Freitag, 4. Oktober 2024

Kulturbrief 21: Wer fürchtet sich vorm Störenfried?

 Meine OÖN-Nachlese zum PHILOSOPHICUM LECH 24 (erschienen am 28.9.24);

Unter dem Motto „Sand im Getriebe“ wurde beim 27. Philosophicum Lech über Störungen aller Art nachgedacht.

Die Impulsdiskussion gehört zu den schönen Ritualen des traditionsreichen Philosophicums, das jedes Jahr mehr als 500 Besucher ins Ländle lockt. „Sind wir uns zu einig?“ Mit dieser Frage sollten sich die Podiumsdiskutanten diesmal beschäftigen, und spätestens nach einer halben Stunde stand die Antwort fest: Nein. Eher nicht. Der als ZEIT-Kolumnist bekannte Autor Harald Martenstein und die linksliberale Gallionsfigur Robert Misik machten aus ihren Differenzen kein Geheimnis, wenn auch im Rahmen einer zivilisierten Kontroverse. Für dessen wuchtige Sprengung sorgte die Klimaaktivistin Anja Windl („Letzte Generation“), die unter häufigem Gebrauch der Vokabel „fucking“ ihren bittersten Affekten freien Lauf ließ und vorzeitig unter Tränen den Saal verließ, weil sie sich vom Moderator benachteiligt fühlte. Windls starker Abgang polarisierte auch im Publikum. Und so blieb für Schisprung-Legende Toni Innauer jene Podiumsrolle, die er am meisten mag: die des klug ausgleichenden Sympathieträgers.

„Sand im Getriebe. Eine Philosophie der Störung“. Unter diesem Motto stand das 27. Philosophicum, und so kann man festhalten: Passender, themagerechter hätte die Impulsdiskussion gar nicht verlaufen können. Sie lieferte das anschauliche Lehrbeispiel einer Ritualstörung, und man kann darüber streiten, ob diese Art von Störung eine produktive Intervention oder eine ärgerliche Destruktion war. Zwischen diesen Polen bewegte sich das knappe Dutzend an Vorträgen, die das Thema „Störung“ unter ökonomisch-technologischen, politischen, kulturellen und alltagskulturellen Aspekten beleuchteten.

Guter oder böser Störenfried?

Einigkeit bestand immerhin darin, dass der Störenfried ein ambivalentes Phänomen ist. Einerseits behindert er vertraute Abläufe, schafft Chaos und stört den Frieden. Andererseits kann ein Friede auch faul sein, eine Ordnung ungerecht, eine lieb gewordene Gewohnheit reformreif, sodass die Störung unverzichtbare Voraussetzung der Verbesserung ist. So weit, so einleuchtend, aber nach welchen Kriterien unterscheiden wir zwischen nützlichen und schädlichen Varianten der Störung, zwischen dem hilfreichen und dem bedenklichen Störenfried?

Der Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) hielt den Menschen grundsätzlich für ein störrisches, moralisch fragwürdiges Wesen, das individuelle Freiheitsrechte an den Staat abgeben muss, damit der Kampf jeder gegen jeden („homo homini lupus“) nicht zum Normalzustand wird. Mit dem Begriff „puer robustus“ (starker Bub) bezeichnete Hobbes den Menschen, der als Erwachsener kindisch und sozial unreif bleibt, aber so stark und mächtig wird, dass er mit seiner infantilen Egozentrik allerhand Schaden anrichten kann, zumal er bisweilen erstaunlich viele Fans um sich schart. Dass man beim Typus des „puer robustus“, den Dieter Thomä (Universität St. Gallen) in seiner erhellenden Typologie der Störenfriede listet, auch an Politikergestalten der Gegenwart denkt, liegt nahe. Der Name Donald Trump fiel in Lech nicht nur einmal.

Als Verteidiger „guter“ Störenfriede positionierte sich der Sozialphilosoph Robin Celikates (Freie Universität Berlin), wobei die von ihm favorisierten Beispiele gesellschaftlich wünschenswerter Störung die ideologischen Präferenzen des Sozialphilosophen verraten. Als historische Vorbilder zivilen Ungehorsams bemühte er respektable Beispiele wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King. In der Gegenwart findet er die „guten“ Störenfriede vor allem unter Klimaaktivisten und Kapitalismuskritikern. In ihrem Fall ist für Celikates der Rechtsbruch „legitimer“ Teil zivilen Ungehorsams, denn ihre Ziele seien „universal“ und stünden im Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts. Den Störenfrieden auf der rechten Seite des politischen Spektrums gesteht er diese moralische Qualität nicht zu. Im Gegenteil.

