Dienstag, 17. Juni 2025

Kulturbrief 28: Linzer Theaternotizen Juni 2025

 Am Samstag haben meine Frau und ich Rossinis Guillaume Tell im Linzer Musiktheater gehört und gesehen. Musikalisch war es wunderbar, Georg Schmiedleitners Inszenierung ist  – naja… Von wie ferne kann man Modernisierungseinfälle eigentlich herholen? Um den Transhumanismus an Habsburgs Hausmachtspolitik und die Tell-Sage heranzuziehen, braucht es verdammt lange Greifarme. Wenn ich um drei bis vier Ecken denke, dann geht das wahrscheinlich so: Die Habsburger haben in der Schweiz imperiale Hausmachtpolitik betrieben. Heute liebäugeln Tech-Milliardäre mit Weltherrschaftsideen. Die Tech-Industrie hat teilweise etwas mit Transhumanismus zu tun. Also besteht eine klitzekleine gedankliche Schnittmenge zwischen Transhumanismus und den Habsburgern. Ein bisserl arg krampfig, dieses „Konstrukt“. Da gäbe es überzeugendere Aktualisierungskonzepte. Dass Schmiedleitner bei den Schweizern das Naturbelassene, Archaische unterstreicht, passt aber gut. Und die seltsamen Laborgestalten, die Habsburgs Truppen ersetzen, wirken zwar, als hätten sie sich aus einer anderen Inszenierung hierher verirrt, sie stören aber nur gelegentlich das Bühnengeschehen.

Mit Interesse habe ich auch den Konflikt um die Linzer Inszenierung von Yasmina Rezas Komödie "James Brown trug Lockenwickler" verfolgt. Dazu erschien ein Leserbrief von mir in den OÖN:

Yasmina Rezas Intervention gegen die Freiheiten, die sich Fanny Brunner bei der Inszenierung von „James Brown trug Lockenwickler“ nahm, will Intendant Hermann Schneider zum Anlass nehmen, am Linzer Landestheater grundsätzlich über das Thema „Werktreue“ zu diskutieren. Dazu kann ich ihm nur gratulieren, denn gegen Ende der Saison 24/25 blicken wir auf einige diskussionswürdige Fälle zurück, unter anderem auf die Demontage der Oper „Die gerissene Füchsin“ durch den Regisseur Peter Konwitschny, der nichts mit böhmischen Wäldern und Fabelfiguren anfangen konnte. Macht ja nichts, aber man könnte die Sache Berufeneren überlassen.

Diskussionen über „Werktreue“ sind wünschenswert. Zu hoffen ist allerdings, dass sie nicht frühzeitig in der unergiebigen, weil falschen Kampfschablone „Werktreue gegen Regietheater“ steckenbleiben. Denn grundsätzlich ist natürlich jede Bühnenrealisierung eines Texts (ob mit oder ohne Musik) ein kreativer inszenatorischer Akt, folglich „Regietheater“. Die einzig richtige, der Uraufführung nachgestellte „Originalversion“ gibt es nicht. Glücklicherweise, denn sonst würden wir bei Klassiker-Inszenierungen jahrhundertelang dieselbe Inszenierung sehen.

Allerdings ist es eine Sache, ältere Bühnenwerke für unsere Zeit anschaulich zu machen, eine andere ist es, ihren ästhetischen „Eigensinn“, ihre Aussage- und Wirkungsabsicht hemmungslos zu ignorieren und über alles und jedes ideologische und ästhetische Präferenzen von heute zu stülpen (von Postkolonialismus über Gender bis LGBTIQ+). Lebende Künstlerinnen wie Yasmina Reza können sich gegen allzu selbstherrliche Willküraktionen im Umgang mit ihren Texten wehren, tote leider nicht mehr. Das erste Gebot für jeden Regisseur/jede Regisseurin sollte sein: Nimm dich nicht selbst wichtiger als das Werk, das man dir anvertraut hat.

Donnerstag, 22. Mai 2025

Kulturbrief 27: Eine kleine Rede für Europa

Meine Heimatgemeinde Gallneukirchen feierte am 9.Mai ein Fest für Europa. Besonders erfreulich war, dass es von den vier Europa-Gemeinderäten (SPÖ, ÖVP, Grüne, FPÖ) gemeinsam gestaltet und verantwortet wurde. Ich nahm die Einladung, eine Festrede zu halten, gerne an.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Heute vor 75 Jahren, am 9. Mai 1950, schlug der französische Außenminister Robert Schuman vor, eine europäische Gemeinschaft zu gründen, deren Mitglieder ihre Kohle- und Stahlproduktion zusammenlegen sollten. Warum und wozu? Schumann war einer jener Politiker, die aus der Geschichte gelernt hatten, insbesondere aus der des Zweiten Weltkriegs. Fanatischer Nationalismus und imperialer Größenwahnsinn hatten Europa in eine Katastrophe geführt.

