Thomas Bernhard: Der Theatermacher (Interpretation)

Wie alle Stücke von Thomas Bernhard weist auch „Der Theatermacher“ (Premiere 1985, Salzburger Festspiele) ein äußerst karges Handlungsgerüst auf. Die klassischen drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung sind eingehalten. Ort der Handlung ist der Veranstaltungssaal im Gasthaus „Schwarzer Hirsch“ in Utzbach. Am Nachmittag trifft der Schauspieler, Bühnenautor und Regisseur Bruscon mit seiner Familie in Utzbach ein und besichtigt – begleitet vom Wirt – den Saal, in dem an diesem Abend seine Komödie „Das Rad der Geschichte“ aufgeführt werden soll. Die räumlichen Verhältnisse verweisen bereits auf die ernüchternde Lebens- und Arbeitssituation, in der sich Bruscon befindet. Er, der ehemalige „Staatsschauspieler“, der nach eigener Aussage in Berlin den Faust und in Zürich den Mephisto gespielt hat, realisiert sein Lebenswerk „Das Rad der Geschichte“ in Provinzgasthäusern. Zum Lichtblick im trüben Dasein wird der „riesige Erfolg“ in Gaspoltshofen – „grandiose / ideale Verhältnisse“. Ohne Rücksichtnahme auf den immerhin hier ansässigen Wirt formuliert Bruscon seine Abneigung gegen Utzbach („Dieser Ort ist eine Strafe“) und gegen den heruntergekommenen Saal: „Diese bauwerkliche Hilflosigkeit / diese Wändescheußlichkeit / diese Deckenfürchterlichkeit / diese Türen- und Fensterwiderwärtigkeit.“ (Bernhard: Stücke 4, S.35)

   In den vier Szenen, in die Bernhard das Stück gegliedert hat, ändert sich die Situation nicht wesentlich. Bruscon trifft die Vorbereitungen für die Aufführung, gibt seiner Frau Agathe und seinen Kindern Sarah und Ferruccio Anweisungen, lässt für alle eine Frittatensuppe bringen, ist überrascht, dass doch an die hundert Menschen abends zur Aufführung kommen, muss aber miterleben, dass knapp vor der Vorstellung wegen eines einschlagenden Blitzes der benachbarte Utzbacher Pfarrhof in Flammen aufgeht und alle Zuschauer weglaufen, um den Brand zu sehen.

   Die Handlung ist also rasch erzählt. Das Wesentliche ist nicht das Geschehen, sondern der Text, den Bruscon spricht. Wie in vielen Stücken Bernhards dominiert auch im „Theatermacher“ eine monologisierende Männerfigur das Geschehen. Bruscons Text wird von einigen Motiven dominiert, die in Bernhards Werk generell dominant sind: Kunst und Künstlertum, Krankheit, die Absurdität der menschlichen Existenz und eine damit verbundene Misanthropie. Weiters wird auch ein problematisches Familiensystem erkennbar, in dem der Vater seine Frau und seine beiden Kinder auf sein Lebensziel verpflichtet.

   Bruscon hat den weitaus größten Redeanteil. Schon dieser quantitative Aspekt verweist auf die dominante, beherrschende Rolle, die er im Familiensystem einnimmt. Bruscons Frau Agathe ist nur selten auf der Bühne. Meist bleibt sie wegen Kopfschmerzen auf ihrem Zimmer. Wenn sie da ist, schweigt sie. Den Kindern gegenüber äußert sich Bruscon herablassend und abwertend über seine Frau. Er liebe sie - allerdings trotz ihrer zahlreichen Schwächen. Agathe sei eine typische Proletarierin, Tochter eines Maurerpoliers. Dafür könne sie nichts, aber die Herkunft sei ihr ständig anzumerken, in ihrer Spielweise, auch in ihrer Lebensführung. Proletarischen Größenwahnsinn sagt er Agathe nach. Die Proletarier neigten immer zur Verschwendung. Die Herabsetzung der eigenen Frau verbindet Bruscon nicht nur mit der generellen Verdächtigung aller „Proletarier“, sondern auch mit der generellen Abwertung der Frau. Die weiblichen Schauspieler – so Bruscon – würden das Theater zu Grunde richten (S.28), und eine Frau in der Philosophie, das sei ohnedies eine Unmöglichkeit (S:83).