Grenzen zivilen Ungehorsams

Das konnte die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann, Direktorin des liberalen John-Stuart-Mill-Instituts, nicht unwidersprochen lassen. Man könne doch nicht leugnen, dass es auch von linker Seite unerwünschte Störungen des demokratischen Rechtsstaats und eines aufgeklärten Freiheitsverständnisses gäbe. Ackermann verwies auf autoritäre Machtansprüche einer „political correctness“, die demokratisch nicht legitimiert ist, aber für sich moralische Überlegenheit und eine Art Deutungshoheit in Anspruch nimmt. Antiaufklärerisch sei auch das „woke“ Prinzip, für Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion und ethnischen Zugehörigkeit kollektive Opferidentität und in weiterer Folge Sonderrechte zu beanspruchen.

Einigkeit besteht darüber, dass physische Gewalt gegen Menschen eine Grenzlinie ist, die ziviler Ungehorsam keinesfalls überschreiten darf. Wie weit Störaktivitäten gegen „böse“ Dinge gehen dürfen, bleibt allerdings umstritten, zumal mittlerweile die globale Infrastruktur so komplex ist, dass auch punktuelle Störungen massive Auswirkungen mit nicht abschätzbaren Folgen haben können. Die Wirtschaftshistorikerin Monika Dommann (Universität Zürich) führte das Phänomen am Beispiel der Störungsanfälligkeit von Lieferketten und logistischen Systemen aus.

Entspannter können wir über Störungen plaudern, wenn wir das Feld der Kunst betreten, denn spätestens seit dem 18. Jahrhundert definiert sich „moderne“ europäische Kunst maßgeblich durch die Störung von Tradition und Konvention, durch Tabubrüche und provokante Innovationen. Es überrascht daher nicht, dass in Dieter Thomäs Typologie der Störenfriede der Exzentriker häufig unter Künstlern zu finden ist. Lambert Wiesing, Professor für Bildtheorie und Phänomenologie in Jena, erörterte die bewussten Störmanöver von Kommunikationsgewohnheiten durch Dadaismus und Postmoderne und setzte sie in Beziehung zum radikalen Skeptizismus.

Störfälle der Schöpfung

Wenn sich die Philosophie in der sokratischen Tradition als Wahrheitssuche versteht, kann sie den radikalen Skeptizismus, also die Leugnung jeder zuverlässigen Erkenntnis, nicht akzeptieren. Geert Keil (Humboldt-Universität Berlin) erklärte die Unterschiede zwischen einer Wissenschaft, die den Zweifel methodisch einsetzt, und einem generellen Skeptizismus, wie er insbesondere von Verschwörungstheoretikern und Wissenschaftsgegnern vertreten wird. Die Tatsache, dass unser Erkenntnisvermögen begrenzt ist und dass wir irren, bedeutet nicht, dass wir gar nichts mit Sicherheit wissen können.

Dogmatischen Wissenschaftsgegnern fehlt jene maßgebliche Tugend, welche die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch schon in ihrem Eröffnungsvortrag einmahnte: die Bereitschaft zur Selbstkritik. Ein hilfreicher, konstruktiv agierender Störenfried zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass er sich auch selbst stören lässt. Verweigert er jede Selbstrelativierung durch Argumentation und Dialog, dann wird der Zweifler selbst zweifelhaft.

Nichts ist vollkommen! Wie es scheint, gehört die Störung zur menschlichen Grundausstattung. Und es ist auch nicht blasphemisch zu behaupten, sie sei im göttlichen Schöpfungsplan vorgesehen. Denn wie wäre es sonst zu erklären, dass es innerhalb der Vollkommenheit des Gartens Eden einen Baum gibt, der es dem in Schlangengestalt eindringenden Teufel ermöglicht, Adam und Eva zur berüchtigten Verbotsübertretung zu verlocken, also zu jener folgenreichen Störung, der die Menschheit den Verlust des Paradieses „verdankt“.

