsentanten der literarischen Moderne aus, dessen Werk prominente
Assoziationen anstößt: die Verlorenheit von Franz Kafkas Protagonisten, die
abgründige Ereignisarmut in der Prosa von Adalbert Stifter, die
gesellschaftskritische Haltung von Thomas Bernhard.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><i>„Der monomanische Schreiber: Franz Rieger (1923-2005)“;
StifterHaus Linz, Ausstellungsdauer: 21.6.23 – 23.5.24, Dienstag-Sonntag 10-15
Uhr</i><o:p></o:p></p><p class="MsoNormal">(Dieser Beitrag beruht auf meinem Bericht für die OÖN vom 24.6.23)</p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-37604570263887628952023-06-06T09:07:00.000+02:002023-06-06T09:07:41.471+02:00Kulturbrief 3: Kritik der "Textsorten"-Didaktik<p><i>Mit meiner Kritik an der Schreibdidaktik, die sich als Folge der standardisierten Reifeprüfung flächendeckend über die Sekundarstufe II legt, bin ich nicht allein. DIE FURCHE hat mir die Möglichkeit gegeben, in der Kolumne DIESSEITS VON GUT UND BÖSE (4.5.23) meine Meinung darzulegen. </i></p><p><b><span style="font-size: medium;">Sixtus Beckmessers
Deutsch-Matura</span></b></p>
<p class="MsoNormal"></p><p class="MsoNormal">Sowohl in der Wiener Staatsoper als auch im Linzer
Musiktheater steht derzeit Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von
Nürnberg“ auf dem Programm. Ein Aufführungsbesuch ist nicht nur Opernfreund(inn)en
zu empfehlen, sondern auch dem Freundeskreis „kompetenzorientierter Didaktik“.
Am erhellenden Beispiel des Meistersingers Sixtus Beckmesser können sie sehen
und hören, wie es um die Kunst stünde, würden Pedanten wie Beckmesser die Richtung
vorgeben.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Wagners Oper ist eine treffende Satire auf jene unangenehme
Sektion der Kunstkritik, die sich im Besitz eines verbindlichen Regelsystems
für die „Herstellung“ von Musik und Literatur wähnt. Ein wirklich gutes Lied
hat zwar auch „handwerkliche“ Implikationen, es ist aber mehr als ein
Werkstück. Harmonielehre, Metrik, Metaphorik – das alles kann man lernen; dichten
und komponieren nur zum Teil. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Schön und gut, wird man nun einwenden, aber was hat das mit „kompetenzorientierter
Didaktik“ im Allgemeinen und mit der standardisierten Reifeprüfung aus Deutsch im
Speziellen zu tun? Leider ziemlich viel – zumindest dann, wenn man auch einen
Schüleraufsatz als sprachlich-kreative Hervorbringung achtet. Allein die
Richtlinien, nach denen die Aufgaben für die Reifeprüfung erstellt werden
müssen, sind Beckmesserei, ein pedantischer Regelkanon, der die Sache
einerseits unnötig verkompliziert, andererseits ein Korsett schnürt, das
Schreibprozesse so sehr reglementiert, dass intellektuelle Dürftigkeit und
formale Uniformität die Folge sind. <o:p></o:p></p><p class="MsoNormal"><b>Verkrampfte Formulierungen</b></p>
<p class="MsoNormal">So sieht sie nämlich aus, die Bastelanleitung, nach der die
Schreibaufgaben für die Reifeprüfung aus Deutsch (und daher auch für
Schularbeiten in der Sekundarstufe II) zusammengeleimt werden müssen: Erstens
wähle man aus einem Kanon von sieben Textsorten eine aus. Damit bewegen wir uns
noch im akzeptablen Bereich. Die Meinungsrede, der Kommentar, die
Textinterpretation etc. sind geeignete Textsorten. Zweitens suche man einen Text,
der sich als Ausgangsmaterial für die Schreibaufgabe eignet. Auch das ist sinnvoll.
