Meine OÖN-Nachlese zum PHILOSOPHICUM LECH 24 (erschienen am 28.9.24);
Unter dem Motto „Sand im Getriebe“ wurde beim 27.
Philosophicum Lech über Störungen aller Art nachgedacht.
Die Impulsdiskussion gehört zu den schönen Ritualen des traditionsreichen
Philosophicums, das jedes Jahr mehr als 500 Besucher ins Ländle lockt. „Sind
wir uns zu einig?“ Mit dieser Frage sollten sich die Podiumsdiskutanten diesmal
beschäftigen, und spätestens nach einer halben Stunde stand die Antwort fest: Nein.
Eher nicht. Der als ZEIT-Kolumnist bekannte Autor Harald Martenstein und die linksliberale
Gallionsfigur Robert Misik machten aus ihren Differenzen kein Geheimnis, wenn
auch im Rahmen einer zivilisierten Kontroverse. Für dessen wuchtige Sprengung
sorgte die Klimaaktivistin Anja Windl („Letzte Generation“), die unter häufigem
Gebrauch der Vokabel „fucking“ ihren bittersten Affekten freien Lauf ließ und vorzeitig
unter Tränen den Saal verließ, weil sie sich vom Moderator benachteiligt
fühlte. Windls starker Abgang polarisierte auch im Publikum. Und so blieb für Schisprung-Legende
Toni Innauer jene Podiumsrolle, die er am meisten mag: die des klug ausgleichenden
Sympathieträgers.
„Sand im Getriebe. Eine Philosophie der Störung“. Unter
diesem Motto stand das 27. Philosophicum, und so kann man festhalten: Passender,
themagerechter hätte die Impulsdiskussion gar nicht verlaufen können. Sie
lieferte das anschauliche Lehrbeispiel einer Ritualstörung, und man kann
darüber streiten, ob diese Art von Störung eine produktive Intervention oder eine
ärgerliche Destruktion war. Zwischen diesen Polen bewegte sich das knappe
Dutzend an Vorträgen, die das Thema „Störung“ unter ökonomisch-technologischen,
politischen, kulturellen und alltagskulturellen Aspekten beleuchteten.
Guter oder böser Störenfried?
Einigkeit bestand immerhin darin, dass der Störenfried ein
ambivalentes Phänomen ist. Einerseits behindert er vertraute Abläufe, schafft
Chaos und stört den Frieden. Andererseits
kann ein Friede auch faul sein, eine Ordnung ungerecht, eine lieb gewordene
Gewohnheit reformreif, sodass die Störung unverzichtbare Voraussetzung der
Verbesserung ist. So weit, so einleuchtend, aber nach welchen Kriterien unterscheiden
wir zwischen nützlichen und schädlichen Varianten der Störung, zwischen dem hilfreichen
und dem bedenklichen Störenfried?
Der Philosoph Thomas
Hobbes (1588-1679) hielt den Menschen grundsätzlich für ein störrisches,
moralisch fragwürdiges Wesen, das individuelle Freiheitsrechte an den Staat
abgeben muss, damit der Kampf jeder gegen jeden („homo homini lupus“) nicht zum
Normalzustand wird. Mit dem Begriff „puer robustus“ (starker Bub) bezeichnete
Hobbes den Menschen, der als Erwachsener kindisch und sozial unreif bleibt, aber
so stark und mächtig wird, dass er mit seiner infantilen Egozentrik allerhand
Schaden anrichten kann, zumal er bisweilen erstaunlich viele Fans um sich
schart. Dass man beim Typus des „puer robustus“, den Dieter Thomä (Universität
St. Gallen) in seiner erhellenden Typologie der Störenfriede listet, auch an
Politikergestalten der Gegenwart denkt, liegt nahe. Der Name Donald Trump fiel
in Lech nicht nur einmal.
Als Verteidiger „guter“
Störenfriede positionierte sich der Sozialphilosoph Robin Celikates (Freie
Universität Berlin), wobei die von ihm favorisierten Beispiele gesellschaftlich
wünschenswerter Störung die ideologischen Präferenzen des Sozialphilosophen verraten.
Als historische Vorbilder zivilen Ungehorsams bemühte er respektable Beispiele
wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King. In der Gegenwart findet er die
„guten“ Störenfriede vor allem unter Klimaaktivisten und Kapitalismuskritikern.
In ihrem Fall ist für Celikates der Rechtsbruch „legitimer“ Teil zivilen
Ungehorsams, denn ihre Ziele seien „universal“ und stünden im Dienst des
gesellschaftlichen Fortschritts. Den Störenfrieden auf der rechten Seite des
politischen Spektrums gesteht er diese moralische Qualität nicht zu. Im
Gegenteil.