   Ähnlich schlecht wie seine Frau beurteilt Bruscon stellenweise auch seine Tochter Sarah und seinen Sohn Ferruccio, dessen Vorname auf Bruscons Verehrung für den Komponisten Ferruccio Busoni zurückzuführen ist. Der Sohn erweise sich aber dieses großen Genies als unwürdig. Er sei im Grunde ein „Bürgerlicher“, der nicht den geringsten Kunstverstand habe. Einen „debilen“ Sohn habe er, sagt Bruscon an anderer Stelle, und eine im Grunde „dumme Tochter“. Allerdings gibt es auch wieder andere Aussagen, sodass teilweise ziemlich widersprüchliche Bilder entstehen.

Kunst und Künstlertum

Bruscon ist ein Besessener. Er sagt selbst, dass sein künstlerisches Schaffen für ihn der einzige Lebenssinn ist. „Es interessiert uns nichts als unsere Kunst / nichts mehr(...)“. Der Stoff, der seinem Stück „Das Rad der Geschichte“ zugrunde liegt, beschäftigt ihn schon seit dem 14. Lebensjahr. Es handelt sich um das ehrgeizige Unternehmen, eine Komödie zu schreiben, „in der alle Komödien enthalten sind / die jemals geschrieben worden sind / Eine absurde Idee zweifellos / Für Bruscon durchaus zu verwirklichen allerdings.“ Bruscon lässt in seinem Stück wesentliche Gestalten der europäischen Geschichte auftreten, u.a. Cäsar, Napoleon, Metternich, Hitler, Stalin und Churchill. Er versteht sein Werk als „Geschichtsstandpauke“und vergleicht sich mit Shakespeare und Voltaire (S.23). Immer wieder werden an Bruscon Züge von Größenwahnsinn erkennbar. Seine Kinder müssen ihm täglich sagen, dass er „der größte Schauspieler aller Zeiten“ sei. Für seine Erfolglosigkeit macht er die Dummheit des Publikums oder die künstlerischen Schwächen seiner Familienmitglieder verantwortlich. Nur selten zweifelt er an sich selbst: „Vielleicht ist sie gar nicht so gut / meine Komödie (...)“ (S.102)

   Seinen Kampf um das vollkommene Kunstwerk führt Bruscon nicht nur gegen den ungeeigneten Saal und die vermeintliche Talentlosigkeit seiner Familienmitglieder, sondern auch gegen den Utzbacher Feuerwehrhauptmann Attwenger. Bruscon besteht darauf, dass am Schluss des Stücks für fünf Minuten die Notbeleuchtung ausgeschaltet wird, weil nur so die Wirkung gewährleistet sei. Bernhard spielt mit dieser Episode auf einen Vorfall an, der sich 1972 bei der Uraufführung seines Stücks „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ in Salzburg zugetragen hat. Bernhard verlangte damals völlige Finsternis am Ende der Aufführung, was aus feuerpolizeilichen Gründen untersagt wurde.

   Zu den Absurditäten, an denen Bernhards Stück nicht eben arm ist, gehört auch, dass Bruscon immer wieder darauf hinweist, dass seine Anstrengungen vergeblich sind. „Wir gehen auf eine Tournee und gehen doch nur in eine Falle / sozusagen in eine Theaterfalle.“(S.16) Und an anderer Stelle:

Wenn wir ehrlich sind
ist das Theater an sich eine Absurdität
aber wenn wir ehrlich sind
können wir kein Theater machen
weder können wir wenn wir ehrlich sind
ein Theaterstück schreiben
noch ein Theaterstück spielen
wenn wir ehrlich sind
können wir überhaupt nichts mehr tun
außer uns umbringen.

Da aber Theater geschrieben und gespielt wird, ist die Verlogenheit die Grundhaltung der Bühne: „(...) das Theater ist eine jahrtausendealte Perversität / in die die Menschheit vernarrt ist / (...) weil sie in ihre Verlogenheit so tief vernarrt ist.“ (S.31)