<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Bis hierher wäre also die Sache auf einem guten Weg, aber plötzlich
trampelt Sixtus Beckmesser auf die Bühne des Schullebens und sagt: Drittens
formuliere man exakt drei Einzelanweisungen für den Schreibprozess und bediene
sich dabei eines Kanons von Operatoren (das sind Verben, die
Handlungsanweisungen geben, z.B. fasse zusammen, erläutere, stelle dar). Die
kanonisierten Operatoren sind drei Kategorien zugeordnet (Reproduktion,
Reorganisation und Reflexion). Alle drei Kategorien müssen in der
Aufgabenstellung berücksichtigt werden und jede der drei Teilanweisungen darf
nur einen Operator enthalten. Verboten ist es, schlichte Fragen zum Text zu
stellen, auch wenn das praktisch und zielführend wäre. – Alles klar? Die Folgen
solch einer Bastelanleitung sind verkrampfte Formulierungen und inhaltliche
Reduktionen in der Aufgabenstellung. Die geistige Eigenleistung der
Schreibenden wird ebenso beschnitten wie ihr gestalterischer Freiraum. Das
Ergebnis sind biedere, einander ähnliche Texte. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight: normal;">Wiedergeburt der
Regelpoetik<o:p></o:p></b></p>
<p class="MsoNormal">Damit aber immer noch nicht genug der Vorgaben! Die
Schreibaufgabe soll auch in eine lebensnahe Schreibsituation eingebettet
werden. Das mag bei Meinungsrede oder Kommentar bisweilen passend sein. Als generelle
Verpflichtung taugt es aber nicht. Es soll Maturant*innen erlaubt sein, über
die Angelegenheiten dieser Welt schreibend nachzudenken, ohne sich einem
kommunikativen Verwertungszusammenhang zu unterwerfen.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Und wenn wir schon von „Lebensnähe“ reden! Niemand geht im
wirklichen Schreibleben so vor, wie die Kandidat(inn)en bei einer schriftlichen
Reifeprüfung vorgehen <i style="mso-bidi-font-style: normal;">müssen</i>. Weder
Journalistin noch Essayistin noch politischer Redenschreiber formulieren, bevor
sie ans Werk gehen, unter Verwendung eines Operatorenkanons für sich selbst drei
Schreibaufgaben, die sie dann Schritt für Schritt folgsam abarbeiten.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Diese einerseits aufgeblasene, andererseits kümmerliche Schreibdidaktik
ist die Wiedergeburt der Regelpoetik in zeitgeistigem Kleid. Dahinter steht jenes
philisterhafte Verständnis von Schreiben, gegen das schon Lessing und der junge
Goethe polemisiert haben. Auch Kleists Essay „<span style="mso-bidi-font-weight: bold;">Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden</span>“ ist in
diesem Zusammenhang ein heißer Lektüretipp. <o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Das didaktische Beckmessertum, das sich in der standardisierten
Deutsch-Matura selbstverwirklicht, zeigt seine Wirkungen auch im
Beurteilungsraster für die Korrektur. Jede Maturaarbeit muss nach ungefähr 30
(in Worten: dreißig!) Einzelkriterien beurteilt werden. Meint man wirklich,
dass man durch diese Erbsenzählerei zu einem optimalen, „gerechten“ Urteil über
Texte kommt?<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Eine sachdienliche und schülerorientierte Schreibdidaktik soll
zwar solide „handwerkliche“ Fertigkeiten vermitteln, nicht zuletzt logisches
Argumentieren und normgerechte Grammatik, sie soll aber auch individuelle
Freiräume ermöglichen, für Gedankenreichtum und gestalterische Originalität.
Gerade in der originellen Abweichung von der Regel kann die besondere Qualität
eines Texts bestehen. Für solche Texte wird man auch in Zukunft menschliche
Verfasser(inn)en brauchen, standardisierte Werkstücke hingegen können wir
neidlos der künstlichen Intelligenz überlassen.<o:p></o:p></p><br /><p></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-23093397370436942482023-05-21T17:37:00.000+02:002023-05-21T17:37:26.466+02:00Kulturbrief 2: Klemens Renoldner liest am Dienstag im StifterHaus Linz<p> </p><p class="MsoNormal">Aus meiner Rezension in den OÖN (Freitag, 19.5.23)</p><p class="MsoNormal">Klemens Renoldner erzählt in seinem
lesenswerten Buch „Geschichte zweier Angeklagter“ vom Leben seines Großvaters
Alois (1884-1966), der Gendarmerie-Major in der Sicherheitsdirektion Linz war.