Schriftsteller Michael Köhlmeier und Philosophicum-Ikone Konrad Paul Liessmann widmeten den traditionellen „Vorabend“, an dem sich Mythos und philosophische Reflexion begegnen, nicht nur diesem biblischen Mythos, sondern auch der unangenehmen Frage, ob von scheinbarer Schwäche, Hilfsbedürftigkeit und Traurigkeit eine heimtückische Kraft ausgehen kann, die nicht nur stört, sondern zerstört. So kann man es nämlich im verstörenden Märchen vom traurigen Mädchen nachlesen.


Dienstag, 24. September 2024

Kulturbrief 20: Reinhard Kaiser-Mühleckers außergewöhnliche "Heimatliteratur"

 Das ist meine Sicht auf "Brennende Felder", den neuen Roman von Reinhard Kaiser-Mühlecker, erschienen in den Oberösterreichischen Nachrichten.

Luisa, die Hauptfigur in Reinhard Kaiser-Mühleckers neuem Roman „Brennende Felder“, kennen seine Leserinnen und Leser schon aus früheren Büchern des Autors („Wilderer“, „Fremde Seele, dunkler Wald“). Luisa stammt aus dem ländlichen Rosental, hat zwei Brüder, Alexander und Jakob, und sie hat schon als Fünfzehnjährige ihr Heimatdorf verlassen. Die Entdeckung, dass Robert oder Bert oder Bob nicht ihr leiblicher Vater ist, war eine biographische Bruchstelle, zumal sich Luisa plötzlich eingestehen konnte, dass sie für Bob noch etwas anderes empfindet als warmherzig-milde Tochter-Gefühle.

In den folgenden zwei Jahrzehnten sammelt sich bei Luisa eine ganze Menge Leben an. Ihre Ehe mit einem in Schweden lebenden Amerikaner geht ebenso in die Brüche wie die mit einem dänischen Musiker. Luisa übersiedelt nach Hamburg und hält sich mit wechselnden Beschäftigungen materiell über Wasser. Ihre Kinder Marie und Eric bleiben bei ihren Vätern. Und eines Tages steht Stiefvater Bob vor der Tür – und zwar mit dem bizarren Anliegen, sie möge mit ihm nach Rosental zurückkehren, nicht als Tochter, sondern als Frau.

Heimkehr nach langer Abwesenheit, Zugehörigkeit, Fremdheit und Prägung sind in den Romanen von Reinhard Kaiser-Mühlecker wiederkehrende Motive. Man verirrt sich nicht ins Spekulative, wenn man den Motivkomplex auch autobiographisch interpretiert. Kaiser-Mühlecker hat selbst viele Jahre fern vom heimatlichen Eberstalzell gelebt, bevor er zurückgekehrt ist, um den elterlichen Bio-Hof zu übernehmen. Luisas Heimkehr verläuft allerdings unter anderen Bedingungen und mit anderen Folgen.

Nach dem mysteriösen Tod von Stiefvater Bob ist es die Begegnung mit Ferdinand Goldberger, die in Luisas Leben eine markante Wende einleitet. Auch Ferdinand ist in der Kaiser-Mühlecker-Lesergemeinde kein Unbekannter. Und so fügt sich „Brennende Felder“ in den breiten Zyklus von Romanen, deren Einzigartigkeit und literarische Qualität auch darin besteht, dass sie sich jeder Etikettierung entziehen, weil sie weder der traditionellen Dorfgeschichte noch der Anti-Heimatliteratur zugeordnet werden können.

Reinhard Kaiser-Mühlecker kennt die bäuerliche Lebenswelt wie kein anderer Autor. Er idealisiert sie nicht, er dämonisiert sie nicht, sondern versucht, sie und auch die eigene Rolle darin besser zu verstehen. Das fiktionale, aber im Wesentlichen realistische Schreiben ist für ihn ein Erkenntnismedium, und die Überzeugungskraft seiner Texte beruht nicht zuletzt darauf, dass ihm auch die Grenzen des Erkennens und Verstehens bewusst sind.

Luisas Geschichte ist dafür geradezu exemplarisch. Meist erzählt Kaiser-Mühlecker aus der Perspektive seiner Protagonistin. So erfahren wir zwar viel über diese Frau, über ihre Wünsche und Hoffnungen, ihre Enttäuschungen und Irrtümer, ihr Glück und ihr Unglück. Dennoch bleibt vieles an ihr widersprüchlich und rätselhaft, für uns Leser und wohl auch für Luisa selbst.