Bekanntlich ist „Der Theatermacher“ nicht das einzige Stück, in dem Thomas Bernhard die Kunst zum Hauptthema macht. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch „Über allen Gipfeln ist Ruh“, „Minetti“, „Der Ignorant und der Wahnsinnige“, „Der Schein trügt“ und vor allem „Die Macht der Gewohnheit“, ein Stück, dessen Parallelen zum „Theatermacher“ unübersehbar sind. Die männliche Hauptfigur in „Die Macht der Gewohnheit“ ist der Zirkusdirektor Caribaldi. Seit 22 Jahren verpflichtet Caribaldi seine Enkelin, den Jongleur, den Spaßmacher und den Dompteur täglich dazu, mit ihm das Forellenquintett von Schubert zu proben, um eines Tages eine vollkommene Interpretation zustande zu bringen. Die tägliche Probe ist zum sinnlosen Ritual geworden, unter der die Teilnehmer nur mehr leiden. Von einer gültigen Aufführung ist die Gruppe so weit weg wie eh und je. Aber Caribaldi hält stur an seinem irrealen Ziel fest. Mit der Phrase „Morgen Augsburg“ oder „Morgen in Augsburg“ verweist Caribaldi mehrmals auf die Fortsetzung seines aussichtslosen Unterfangens und auf die Prolongierung einer unerfüllbaren Hoffnung auf vollkommene Kunst. Die Figur ist in ihrem aussichtslosen Unterfangen einerseits tragisch und bemitleidenswert, andererseits aber auch lächerlich und nicht zuletzt ein schwer erträglicher Despot, der Menschen, die von ihm abhängig sind, egozentrisch auf sein Ziel verpflichtet.

Krankheit, Verletzung, Behinderung

Das Thema „Krankheit“ gehört zu Bernhards dauerhaften Motiven. Auch im „Theatermacher“ ist es präsent. Bruscons Frau hat es „auf der Lunge“. Obendrein leidet sie ständig an Kopfschmerzen. Bruscon verdächtigt sie allerdings der Hypochondrie. Ihre ganze Kunst wende sie dafür auf, Kranlkheit vorzutäuschen. Er selbst – so Bruscon– habe „eine Nierengeschichte“. An anderer Stelle bezeichnet er sich als einzigen „Schmerzensmenschen“. Ferruccio zieht sich immer wieder Verletzungen zu. Bei der Vorstellung in Gaspoltshofen stampfte er so emphatisch auf, dass er sich das Bein verletzte. In Zwicklett stürzte er vom ersten Stockwerk in die Tiefe, als er auf die Toilette gehen wollte. Dabei brach er sich den rechten Arm, sodass er nun die Vorstellung in Utzbach mit Gipsarm bestreiten muss. Dies sei freilich sogar ein Gewinn, behauptet Bruscon, denn alle Großherrscher, die Ferruccio darzustellen habe (Nero, Cäsar, Churchill etc.) hätten einen verkrüppelten rechten Arm gehabt. Nicht nur die Familie Bruscon ist von Krankheit betroffen. Die Tochter des Utzbacher Wirtsehepaars leidet am Grünen Star.

Die Schimpfrede

Die für Thomas Bernhards literarische Figuren typischen Schimpfreden sind auch für den Staatsschauspieler Bruscon charakteristisch. Dass er über die Aufführungsumstände im „Schwarzen Hirschen“ schimpft, mag noch nachvollziehbar sein. Abschnittweise verfällt er aber in die üblichen, nur mehr schwer nachvollziehbaren Verallgemeinerungen. Beispielhaft dafür ist die bereits oben angesprochene Schimpfrede über das Theater. Insbesondere in den Schimpfreden sind die für Bernhard kennzeichnenden stilistischen Merkmale nachweisbar:

Verallgemeinerungen: In dem von Bruscon gesprochenen Text kommen immer wieder die Wörter „alle“, „überall“, „niemand“, „kein“, nie“ „jeder“ vor, z.B. „Die Kinder haben alle rachitische Stimmen“ (S.34), „Ein gastronomischer Pächter / ist ein Unglück / in jedem Fall“, „Überall dieser Schweinegestank“ (S.17), „Heute wird in den Komödien geplärrt / Wohin wir gehen / überall hören wir nur Geplärr“ (S.62), „es sind ja auch immer die weiblichen Darsteller / die das Theater umbringen“ (S:30), „Selbst an unseren Staatstheatern kann kein Mensch mehr sprechen“, „Die Ärzte sind alle Idioten“ (S.42)

Superlative: Bernhard bezeichnete sich selbst einmal als „größten Übertreibungskünstler“. Die häufige Verwendung des Superlativs belegt diese Selbstdarstellung: „(...) naturgemäß ist das Volk immer das dümmste.“, „Ried im Innkreis (...) einer der dümmsten Orte“.