Am 13. März 1938, unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, wurde
Alois Renoldner verhaftet. Veranlasst hatte die Verhaftung Oberst Simmer,
Renoldners Vorgesetzter, ein fanatischer Nationalsozialist und rücksichtsloser
Karrierist.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Erst nach fünf Monaten „Schutzhaft“ und sechs Monaten KZ-Haft
in Dachau kam Alois Renoldner wieder frei. Ewald Simmer wurde nach dem Ende des
Dritten Reichs wegen seiner Verbrechen in der NS-Zeit angeklagt. Indem Klemens
Renoldner dem Schicksal seines Großvaters den Prozess gegen Simmer gegenüberstellt,
gelingt ihm ein aufschlussreicher Text über Recht und Unrecht, aus juristischer,
moralischer und politischer Sicht.<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Der Anfang der halbdokumentarischen „Geschichte zweier
Angeklagter“ erinnert ein wenig an Franz Kafkas Roman „Der Proceß“. Ähnlich wie
Josef K. muss auch Major Renoldner von jemandem verleumdet worden sein, denn er
wird eines Tages verhaftet, ohne etwas Böses getan zu haben. Während aber bei
Kafka der Verursacher anonym bleibt, ist hier die Sache ziemlich klar: Simmer
heißt die Kanaille!<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Im ersten Teil seines Buchs bedient sich Klemens Renoldner
eines halbfiktionalen Erzählverfahrens, mit dem er die bedrückenden
Hafterlebnisse des Großvaters in den Jahren 1938/39 eindrucksvoll
veranschaulicht. Die anfängliche Hoffnung, man könne auch mit Gestapo-Männern
auf der Grundlage von Rechtsnormen vernünftig reden, zerbricht bald.
[...]<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Im zweiten Teil des Buchs nimmt Klemens Renoldner das
fiktionale Erzählverfahren zugunsten des dokumentarischen etwas zurück. Die
Dokumente des Prozessverlaufs gegen Ewald Simmer bieten Anschaulichkeit und „Spannung“
genug. Simmer versucht vergeblich, sich selbst als missverstandenen NS-Gegner
und eigentliches Opfer darzustellen. Im ersten Gerichtsverfahren wird er aufgrund
der erdrückenden Beweislage zu vier Jahren schwerer Kerkerhaft verurteilt. Aber
ein raffiniert agierender Anwalt bewirkt die Wiederaufnahme des Verfahrens, das
letztlich zu einem Freispruch führt.</p>
<p class="MsoNormal">Klemens Renoldner: „Geschichte zweier Angeklagter“,
Sonderzahl, 120 Seiten, 21 Euro<o:p></o:p></p>
<p class="MsoNormal">Veranstaltungshinweis: Buchpräsentation mit Klemens
Renoldner, StifterHaus Linz, Dienstag, 23.5., 19.30, Moderation: Alexandra
Millner<o:p></o:p></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1872185016609386656.post-78304247004387709372023-05-18T08:05:00.009+02:002023-05-21T17:38:13.905+02:00Kulturbrief 1: "Professor Bernhardi" im Linzer Landestheater - So mag ich Klassiker-Inszenierungen <p> </p><p class="MsoNormal" style="margin-left: 70.8pt;">Gestern habe ich im Linzer
Schauspielhaus Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi“ gesehen. 3 Stunden und
15 Minuten intensive Schauspielkunst bestärken mich wieder einmal in meinem Verständnis
von Klassiker-Pflege auf der Bühne. 1. Ein Bühnentext, der die Bezeichnung „klassisch“
verdient, ist grundsätzlich nicht „verstaubt“. Wäre er das, wäre er nämlich
kein Klassiker. 2. Genaues Textverständnis (im streng philologischen Sinn) ist
die Voraussetzung jeder überzeugenden Regiearbeit. Bevor ein Regisseur (egal,
welchen Geschlechts) seine subjektiven Intentionen einbringt, soll er/sie
wissen, was die Intention des Autors/der Autorin war 3. Ein wahrlich nicht einfacher,
aber gehaltvoller Text wie „Professor Bernhardi“ braucht weder eine „Überschreibung“
noch andere Brachialmethoden der „Aktualisierung“, denn 4. Das Theaterpublikum
ist nicht blöd. Sonderpädagogischen Nachhilfeunterrichts durch die Regie bedarf
es nicht. Wer nicht ganz naiv ist, erkennt, dass die politische Dynamik, die Bernhardi
vor Gericht bringt, im Konkreten zwar historisch ist, aber strukturelle Entsprechungen
im Hier und Jetzt aufweist. 5. Die heilige Dreifaltigkeit meines Glaubens an,
meiner Hoffnung auf, meiner Liebe zu Klassiker-Inszenierungen: gute
Schauspieler, gute Schauspieler, gute Schauspieler – egal, welchen Geschlechts
(es soll halt zu den Figuren im Stück passen). Glücklicherweise gibt es die am
Linzer Landestheater. Bravo und Gratulation!<o:p></o:p></p>Christian Schacherreiterhttp://www.blogger.com/profile/13517267280044729368noreply@blogger.com0