Freitag, 6. Dezember 2024

Kulturbrief 22: Lernziel: Die Richtigen wählen!

 In Die Furche 46 (14.11.24) ist mein Gastkommentar erschienen:

Der Schriftsteller und Ex-Lehrer Thomas Raab hat in „Die Presse“ (6.11.24) einen Gastkommentar veröffentlicht, dem eine nachsichtige Redaktion das Prädikat „Nachwahlanalyse“ zugestanden hat. Um eine „Analyse“ handelt es sich eigentlich nicht, sondern eher um expressive Rollenprosa mit dem filmreifen Titel „Aufschrei einer Verdammten“. Die Verdammte, die Raab mit großem rhetorischem Aufwand schreien lässt, ist die Schule, und ihr Schrei nährt sich aus Wut, Schmerz und Verbitterung. Der Grund dafür ist die schwere Vernachlässigung, die sie erdulden muss. Wer genau die „elenden Heuchler“ sind, die Österreichs Schulen „sehenden Auges verrecken lassen“, erschließt sich zwar nicht, es darf aber vermutet werden, dass vorrangig politische Verantwortungsträger/-innen adressiert werden.

An düsteren Szenarien einer „Bildungskatastrophe“ mangelt es hierzulande nicht. Sobald ein soziales, ökonomisches, ökologisches oder moralisches Problemfeld erkennbar wird, rufen empörte „Bildungsexperten“ aus allen Bedeutungsetagen: „Da ist doch in der Schule etwas schiefgelaufen!“ Der jüngste Anlassfall ist eine Serie unerwünschter Wahlsiege: AfD in Deutschland, FPÖ in Österreich, jetzt auch noch Trump in den USA. Das Volk, „der große Lümmel“ (Heine), hat falsch gewählt und Thomas Raab ist nicht der Einzige, der auf Wahlerfolge des rechten Rands mit dem Verdacht reagiert, eine überforderte Schule habe ihre politischen Hausaufgaben nicht erledigt. Sonst hätten zumindest die Jungen „richtiger“ gewählt. Hinter diesem Verdacht steht eine Vorstellungswelt, die ich - in konservativer Schultradition - zur Prüfung aufrufen möchte.

Verstärkter Fokus auf politische Bildung

Zweifellos ist es eine (auch gesetzlich vorgegebene) Aufgabe der Schule, junge Menschen zu mündigen Staatsbürger/-innen zu erziehen, die sich mit der parlamentarischen Demokratie und dem Rechtsstaat identifizieren und nicht mit autoritären und totalitären Systemalternativen, seien es faschistische, kommunistische oder religiös-fundamentalistische. Historische Kenntnisse darüber, wohin autoritäre Wege führen, können dazu beitragen, irrationale Hoffnungen auf vermeintlich gerechtere, glücklichere oder gottgefälligere Verhältnisse zu dekonstruieren. Nützlich ist auch die Einsicht in Strategien politischer Rhetorik und in demokratische Machtstrukturen.

Das alles kann und soll Schule leisten, und ich behaupte, dass dieser Art politischer Bildung in der jüngeren Vergangenheit weitaus mehr pädagogische Aufmerksamkeit gewidmet wurde als in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik, durch Lehrplaninhalte, durch ein offenes Kommunikationsklima und auch dadurch, dass Schüler/-innen in Mitsprachegremien Demokratie üben können. Natürlich gibt es immer Luft nach oben, aber die so oft und oft so pathetisch vorgetragene Kritik, die Schule versage als politischer Sozialisationsraum, beruht auf Denkfehlern jener Kritiker/-innen, die sich andere Wahlergebnisse wünschen.

Wir können Schüler/-innen politische Bildungsangebote machen, wir dürfen sie aber – gerade im Sinne eines demokratisch-pluralistischen Freiheitsbegriffs – nicht zu einem Wahlverhalten abrichten, das bestimmte politische Lager von vornherein präferiert und andere diffamiert, solange diese legal innerhalb des Verfassungsbogens agieren. Weltanschauliches Patronanzgehabe war und ist das schulpolitische Kennzeichen jener autoritären Systeme, die wir aus gutem Grund ablehnen. Daher ist es unangebracht, vom „Versagen“ der Schule zu reden, sobald sich ein relevanter Prozentsatz der Jungwähler/-innen für die FPÖ entscheidet. Mich ärgert es ja auch, aber so geht Freiheit nun einmal.

Über systembedingte Problemstellen sollen wir natürlich diskutieren, aber bitte konkret und mit Augenmaß für das Machbare. Nur eine kleine Minderheit der Zwölf- bis Fünfzehnjährigen zeigt überhaupt Interesse an Politik. Da bei uns die Schulpflicht mit der neunten Schulstufe endet, findet für Schulabgänger politische Bildung gerade in dem Alter nicht mehr statt, in dem sich das Interesse an Staat und Politik so nach und nach entwickelt. Vielleicht könnte die Berufsschule hier mehr tun. Ich würde die Erwartungen allerdings nicht allzu hoch ansetzen. In den USA gibt es Schulpflicht bis sechzehn, in manchen Bundesstaaten auch länger. Es wäre mir neu, dass die amerikanische Jugend ein leuchtendes Vorbild politischer Bewusstheit abgäbe.

Auf verlorenem Posten

Und damit sind wir bei einem weiteren Kernpunkt: Die Schule ist nicht der einzige politische Sozialisationsraum, wahrscheinlich nicht einmal der wirkungsmächtigste. Daneben gibt es das Elternhaus, Freundinnen und Freunde und vor allem – als junges Phänomen – soziale Medien, deren Einfluss auf die Werthaltungen junger Menschen enorm ist. Ich sage nicht, dass die Schule in Sachen Demokratieerziehung auf verlorenem Posten steht, aber die Grenzen ihrer Wirkungsmöglichkeiten müssen wir nüchtern zur Kenntnis nehmen. Vom allzu schlichten Generalbefund „Da hat die Schule versagt“ sollten wir uns angesichts unerwünschter Wahlergebnisse jedenfalls verabschieden – ebenso wie vom Mythos, Jugend stünde per se für „das Gute“ (was immer das sein mag!) und jede Abweichung könne nur die Folge von Bildungslücken und Erziehungsfehlern sein.


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