Antithesen: Thomas Bernhard setzt durch Antithesen starke, grob vereinfachende Kontraste, z.B. „Überall war es das Einfachste / hier ist es das Komplizierteste“, „Wo ein Wald war / ist eine Schottergrube / wo eine Wiese war / ist ein Zementwerk / wo ein Mensch war / ist ein Nazi“. Auch die Gegenüberstellung von Gaspoltshofen und Utzbach folgt dieser rhetorischen Strategie: „Gaspoltshofen hat es mir angetan / ganz andere Leute / ganz andere Verhältnisse / als hier in Utzbach.“ Bruscon stilisiert Gaspoltshofen zum idealen Ort für das Theater, während er Utzbach zum Inbegriff der Kunstfeindlichkeit erklärt. In Anspielung auf den Feuerwehrhauptmann, der seine Zustimmung zum Löschen des Notlichts verweigern könnte, sagt Bruscon : „der Lächerlichste bringt / das Großartigste zu Fall“. Diese Antithese zwischen dem höchsten künstlerischen Anspruch und der realen Erbärmlichkeit der Realisierung zieht sich überhaupt durch das ganze Stück. Bruscons Streben nach Vollkommenheit steht in scharfem Kontrast zur Aufführungspraxis, so zum Beispiel, wenn in Mattighofen ein Aufführungshöhepunkt durch das Grunzen aus dem Schweinestall gestört wird.

Neologismen / Komposita: Nicht nur, aber vorwiegend im Zusammenhang seiner Schimpfreden erfindet Bruscon Neoligismen durch die Bildung von Komposita: „Handwerksidiot“, „Krankheitsfetischismus“, „Theaterkerkerhaft“ , „Theaterhemmschuh“, „Hustenvortäuschung“, „Voralpenatmosphäre“, „Niederträchtigkeitsfanatiker“
Thomas Bernhards Schimpfreden über Österreich trugen maßgeblich zur Skandalisierung und damit zur Breitenwirkung seiner Literatur bei. Auch Bruscon setzt zu solch einer Österreich-Beschimpfung an:

Österreich
grotesk
minderbemittelt
ist das richtige Wort
unzurechnungsfähig
ist der richtige Ausdruck (...)
Glauben Sie mir
an diesem Volk ist nicht das geringste mehr liebenswürdig
Wo wir hinkommen
Mißgunst
niederträchtige Gesinnung
Fremdenfeindlichkeit
Kunsthaß
Nirgendwo sonst begegnen sie der Kunst
mit solch einer Stupidität (32f.)

Das Absurde und Groteske, das Lächerliche und „Perverse“, das Bruscon Österreich zuschreibt, ist allerdings auch Menschheits- und Weltzustand: „Tatsächlich dienen wir lebenslänglich dem Unsinn /geboren zu sein / Fatale Weltkonstruktion“

Wer existiert
hat sich mit der Existenz abgefunden
wer lebt
hat sich mit dem Leben abgefunden
so lächerlich kann die Rolle gar nicht sein
die wir spielen
daß wir sie nicht nicht spielen

Zur biographischen Interpretation

Die biographische Bernhard-Forschung hat nachgewiesen, dass es für Figuren wir Bruscon oder Caribaldi eine reale Vorbildfigur gibt: Thomas Bernhards Großvater Johannes Freumbichler. Insbesondere in den autobiografischen Erzählungen zeichnete Bernhard ein überwiegend positives Bild seines Großvaters mütterlicherseits. Freumbichler war die einzige Bezugsfigur des Kindes Thomas Bernhard, von der er sich angenommen und geliebt fühlte (vgl. vor allem die autobiografischen Erzählungen „Die Ursache und „Ein Kind“). Unabhängig davon verdrängte aber Thomas Bernhard nicht die Schattenseiten dieses Mannes, der ein großer Schriftsteller sein wollte, aber letztlich als gescheiterter Künstler starb. Den Zusammenhang zwischen dem Großvater und gewissen Hauptfiguren in Bernhards Bühnenstücken hat der Salzburger Germanist Manfred Mittermayer auf folgende Weise geklärt: Auf seine langen Spaziergänge nahm Johannes Freumbichler seinen Enkel mit. Dabei überschüttete er seinen jungen Begleiter mit endlosen Ausführungen, die der spätere Schriftsteller Thomas Bernhard als Erzählduktus von Hauptfiguren in seine Werke aufnahm. Gleichzeitig versuchte sich Bernhard aber auch durch eine kritische Darstellung von der übermächtigen Großvater-Figur zu lösen.


Zitate aus: Thomas Bernhard: Stücke 4, Frankfurt: Suhrkamp 1988 (st 1554)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen