Donnerstag, 13. März 2025

Kulturbrief 25: Peter Sloterdijk denkt über Europa nach

 Die Bücher von Peter Sloterdijk finde ich immer wieder anregend, so auch sein jüngstes. Worum es da geht und was ich daran gut finde, konnte man am 1. März in den OÖN lesen.

Peter Sloterdijk hat sein jüngstes Buch dem Großthema Europa in Geschichte und Gegenwart gewidmet, und man fragt sich, ob sich das auf knapp 300 Seiten ausgehen kann. Es ist nicht leicht, aber Sloterdijk schafft es, indem er Europa selbst mit einem dicken Buch vergleicht, in das er – natürlich an wohlüberlegten Stellen – das eine oder andere Lesezeichen einlegt.

Aufgrund seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit mag Europa wie ein „Kontinent ohne Eigenschaften“ erscheinen, ein unbestrittenes Erkennungsmerkmal ist aber die „Latinität“, die folgenreiche Herkunft aus dem Imperium Romanum. Jahrhundertelang griffen Herrschende auf Roms machtpolitische Inszenierungsformen zurück. Das gilt für Päpste ebenso wie für die deutschen Könige, die den römischen Kaisertitel immerhin bis 1806 trugen, wenn auch nur mehr symbolisch.

Aber auch der Mann, der das morsch gewordene „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ endgültig zum Einsturz brachte, bediente sich an dessen imperialer Symbolik. Napoleons ideologische Heimat mochte ursprünglich die Französische Revolution gewesen sein, als er sich mit einem goldenen Lorbeerkranz zum Kaiser der Franzosen krönte, triumphierte wieder einmal der altrömische Gestus. Von Imitaten imperialer römischer Inszenierungsformen wimmelt es auch in den nationalstaatlichen Machtkämpfen des 19. Jahrhunderts, die beim Wettlauf um außereuropäische Kolonien letztlich im Ersten Weltkrieg ankamen.

Europa als Lernprozess

Breiten Raum widmet Peter Sloterdijk dem europäischen Kolonialismus, der mit der Erweiterung nautischer Fertigkeiten einsetzte. Imperialer Wille und simple materielle Gier gingen mit der christlichen Missionsideologie eine unheilige Allianz ein. Manche Welteroberer bemühten sich gar nicht, ihre Raubüberfälle humanistisch zu verbrämen, andere inszenierten sich aber als Erlöser, die arme Heidenseelen der Hölle entrissen, oder als Zivilisationsvermittler, die in den Kolonien für ein höheres irdisches Niveau sorgen wollten.

Es wäre freilich eine Überraschung, würde Peter Sloterdijk ohne jedes Störgeräusch in die Selbstanklage postkolonialistischer Europakritik einstimmen. Er schaut auch auf die Haben-Seite der europäischen Geschichte, die er als jahrhundertelangen Lernprozess darstellt. Das europäische Geistesleben, das immer wieder auf seine Anfänge in der Antike zurückgriff, brachte nicht nur eine beeindruckende kulturelle Vielfalt und das Ideal der Menschenwürde hervor, es bezog aus der Kraft des Lernens und Verbesserns auch seine politischen Freiheits- und Friedenskonzepte. Mit der EU wurde erstmals ein großes politisches Gebilde geschaffen, das auf pompöse imperiale Inszenierungen verzichtet, sowohl auf kolonialistische Raumeroberung wie auch auf Tyrannei nach innen.

Dekadenz des Westens?

Gerade dieses postimperiale Europa sieht sich aber mit Herausforderungen konfrontiert, die auch als Folge der eigenen Machtreduktion interpretiert werden können. Das moderne China hat den Westen ökonomisch und technologisch kopiert, demokratiepolitisch allerdings nicht, und nicht nur in Taiwan kennt man China als Meister imperialer Gesten. Umgekehrt droht Donald „America first“ Trump militärische Interventionen in Grönland an, und Wladimir Putin bedient sich an panslawistischen Ideologien, die seit dem 19.Jh. Russlands sittliche Überlegenheit über den verwahrlosten, dekadenten Westen glorifizieren. Wie sich diese sittliche Überlegenheit in der Praxis auswirken kann, erfährt derzeit die Ukraine.