6 Sterne

Reinhard Kaiser-Mühlecker: „Brennende Felder“, Roman, S.Fischer, 366 Seiten, 26,50 Euro


Sonntag, 7. Juli 2024

Kulturbrief 19: "Unsere Epoche in erzählter Form." - Ein Gespräch mit Robert Menasse anlässlich unseres gemeinsamen Siebzigers

Robert Menasse feierte am 21. Juni seinen 70. Geburtstag, ich einen Tag später. Wir kennen uns seit der Studienzeit in den roten Siebzigern. Das nahm ich zum Anlass für ein Gespräch über das Literaturverständnis unserer Generation, es erschien (leicht gekürzt) in den OÖN vom 22./23. Juni 24.

 Man sieht es dir zwar nicht an, Robert, aber du bist um einen ganzen Tag älter als ich. In den Siebzigerjahren, als wir uns kennengelernt haben, war – im Unterschied zu heute – Literatur für viele junge Männer etwas sehr Wichtiges. Zu unserem Jahrgang 1954 gehören auch Erich Hackl, Karl-Markus Gauß, Christoph Ransmayr. Können wir daraus ein Profil unserer Generation entwickeln?

Ich kann nur sagen, was Literatur für mich war. Es war eine Fluchtmöglichkeit. Ich war in einem Internat und die einzige Möglichkeit, zumindest mit dem Kopf rauzukommen, war lesen. In der Schulbibliothek durfte man sich nur an einem bestimmten Tag ein Buch ausborgen, und das für eine Woche. Damit es für die ganze Woche reicht, habe ich die Bücher nach dem Umfang ausgesucht. So bin ich zu Dostojewskij gekommen.

Ich war zwar nicht in einem Wiener Internat, sondern daheim bei Mama und Papa im Innviertel. Aber die Mama war Mitglied der Buchgemeinschaft Donauland…

Ja, das war meine auch. Beim Aussuchen der Quartalsbestellung durfte ich immer mitreden, und wenn ich für das Quartal mehr als einen Wunsch hatte, hat ihn meine Mutter erfüllt.

Als wir Anfang der Siebzigerjahre begonnen haben, Germanistik zu studieren, ist für mich eine neue, anfangs irritierende Dimension dazugekommen. Man konnte damals kaum ein Gespräch über Literatur führen, ohne gleichzeitig über Politik zu sprechen. Für die ganz strammen Linken musste Literatur parteilich sein, zugunsten von Arbeitern, Ausgebeuteten…

Das habe ich nie so eng gesehen. Ich habe mich vor allem für Romane interessiert und für die Frage: Was erzählt mir ein Roman über die Zeit, in der er geschrieben wurde? Da geht es um den Anspruch auf Realismus…

…der ja damals auch nicht unumstritten war. Angesagt war das Sprachexperiment. Bloß keine Geschichten erzählen! Hat dich das irritiert?

Nein, obwohl ich mich für das Sprachexperiment interessiert habe – interessieren musste. Professor Schmidt-Dengler, bei dem ich studiert habe, hat großen Wert darauf gelegt, uns ein breites Literaturverständnis zu vermitteln. Und die linken Kreise, in denen ich damals verkehrt bin, das waren keine dogmatischen Klassenkämpfer. Das war ein Diskussionszirkel. Wir brauchten nicht zu einer Demo aufrufen, weil mehr als die fünf Leute, die im Kaffeehaus sowieso zusammengesessen sind, wären eh nicht gekommen. Beim Germanistikstudium hatte ich die naive Vorstellung, ich würde lernen, wie es die großen Schriftsteller machen, also für das „Handwerkliche“ profitieren. Ich habe aber nur gelernt, wie es die Germanisten machen. Trotzdem, es gab wunderbare Gespräche auf der Universität und auch außerhalb. Adorno oder Lukacs? Solche Sachen haben wir intensiv diskutiert.

Als du in den Achtzigern deine ersten Romane geschrieben hast, war Realismus für dich eine Art literaturästhetische Leitvorstellung?

Ja – und auch wieder nicht. Ich hatte anfangs kein klares ästhetisches Programm. Was realistische Literatur ist, da gibt es verschiedene Zugänge und Vorstellungen. Ich habe eben lieber Thomas Mann gelesen als Samuel Beckett, und was grundsätzlich bleibt: Es geht beim realistischen Schreiben nicht darum, fotografisch genaue Abbildungen zu liefern, sondern um eine Erzählbewegung, die nicht nur das Wirkliche darstellt, sondern auch andere Möglichkeiten andenkt. Und ganz wichtig für die Kunst des realistischen Romans: Jede Romanfigur muss individuell und einzigartig sein, so wie jeder Mensch einzigartig ist, gleichzeitig soll sie aber auch exemplarisch sein. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch.

