Sonntag, 22. Dezember 2024

Kulturbrief 23: Friederike Mayröcker zum 100. Geburtstag

Geschüttelter Liebling, goldgelbes Kissenherz

Unter diesem Titel erschien meine Würdigung Friederike Mayröckers zum 100. Geburtstag (Oberösterreichische Nachrichten, 20. Dezember 24)

Wenn man die Autorenbiographie von Friederike Mayröcker nachzeichnet, erzählt man zwangsläufig österreichische Literaturgeschichte. Das allein unterstreicht die Bedeutung dieser außergewöhnlichen Künstlerin. Mayröckers erstes Gedicht erschien 1946 in der Literaturzeitschrift „Plan“, die vor allem avantgardistische Literatur veröffentlichte. Bald fand die junge Autorin Zugang zur Wiener Literaturszene der Fünfziger Jahre, lernte den damals einflussreichen Hans Weigel kennen und die Autoren der legendären „Wiener Gruppe“ um H.C. Artmann und Gerhard Rühm.

Lebensbestimmend wurde die Begegnung mit Ernst Jandl. Ihn und Friederike Mayröcker verband nicht nur eine dauerhafte Liebesbeziehung, sondern auch eine intensive künstlerische Partnerschaft. Das ist insofern bemerkenswert, als ihre literarischen Wege nicht in dieselbe Richtung führten. Jandl wurde in den Sechzigerjahren mit seinem Lyrikband „Laut und Luise“ bekannt. Lautgedichte aus dieser Sammlung (u.a. „wien:heldenplatz“, „schtzngrmm“) sind zu Klassikern der Moderne geworden. Jandl verweigerte in seiner Lyrik traditionelle Vorstellungen wie Gefühlsausdruck, Stimmung und rhetorische Schönheit. Die Sprache, auch die lyrische, war ihm das Material, mit dem er einfallsreich und wirkungsvoll experimentierte.

Der Traditionsbruch, die Verweigerung der sprachlichen Konvention, kennzeichnete auch Mayröckers Schreibens. Aber schon ihre Texte aus den Siebziger- und Achtzigerjahren (u.a „je ein umwölkter gipfel“, „Reise durch die Nacht“) zeigten, dass ihr Schreibverfahren nicht das Experiment mit dem „Sprachmaterial“ war, sondern die radikale poetische Kunst, für unterschiedlichste Wahrnehmungen der äußeren und inneren Welt die Grenze des Sagbaren zu erweitern.

Leben und Schreiben wurden für Friederike Mayröcker zur spannungsreichen Einheit. Manisch füllte sie Seite um Seite, immer auf der Suche nach der subjektiv gültigen Sprache und nie ganz zufrieden. Rund 120 Bücher hat sie im Laufe ihres langen Lebens veröffentlicht, Prosa, Lyrik, Hörspiele; und die Fotos ihrer Wiener Wohnung in der Zentagassse, einer Art Schreibhöhle, sind berühmt geworden: Berge mit Büchern, Manuskripten, Notizen, Zeichnungen. Ihr Nachlass, aufbewahrt im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, umfasst 450 große Kartons.

Ernst Jandls Tod traf Friederike Mayröcker als harte Zäsur. Die Motive Verlust, Trauer, Tod bestimmten ihre nach 2000 entstandenen Bücher (u.a. „Und ich schüttelte einen Liebling“). Aber ihre bewundernswerte kreative Kraft verließ sie bis zuletzt nicht. Mayröckers letztes Buch „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ erschien 2020, ein Jahr vor ihrem Tod.

Es wäre einfacher, die Literaturpreise aufzuzählen, die Friederike Mayröcker nicht erhalten hat. Der Respekt der Literaturkritik war groß, vergleichsweise klein blieb aber ihre Lesergemeinde. Mayröcker macht es uns nicht leicht. Ihre Chiffren sind rätselhaft. In ihrer Prosa verweigert sie Handlungsstränge, und kaum hat eine Figur Gestalt angenommen, löst sie sich im Imaginären auf. Aber größer als die Ratlosigkeit, die diese hermetischen Texte oft auslösen, ist die Faszination, die von ihnen ausgeht. Sie erreicht auch jüngere Autorinnen. Frieda Paris‘ Lyrikband „Nachwasser“, ausgezeichnet mit dem österreichischen Buchpreis für das beste Debüt 2024, wurde von Mayröckers „Zetteluniversum“ angeregt, und Andrea Winkler widmete der Sprachkünstlerin einen erhellenden Essay.

Lektüretipp:

 Friederike Mayröcker/Nicolas Mahler: „Larifari. Ein konfuses Buch“. Insel, 95 Seiten, 16 Euro

Friederike Mayröckers literarisches Debüt (1956) in der originellen Bearbeitung des Comiczeichners Nicolas Mahler.

Friederike Mayröcker: „Gesammelte Gedichte 2004-2021“, Suhrkamp, 560 Seiten, 40,50 Euro

Für ambitionierte Lyrikfreunde: Mayröckers gesamtes lyrisches Spätwerk

Friederike Mayröcker: „Und ich schüttelte einen Liebling“, Suhrkamp TB, 237 Seiten, 12,95 Euro

Ein Dokument der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Tod des Lebensmenschen Ernst Jandl.

Friederike Mayröcker: „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“, Suhrkamp, 201 Seiten, 24,95 Euro

Mayröckers letztes Buch zeigt ihre bis zuletzt ungebrochene literarische Kreativität.

Angela Winkler: „Über Friederike Mayröcker“, Mandelbaum, 60 Seiten, 12 Euro

Die oberösterreichische Autorin schreibt über ihren Zugang zu Mayröckers Poesie.

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