Peter Sloterdijk: „Der Kontinent ohne Eigenschaften. Lesezeichen im Buch Europa“, Suhrkamp, 296 Seiten, 28,80 Euro

Samstag, 22. Februar 2025

Kulturbrief 24: Warum ich "Die Verdorbenen" gut finde!

Über Michael Köhlmeiers neuen Kurzroman "Die Verdorbenen" ist sich die literaturkritische Szene nicht einige. Warum ich das Buch gut finde, habe ich in den OÖN (29.1.25) erklärt:

Michael Köhlmeier kennt die soziale Welt, in der er die Figuren seines neuen Romans „Die Verdorbenen“ durch ihr Leben stolpern lässt: Marburgs progressive Studentenszene der Siebzigerjahre. In den Hörsälen verkünden marxistische Visionäre selbstbewusst eine klassenlose Zukunft. Aber hinter den rhetorischen Fassaden schleudert es eine orientierungslose Generation durch ein gespenstisch freies Alltagsleben.

Johann, der Ich-Erzähler, Student der Germanistik und „wissenschaftlichen Politik“, stammt aus Vorarlberg, aus bürgerlichem, geistig anregendem Elternhaus. In den zeitgeistigen Kommunikationsräumen der Universität findet er sich ganz gut zurecht, in den Dingen des Geschlechtslebens ist er allerdings ein Spätentwickler – trotz oder wegen der Libertinage seines Milieus?

Johanns Entwicklungsschub wird von außen angestoßen. Die etwas jüngere Studentin Christiane teilt ihrem Tutor „Gianni“ verblüffend direkt mit, dass sie bei ihm einziehen wird, weil sie ihn liebt. Der Überraschungseffekt ist stark, zumal Christiane dafür ihren Freund Tommi verlässt, der seine Misere wie ein begossener Pudel beklagt, aber akzeptiert.

Einigermaßen befremdlich erscheint die langjährige Liebesbeziehung von Tommi und Christiane, die im Kindergarten begonnen hat. Die kindlichen Doktor-Spiele dürften in kaum durchschaubaren Folgeschritten in Erwachsenen-Sex übergegangen sein. Dass Christiane diese amouröse Seltsamkeit beenden will, wirkt plausibel, alles andere aber nicht. Tommi erduldet jede Demütigung im Austausch dafür, dass er in Christianes Nähe geduldet wird. So behauptet er sich als weinerlich-leidende, aber hartnäckige Klette, und die Folge ist eine bizarre Amour fou zu dritt.

Johann, Christiane und Tommi sind Menschen, die zwar volljährig, aber im Erwachsenenalter nicht angekommen sind. Eine tiefe Verwirrung der Gefühle beherrscht ihr Verhalten. Sei erproben Erwachsenenrollen, indem sie Musterbilder aus Literatur und Film nachahmen. Ihre Freiheit können sie nicht nützen, um glückliche Entscheidungen zu treffen, und was sie einander antun, wissen sie nicht. „Unschuldige Verdorbenheit“ ist in ihrem Fall ein treffendes Paradoxon.

Einerseits verwundert es nicht, dass unter solchen Bedingungen schlimme Dinge passieren, andererseits erscheint es aussichtslos, dafür eindeutige Ursache-Wirkung-Zusammenhänge zu erkennen und Schuldfragen zu klären. Das Absurde in bester existenzialistischer Tradition feiert hier seine überzeugende Renaissance. Was ist es, das den Menschen zum Bösen treibt? Unglückliche Dispositionen, Erlebnisse (vielleicht sogar unauffällige), oder einfach nur ein wirkungsmächtiges Wort, das am falschen Ort zur falschen Zeit ausgesprochen wurde? Michael Köhlmeier stellt unangenehme Fragen von anthropologischer Tragweite und verweigert beruhigende Antworten. Dass ihm dies auf gut 150 Seiten in dramatischer Verdichtung gelingt, beweist wieder einmal die Meisterschaft dieses großen Erzählers.

Michael Köhlmeier: „Die Verdorbenen“, Roman, Hanser, 158 Seiten, 24,50 Euro