Neben dem Roman ist der politische Essay die literarische Form, die wir mit dem Autor Robert Menasse verbinden. Ist der Essay für dich die tauglichste Form der politischen Einmischung?

Ich sehe mich in erster Linie als Erzähler. Das ist mein größtes Talent. Das interessiert mich auch als Leser am meisten, ob jemand gut erzählen kann, das heißt mit Kunstanspruch. In den Siebzigern stand das Erzählen generell unter Trivialitätsverdacht. Wenn ich damals den Literaturzeitschriften Erzählungen angeboten habe, war das ziemlich aussichtslos. Essays hingegen haben die gerne genommen, weil es auch nicht so viele gab, die das gut konnten. Mit einem Essay hatte ich bessere Aussichten auf Veröffentlichung, so einfach war das, das würde ich im Nachhinein nicht mystifizieren.

Für mich ist der literarische Essay nicht die, aber eine Königsdisziplin des Schreibens.

Ja, wenn du ihn nicht als journalistischen Artikel definierst, als bloßen Kommentar, sondern als literarische Kunstform. Karl-Markus Gauß hat einmal gesagt: Wenn man einen Essay schreibt, muss man auf den Gedanken warten können. Der Gedanke soll, wenn man zu schreiben beginnt, noch lange nicht fertig sein. Und dieser Wunsch, schreibend einen Gedanken zu entwickeln, das reizt mich schon.

1990 ist dein vielbeachteter Essay „Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik“ erschienen. Seither sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen und auch die Sozialpartnerschaft hatte ihr Schicksal. Teilst du heute noch deine Kritik von damals?

Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der Sozialpartnerschaft hat sich meine Sicht nicht geändert. Sie hat in der österreichischen Öffentlichkeit und in der Mentalität etwas bewirkt, diese Glocke der Harmonisierung, und dafür habe ich ein Erklärungsmodell geliefert. Die Vertuschung von Widersprüchen verhindert produktive Auseinandersetzungen und damit gesellschaftliche Dynamik. Das ist die eine Seite, die andere: Die Sozialpartnerschaft hat im Hinblick auf sozialen Frieden und wachsenden Wohlstand auch ihre Meriten. Da bin ich milder geworden im Urteil.

2012 erschien dein Essay „Der europäische Landbote“, später deine Romane „Die Hauptstadt“ und „Die Erweiterung“, jetzt „Die Welt von morgen“. Ich kenne keinen zweiten Autor, der seine Literatur so sehr in den Dienst der europäischen Idee stellt wie du.

Da muss ich dir widersprechen. Ich stelle meine Arbeit in keiner Weise in irgendeinen Dienst. Es verhält sich anders. Reden wir noch einmal vom Realismus. Wenn wir den realistischen Roman definieren als „die Epoche, in eine Erzählung gefasst“, dann muss uns klar sein, dass wesentliche Rahmenbedingungen unseres Lebens, zum Beispiel rechtliche, in Brüssel produziert werden, dass diese Bedingungen in unser aller Leben hineinspielen. Ich war in Brüssel, weil ich diese Welt, die eine andere ist als die unserer Großeltern, besser verstehen wollte, denn meine Romanfiguren bewegen sich in dieser Welt. So wie ein lateinamerikanischer Autor, der in einer Diktatur lebt und eine Liebesgeschichte erzählt, zwangsläufig nicht nur von der Liebe erzählen kann, sondern auch von der Diktatur erzählen muss. Tut er das nicht, dann ist es Kitsch.

Apropos Lateinamerika. Du hast in den Achtzigern in Brasilien gelebt. War das eine Episode in deinem Leben oder haben dich diese sieben Jahre geprägt?

Ich wäre heute nicht der, der ich bin, ohne diese Jahre in Brasilien. Erstens habe ich dadurch eine ziemliche Distanz zu meiner Herkunft entwickelt, eine Distanz, die mich nie wieder ganz verlassen hat und die für mein Schreiben wichtig ist. Zweitens habe ich damals die Transformation Brasiliens von der Diktatur zur Demokratie miterlebt, und zwar mit allen Transformationskrisen. Da hat so richtig Geschichte stattgefunden. Als ich 1989 zurückgekommen bin, meinte ich, in ein vergleichsweise versteinertes Europa zurückzukehren.