Grenzen zivilen
Ungehorsams
Das konnte die Politikwissenschaftlerin
Ulrike Ackermann, Direktorin des liberalen John-Stuart-Mill-Instituts, nicht
unwidersprochen lassen. Man könne doch nicht leugnen, dass es auch von linker
Seite unerwünschte Störungen des demokratischen Rechtsstaats und eines
aufgeklärten Freiheitsverständnisses gäbe. Ackermann verwies auf autoritäre Machtansprüche
einer „political correctness“, die demokratisch nicht legitimiert ist, aber für
sich moralische Überlegenheit und eine Art Deutungshoheit in Anspruch nimmt. Antiaufklärerisch
sei auch das „woke“ Prinzip, für Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres
Geschlechts, ihrer Religion und ethnischen Zugehörigkeit kollektive Opferidentität
und in weiterer Folge Sonderrechte zu beanspruchen.
Einigkeit besteht
darüber, dass physische Gewalt gegen Menschen eine Grenzlinie ist, die ziviler
Ungehorsam keinesfalls überschreiten darf. Wie weit Störaktivitäten gegen „böse“
Dinge gehen dürfen, bleibt allerdings umstritten, zumal mittlerweile die globale
Infrastruktur so komplex ist, dass auch punktuelle Störungen massive
Auswirkungen mit nicht abschätzbaren Folgen haben können. Die
Wirtschaftshistorikerin Monika Dommann (Universität Zürich) führte das Phänomen
am Beispiel der Störungsanfälligkeit von Lieferketten und logistischen Systemen
aus.
Entspannter können
wir über Störungen plaudern, wenn wir das Feld der Kunst betreten, denn
spätestens seit dem 18. Jahrhundert definiert sich „moderne“ europäische Kunst
maßgeblich durch die Störung von Tradition und Konvention, durch Tabubrüche und
provokante Innovationen. Es überrascht daher nicht, dass in Dieter Thomäs
Typologie der Störenfriede der Exzentriker häufig unter Künstlern zu finden
ist. Lambert Wiesing, Professor für Bildtheorie und Phänomenologie in Jena, erörterte
die bewussten Störmanöver von Kommunikationsgewohnheiten durch Dadaismus und Postmoderne
und setzte sie in Beziehung zum radikalen Skeptizismus.
Störfälle der
Schöpfung
Wenn sich die Philosophie
in der sokratischen Tradition als Wahrheitssuche versteht, kann sie den
radikalen Skeptizismus, also die Leugnung jeder zuverlässigen Erkenntnis, nicht
akzeptieren. Geert Keil (Humboldt-Universität Berlin) erklärte die Unterschiede
zwischen einer Wissenschaft, die den Zweifel methodisch einsetzt, und einem generellen
Skeptizismus, wie er insbesondere von Verschwörungstheoretikern und Wissenschaftsgegnern
vertreten wird. Die Tatsache, dass unser Erkenntnisvermögen begrenzt ist und
dass wir irren, bedeutet nicht, dass wir gar nichts mit Sicherheit wissen
können.
Dogmatischen Wissenschaftsgegnern
fehlt jene maßgebliche Tugend, welche die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch
schon in ihrem Eröffnungsvortrag einmahnte: die Bereitschaft zur Selbstkritik.
Ein hilfreicher, konstruktiv agierender Störenfried zeichnet sich nicht zuletzt
dadurch aus, dass er sich auch selbst stören lässt. Verweigert er jede
Selbstrelativierung durch Argumentation und Dialog, dann wird der Zweifler
selbst zweifelhaft.
Nichts ist
vollkommen! Wie es scheint, gehört die Störung zur menschlichen Grundausstattung.
Und es ist auch nicht blasphemisch zu behaupten, sie sei im göttlichen
Schöpfungsplan vorgesehen. Denn wie wäre es sonst zu erklären, dass es innerhalb
der Vollkommenheit des Gartens Eden einen Baum gibt, der es dem in
Schlangengestalt eindringenden Teufel ermöglicht, Adam und Eva zur berüchtigten
Verbotsübertretung zu verlocken, also zu jener folgenreichen Störung, der die
Menschheit den Verlust des Paradieses „verdankt“.
Schriftsteller Michael
Köhlmeier und Philosophicum-Ikone Konrad Paul Liessmann widmeten den
traditionellen „Vorabend“, an dem sich Mythos und philosophische Reflexion
begegnen, nicht nur diesem biblischen Mythos, sondern auch der unangenehmen
Frage, ob von scheinbarer Schwäche, Hilfsbedürftigkeit und Traurigkeit eine heimtückische
Kraft ausgehen kann, die nicht nur stört, sondern zerstört. So kann man es
nämlich im verstörenden Märchen vom traurigen Mädchen nachlesen.