Die Bücher von Peter Sloterdijk finde ich immer wieder anregend, so auch sein jüngstes. Worum es da geht und was ich daran gut finde, konnte man am 1. März in den OÖN lesen.
Peter Sloterdijk hat sein jüngstes Buch dem Großthema Europa
in Geschichte und Gegenwart gewidmet, und man fragt sich, ob sich das auf knapp
300 Seiten ausgehen kann. Es ist nicht leicht, aber Sloterdijk schafft es,
indem er Europa selbst mit einem dicken Buch vergleicht, in das er – natürlich
an wohlüberlegten Stellen – das eine oder andere Lesezeichen einlegt.
Aufgrund seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit mag Europa
wie ein „Kontinent ohne Eigenschaften“ erscheinen, ein unbestrittenes
Erkennungsmerkmal ist aber die „Latinität“, die folgenreiche Herkunft aus dem
Imperium Romanum. Jahrhundertelang griffen Herrschende auf Roms machtpolitische
Inszenierungsformen zurück. Das gilt für Päpste ebenso wie für die deutschen
Könige, die den römischen Kaisertitel immerhin bis 1806 trugen, wenn auch nur
mehr symbolisch.
Aber auch der Mann, der das morsch gewordene „Heilige Römische
Reich deutscher Nation“ endgültig zum Einsturz brachte, bediente sich an dessen
imperialer Symbolik. Napoleons ideologische Heimat mochte ursprünglich die
Französische Revolution gewesen sein, als er sich mit einem goldenen Lorbeerkranz
zum Kaiser der Franzosen krönte, triumphierte wieder einmal der altrömische
Gestus. Von Imitaten imperialer römischer Inszenierungsformen wimmelt es auch in
den nationalstaatlichen Machtkämpfen des 19. Jahrhunderts, die beim Wettlauf um
außereuropäische Kolonien letztlich im Ersten Weltkrieg ankamen.
Europa als Lernprozess
Breiten Raum widmet Peter Sloterdijk dem europäischen
Kolonialismus, der mit der Erweiterung nautischer Fertigkeiten einsetzte. Imperialer
Wille und simple materielle Gier gingen mit der christlichen Missionsideologie
eine unheilige Allianz ein. Manche Welteroberer bemühten sich gar nicht, ihre
Raubüberfälle humanistisch zu verbrämen, andere inszenierten sich aber als Erlöser,
die arme Heidenseelen der Hölle entrissen, oder als Zivilisationsvermittler,
die in den Kolonien für ein höheres irdisches Niveau sorgen wollten.
Es wäre freilich eine Überraschung, würde Peter Sloterdijk ohne
jedes Störgeräusch in die Selbstanklage postkolonialistischer Europakritik einstimmen.
Er schaut auch auf die Haben-Seite der europäischen Geschichte, die er als jahrhundertelangen
Lernprozess darstellt. Das europäische Geistesleben, das immer wieder auf seine
Anfänge in der Antike zurückgriff, brachte nicht nur eine beeindruckende
kulturelle Vielfalt und das Ideal der Menschenwürde hervor, es bezog aus der
Kraft des Lernens und Verbesserns auch seine politischen Freiheits- und
Friedenskonzepte. Mit der EU wurde erstmals ein großes politisches Gebilde
geschaffen, das auf pompöse imperiale Inszenierungen verzichtet, sowohl auf
kolonialistische Raumeroberung wie auch auf Tyrannei nach innen.
Dekadenz des Westens?
Gerade dieses postimperiale Europa sieht sich aber mit
Herausforderungen konfrontiert, die auch als Folge der eigenen Machtreduktion interpretiert
werden können. Das moderne China hat den Westen ökonomisch und technologisch
kopiert, demokratiepolitisch allerdings nicht, und nicht nur in Taiwan kennt
man China als Meister imperialer Gesten. Umgekehrt droht Donald „America first“
Trump militärische Interventionen in Grönland an, und Wladimir Putin bedient
sich an panslawistischen Ideologien, die seit dem 19.Jh. Russlands sittliche
Überlegenheit über den verwahrlosten, dekadenten Westen glorifizieren. Wie sich
diese sittliche Überlegenheit in der Praxis auswirken kann, erfährt derzeit die
Ukraine.
Peter Sloterdijk: „Der Kontinent ohne Eigenschaften.
Lesezeichen im Buch Europa“, Suhrkamp, 296 Seiten, 28,80 Euro