Wenige Monate später fiel aber die Berliner Mauer…

Und da erlebte ich die europäische Variante einer Transformationskrise. Durch diese Erfahrungen habe ich mein Verständnis von gesellschaftspolitischem Wandel entwickelt. Weil wir von unserer Generation reden - unsere Generation hat die Erfahrung gemacht, dass politisch Wünschenswertes auch machbar ist. Das ist eine immens produktive Erfahrung und die soll zur Grundlage unseres politischen, gesellschaftlichen und sozialen Denkens werden. Die Gesellschaft ist immer im Wandel und die entscheidende Frage ist: Wollen wir ihn erleiden oder gestalten?


Donnerstag, 6. Juni 2024

Kulturbrief 18: Wie man eine Prophetenstimme zum Klingen bringt. Mendelssohns "Elias" in der Friedenskirche

 Mit einer beeindruckenden Aufführung von Felix Mendelssohn-Bartholdys Oratorium „Elias“ beendete die Sinfonia Christkönig am 26. Mai in der Friedenskirche Linz-Urfahr ihre dreiteilige Konzertreihe 2023/24. „Elias“ hat eine langwierige, fast zehnjährige Entstehungsgeschichte, die damit beginnt, dass Felix Mendelssohn-Bartholdy im Jahr 1836 zu seinem Freund Karl Klingemann sagt, er halte die Geschichte des Propheten Elias, wie sie im ersten Buch der Könige (1 Kön 19,11-13) erzählt werde, als „herrlich“ geeignet für ein Oratorium.

Die Arbeit am Libretto, die Klingemann nicht weiterverfolgte, übernahm – gemeinsam mit Mendelssohn selbst – der Dresdener Pastor Julius Schubring, der das alttestamentarische Narrativ des mutigen, auch erbarmungslosen Propheten und seines zürnenden Gottes mit christologischen, also neutestamentarischen Akzenten durchsetzte. Der zum Christentum konvertierte Mendelssohn-Bartholdy hatte damit kein Problem, achtete aber darauf, dass der alttestamentarische Erzählduktus nicht zu sehr aufgeweicht wurde, was allein aus dramaturgischen Gründen sinnvoll war. Die Uraufführung des Oratoriums in Birmingham (1846) war ein großer Erfolg. Mendelssohn veranschaulichte den dramatischen Handlungsbogen der Elias-Geschichte in einer abwechslungsreichen musikalischen Nummernfolge, setzte neben dem Chor mehrere Solostimmen und einen großen Orchesterapparat ein.

Eduard Matscheko, dem musikalischen Leiter der Sinfonia Christkönig, gelang es wieder einmal, sein Ensemble zu einer künstlerischen Glanztat zu führen. Als ebenso stimmsichere wie interpretatorisch einfühlsame Solisten bewährten sich Ilja Staple (Sopran), Valentina Kutzarova (Alt), Jan Petryka (Tenor), Klaus Kuttler (Bariton) sowie im berührenden Engelsterzett „Hebe deine Augen auf“ Elisabeth Baehr, Gabriel Federspieler und Selma Spitzer. Eduard Matscheko und die Sinfonia Christkönig brachten die wechselhaften Stimmungs- und Klangnuancen der Komposition wirkungsvoll zum Singen und Klingen.

Dass der wechselhafte Einfall des nachmittäglichen Sonnenlichts in den Kirchenraum die „Elias“-Dramaturgie kongenial unterstützte, mag man – ganz nach dem Ausmaß eigener Wundergläubigkeit – als schönen Zufall oder höhere Gnade einordnen. Jedenfalls dankte das zahlreich erschienene Publikum nach mehr als zwei Stunden konzentrierten Lauschens mit ausdauerndem Beifall und Jubel.

