Geschüttelter Liebling, goldgelbes Kissenherz
Unter diesem Titel erschien meine Würdigung Friederike Mayröckers zum 100. Geburtstag (Oberösterreichische Nachrichten, 20. Dezember 24)
Wenn man die Autorenbiographie von Friederike Mayröcker nachzeichnet,
erzählt man zwangsläufig österreichische Literaturgeschichte. Das allein
unterstreicht die Bedeutung dieser außergewöhnlichen Künstlerin. Mayröckers
erstes Gedicht erschien 1946 in der Literaturzeitschrift „Plan“, die vor allem
avantgardistische Literatur veröffentlichte. Bald fand die junge Autorin Zugang
zur Wiener Literaturszene der Fünfziger Jahre, lernte den damals
einflussreichen Hans Weigel kennen und die Autoren der legendären „Wiener
Gruppe“ um H.C. Artmann und Gerhard Rühm.
Lebensbestimmend wurde die Begegnung mit Ernst Jandl. Ihn
und Friederike Mayröcker verband nicht nur eine dauerhafte Liebesbeziehung,
sondern auch eine intensive künstlerische Partnerschaft. Das ist insofern
bemerkenswert, als ihre literarischen Wege nicht in dieselbe Richtung führten.
Jandl wurde in den Sechzigerjahren mit seinem Lyrikband „Laut und Luise“
bekannt. Lautgedichte aus dieser Sammlung (u.a. „wien:heldenplatz“, „schtzngrmm“)
sind zu Klassikern der Moderne geworden. Jandl verweigerte in seiner Lyrik traditionelle
Vorstellungen wie Gefühlsausdruck, Stimmung und rhetorische Schönheit. Die
Sprache, auch die lyrische, war ihm das Material, mit dem er einfallsreich und
wirkungsvoll experimentierte.
Der Traditionsbruch, die Verweigerung der sprachlichen
Konvention, kennzeichnete auch Mayröckers Schreibens. Aber schon ihre Texte aus
den Siebziger- und Achtzigerjahren (u.a „je ein umwölkter gipfel“, „Reise durch
die Nacht“) zeigten, dass ihr Schreibverfahren nicht das Experiment mit dem „Sprachmaterial“
war, sondern die radikale poetische Kunst, für unterschiedlichste Wahrnehmungen
der äußeren und inneren Welt die Grenze des Sagbaren zu erweitern.
Leben und Schreiben wurden für Friederike Mayröcker zur spannungsreichen
Einheit. Manisch füllte sie Seite um Seite, immer auf der Suche nach der subjektiv
gültigen Sprache und nie ganz zufrieden. Rund 120 Bücher hat sie im Laufe ihres
langen Lebens veröffentlicht, Prosa, Lyrik, Hörspiele; und die Fotos ihrer Wiener
Wohnung in der Zentagassse, einer Art Schreibhöhle, sind berühmt geworden: Berge
mit Büchern, Manuskripten, Notizen, Zeichnungen. Ihr Nachlass, aufbewahrt im
Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, umfasst 450 große
Kartons.
Ernst Jandls Tod traf Friederike Mayröcker als harte Zäsur.
Die Motive Verlust, Trauer, Tod bestimmten ihre nach 2000 entstandenen Bücher
(u.a. „Und ich schüttelte einen Liebling“). Aber ihre bewundernswerte kreative
Kraft verließ sie bis zuletzt nicht. Mayröckers letztes Buch „da ich morgens
und moosgrün. Ans Fenster trete“ erschien 2020, ein Jahr vor ihrem Tod.
Es wäre einfacher, die Literaturpreise aufzuzählen, die
Friederike Mayröcker nicht erhalten hat. Der Respekt der Literaturkritik war
groß, vergleichsweise klein blieb aber ihre Lesergemeinde. Mayröcker macht es
uns nicht leicht. Ihre Chiffren sind rätselhaft. In ihrer Prosa verweigert sie
Handlungsstränge, und kaum hat eine Figur Gestalt angenommen, löst sie sich im
Imaginären auf. Aber größer als die Ratlosigkeit, die diese hermetischen Texte
oft auslösen, ist die Faszination, die von ihnen ausgeht. Sie erreicht auch
jüngere Autorinnen. Frieda Paris‘ Lyrikband „Nachwasser“, ausgezeichnet mit dem
österreichischen Buchpreis für das beste Debüt 2024, wurde von Mayröckers „Zetteluniversum“
angeregt, und Andrea Winkler widmete der Sprachkünstlerin einen erhellenden
Essay.
Lektüretipp:
Friederike Mayröckers literarisches Debüt (1956) in der
originellen Bearbeitung des Comiczeichners Nicolas Mahler.
Friederike Mayröcker: „Gesammelte Gedichte 2004-2021“, Suhrkamp,
560 Seiten, 40,50 Euro
Für ambitionierte Lyrikfreunde: Mayröckers gesamtes lyrisches
Spätwerk
Friederike Mayröcker: „Und ich schüttelte einen Liebling“,
Suhrkamp TB, 237 Seiten, 12,95 Euro
Ein Dokument der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem
Tod des Lebensmenschen Ernst Jandl.
Friederike Mayröcker: „da ich morgens und moosgrün. Ans
Fenster trete“, Suhrkamp, 201 Seiten, 24,95 Euro
Mayröckers letztes Buch zeigt ihre bis zuletzt ungebrochene
literarische Kreativität.
Angela Winkler: „Über Friederike Mayröcker“, Mandelbaum, 60
Seiten, 12 Euro
Die oberösterreichische Autorin schreibt über ihren Zugang
zu Mayröckers Poesie.
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