Sonntag, 26. Mai 2024

Kulturbrief 17: Subventioniertes Jakobinerspielen als Festspieleröffung

Ich habe im Fernsehen die Eröffnung der Wiener Festwochen gesehen und gehört. Ich war aufgrund der Vorberichte gewarnt und hatte trotzdem den festen Vorsatz der Vorurteilslosigkeit. Aber trotz ehrlichen Bemühens sehe ich dieses Jakobinerspielen nur im Planquadrat von ALBERN - REFLEXIONSBEFREIT - SELBSTGEIL - GRUSELIG. Diesen subventionierten Revolutionshabitus finde ich ebenso pubertär wie fahrlässig. Ich hoffe, die einzelnen Produktionen setzen andere politische Zeichen (oder gar keine vordergründigen!) und erheben sich über das künstlerische Niveau der Eröffnung. Mit gewisser Sorge sehe ich dem Gerichtshof der freien Republik Wien entgegen. Mit selbstherrlichen, machtgeilen Revolutionstribunalen dieser Sorte haben wir ja in der Geschichte die tollsten Erfahrungen gemacht. Warum gibt sich eine Irmgard Griess für dieses Kasperltheater her? Allerdings muss ich selbstkritisch einräumen, dass ich zu den alten, weißen Säcken gehöre, für die die Gruppe "Bipolar feminin" bei der Eröffnung der Festspiele diesen um menschliche Nähe bemühten Refrain gesungen hat: "Ich töte euch alle / Ich bring euch alle um / Vielleicht häng ich euch auf / Vielleicht stech ich euch in den Bauch." Nur zu! Wenn ihr die Zukunft seid, will ich sie eh nicht erleben.

Sonntag, 31. März 2024

Kulturbrief 16: Wer Gauß nicht liest, versäumt viel. Zur Neuerscheinung "Schiff aus Stein. Orte und Träume"

 Unter dem Titel "Jeder Ort hat sein Geheimnis und seine Geschichte" erschien am 23. März meine OÖN-Rezension zum neuen Buch von Karl-Markus Gauß.

In der Nähe der albanischen Gemeinde Roskovec steht auf einem Hügel ein wuchtiges Schiff aus Stein. Gebaut wurde es in den Neunzigerjahren, gedacht war es als Hotel, es wurde aber nie eröffnet. Drei Brüder aus der Familie, die den seltsamen Bau errichten ließ, hatten im albanischen Hafen Vlora ein Flüchtlingsschiff bestiegen, das aber nie im italienischen Zielort ankam. Mit dem steinernen Schiff sollte den Toten ein Denkmal gesetzt werden.

Das ist der Inhalt der Titelgeschichte von Karl-Markus Gauß‘ neuem Buch „Schiff aus Stein. Orte und Träume“. Wie so oft erzählt der Salzburger Autor von Orten, die ihm Geschichten erzählen, nicht immer spektakuläre, denn für Gauß gibt es „keinen Ort, der es nicht wert wäre, durchwandert und erkundet zu werden, weil ein jeder sein Geheimnis und seine Geschichte hat.“ Immer wieder zieht es den Reisenden nach Südosteuropa. Er erzählt aber auch vom Selbstbehauptungswillen der Litauer, die ihre Sprache gegen die imperialen Dampfwalzen aus Deutschland und Russland verteidigt haben, und er erzählt vom Stift Schlägl, wo er noch dem Orgelspiel des 2016 verstorbenen Musikers Ruprecht Gottfried Frieberger lauschte.

Ob man von „andächtigem“ Lauschen sprechen kann, mag offen bleiben. Gauß verwendet zur Selbstbenennung das Oxymoron „glaubensstrenger katholischer Atheist“, verschweigt aber nicht seine Bewunderung für die Schönheit einer schwarzen Madonna in einer litauischen Renaissancekapelle und den „Schmerz“ des Bewunderers, der „in die Frömmigkeit nicht zurückfinden kann.“ Als er sich gemeinsam mit vielen anderen Trauernden in der Wallfahrtskirche von Attersee für immer vom Schriftsteller Hans Eichhorn verabschiedet, ist er dankbar für das „bewährte Ritual“, das die Kirche anbietet.

Auch über den Leser Karl-Markus Gauß erfahren wir in „Schiff aus Stein“ so manches Erhellende, zum Beispiel über die „Anna Karenina“-Lektüre des Sechzehnjährigen und über jenen Zustand des Lesenden, in dem er so ganz „in einer anderen Welt und zugleich bei sich selbst ist“. Aus Gauß‘ sensiblen Impressionen spricht die genaue, aber nie indezente Menschenbeobachtung, dort und da ironisch, aber zurückhaltend im Urteil. Er beobachtet eine in die Buchstabenwelt versunkene Leserin im Bus, eine gealterte Hippie-Frau in Vilnius, einen Spaghetti essenden Kaffeehausbesucher und andere mehr.

Auch die sogenannten „letzten Dinge“ drängen sich bisweilen in diese literarischen Miniaturen: Friedhöfe, verblassende Erinnerungen und die mit dem Alter zunehmende Anfälligkeit für Krankheiten. Karl-Markus Gauß wird im Mai seinen Siebziger feiern. Dennoch dominieren helle Tonlagen, Schönheit und Humanität – kraftvoll akzentuiert durch die Buch-Widmung: Sie gilt der vor wenigen Monaten geborenen Enkeltochter Amalia Sophie.

Karl-Markus Gauß: „Schiff aus Stein. Orte und Träume“, Zsolnay, 143 Seiten, 23,70 Euro

Dienstag, 12. März 2024

Kulturbrief 15: Valerie Fritschs neues Buch "Zitronen", ein großartiger Roman

Diese Rezension erschien am 1. März in den OÖN

Das Dorf, in dem August Drach aufwächst, ist so klein, „dass man sich, wenn man sich umschaute, nie sicher war, ob jeder jeden kannte oder niemand niemanden.“ Man erzählt Geschichten hinter vorgehaltener Hand. Ob sie der Wahrheit entsprechen, bleibt offen. Die Unsicherheit doppelter Böden ist hier soziale Normalität, im Elternhaus des kleinen August äußert sie sich auch als Unberechenbarkeit.

Unberechenbar ist Augusts Vater, ein Alkoholiker, der seinen Gemütsschwankungen ausgeliefert ist. Der Sohn bemüht sich zwar zu durchschauen, welche seiner Sätze und Verhaltensweisen beim Vater welche Reaktionen bewirken, aber vergeblich. Ein und dieselbe Handlung löst einmal Gleichgültigkeit aus, ein anderes Mal Lachen, ein drittes Mal Wut und Gewalttätigkeit. Dass der Vater eines Tages spur- und kommentarlos verschwindet, passt ins Bild seiner Unberechenbarkeit.

Die schöne Lilly Drach scheint alles in allem eine fürsorgliche Mutter zu sein. Ihre Unberechenbarkeit zeigt sich anfangs nur in alltäglichen Verrichtungen. In einem Jahr pflegt sie den Obstgarten hingebungsvoll, im nächsten lässt sie ihn verkommen. Sie hängt gerne ihrem Traum vom glanzvollen Frauenleben nach, während die Wohnräume der Verwahrlosung entgegenschimmeln.

Die scheinbar liebevolle Pflege ihres kränkelnden Kindes wird für Lilly zum Sinnzentrum in einem ansonsten flachen Dasein. Um darauf nicht verzichten zu müssen, hält sie August durch schädigende, heimlich verabreichte Medikamente in seinem rätselhaften Krankheitszustand. Dieser zerstörerischen Mutterliebe entkommt August durch die Hilfe des Hausarztes, der zwar in Lilly Drach verliebt ist, aber sich dann doch auf seine Verantwortung besinnt. Der gemeinsame Sommerurlaub mit der Mutter und ihrem Verehrer – symbolisch verbunden mit der Zitrone – bleibt Augusts schönste Kindheitserinnerung.

Es verwundert nicht, dass nach solch einer Kindheit Unsicherheit und Labilität Augusts hartnäckige Lebensbegleiter bleiben. Dass ausgerechnet er die Liebe der exzentrischen Künstlerin Ava wecken kann, sieht er anfangs als Gottesgeschenk, was aber nur zuträfe, wenn der liebe Gott Zyniker wäre.

Mit ihrem neuen Roman „Zitronen“ liefert Valerie Fritsch die literarische Diagnose einer durch und durch kranken Familienkonstellation. Die Überzeugungskraft des Texts ist nicht nur den fundierten Kenntnissen, sondern auch der beeindruckenden Formulierungskraft der Autorin zu verdanken. Mit ihrer genauen, gleichzeitig melodiös-eleganten Sprache dringt sie sehr subtil zum Kern des psychischen Desasters vor. Dass Valerie Fritsch bisweilen zum stilistischen Virtuosentum neigt und gerne in kühnen Metaphern und sogenannten Amplifikationen (variierenden Wiederholungen) schwelgt, mag man ihr verzeihen. Schön ist es ja!

Valerie Fritsch: „Zitronen“, Roman, Suhrkamp, 186 Seiten, 25,50 Euro