Schumanns kluge Überlegung erwies sich als haltbar. Durch die Zusammenlegung der wirtschaftlichen Produktion im Bergbau und in der Schwerindustrie wurde ein weiterer europäischer Krieg, vor allem zwischen den traditionellen Erzfeinden Frankreich und Deutschland, aus rein materiellen Gründen so gut wie unmöglich. Die EGKS mit ihren sechs Gründungsmitgliedern war die erste supranationale europäische Institution. Ihr sollten bald andere folgen, denn man erkannte, dass europäische Zusammenarbeit nicht nur den Frieden sicherte, sondern auch wirtschaftliche Erfolge ermöglichte.

Die 70-jährige Erfolgsgeschichte der Europäischen Union möchte ich am Beispiel einiger markanter Ereignisse würdigen.

·         Im November 1950 einigten sich die Mitglieder des Europarats auf die „Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ als einem völkerrechtlichen Vertrag.

·         Am 19. März 1958 trat in Straßburg zum ersten Mal die „Europäische Parlamentarische Versammlung“ zusammen. Dies gilt als Geburtsstunde des Europäischen Parlaments.

·         In den sechziger Jahren einigten sich die damaligen Mitgliedsländer auf eine gemeinsame Agrarpolitik, internationale Handelsabkommen wurden geschlossen und interne Zollschranken abgebaut.

·         Die ökonomischen Erfolge der damaligen EWG zogen in den Siebzigerjahren neue Mitgliedsländer an: Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich (Jänner 1973). Griechenland, Spanien und Portugal folgen in den Achtzigerjahren.

·         Und 1989 passiert etwas, das auch geeichte Politikexperten überrascht. In Russland und in den osteuropäischen Ländern bricht der Kommunismus zusammen. Dieses Jahrhundertereignis bringt eine Bewegung in die europäische Politik, in deren Sog auch Österreich gerät. Gemeinsam mit Schweden und Finnland tritt Österreich am 1. Jänner 1995 der Europäischen Union bei. Nie habe ich das Denken und Reden über Europa optimistischer erlebt als in den späten neunziger Jahren. Auch die Einführung des Euro 2002 fand noch vorwiegend positive Resonanz.

Warum ist es seither schwieriger geworden? Warum ist die Zustimmung zum gemeinsamen Europa gesunken, nicht nur bei uns in Österreich?

·         Erstes Stichwort EU-Erweiterung: Seit 2004 kamen elf mittel- und osteuropäische Länder zur EU (Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kroatien). Das Erfreuliche daran: die Spaltung Europas in Ost und West scheint damit überwunden zu sein. Das Schwierige: Hier müssen unterschiedliche politische Kulturen und unterschiedliche ökonomische Strukturen erst einmal zueinanderfinden. Die Entscheidungsfindung in der Kommission und im Rat wird schwieriger. Der Aufwand an Bürokratie wirkt bisweilen umständlich, bevormundend und zu teuer.

·         Zweites Stichwort: Die Finanzkrise von 2008, mit deren drastischen Folgen auch Europa jahrelang zu kämpfen hatte.

·         Drittes Stichwort: Migration. Im Jahr 2015 suchten mehr als eine Million Asylbewerber in Europa Zuflucht– mit allen bekannten Folgen und Herausforderungen. 2016 kam es nicht zuletzt deshalb zum Brexit, das Vereinigte Königreich erklärte seinen Austritt aus der EU und vollzog ihn vier Jahre später.

·         Viertes Stichwort: die Auswirkungen des Klimawandels. Darauf reagierte die EU 2019 mit einer Richtungsänderung in der Wachstumsstrategie, dem „Green Deal“ – sein Ziel: Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Eine Strategie, die nicht nur Zustimmung gefunden hat.

·         Am Beginn unseres Jahrzehnts machte uns die Corona-Pandemie große Sorgen, und seit mehr als drei Jahren müssen wir erleben, was die Gründergeneration der EU unbedingt verhindern wollte: In Europa wird wieder Krieg geführt. – Und wenn wir von Schwierigkeiten sprechen, dann können wir derzeit von gewissen US-amerikanischen Kuriositäten und ihren Auswirkungen auf die EU nicht schweigen.

Meine Damen und Herren, unser Leben im gemeinsamen Europa ist nicht einfacher geworden. Das sollte uns aber nicht dazu verführen, der europäischen Idee resignativ oder gar unversöhnlich den Rücken zuzukehren. Ein Zerfall der EU, ein Zurück zu nationalstaatlicher Eigenbrötelei wäre in unserer global vernetzten Welt kein tragfähiges Zukunftskonzept; weder ökonomisch, noch demokratiepolitisch, noch kulturell.

Ja, es gibt Probleme, und ja, die Meinungen, wie diese Probleme gelöst werden könnten, die gehen auseinander, zum Teil weit auseinander. Das ist aber normal in Demokratien. Sorgen wir dafür, dass diese unterschiedlichen Meinungen frei ausgesprochen, gehört und diskutiert werden; aber bitte nicht in geifernder Gehässigkeit, nicht in selbstherrlicher Überheblichkeit, sondern im Rahmen einer fairen, respektvollen Gesprächskultur unter erwachsenen Menschen – und mit dem Ziel, das gemeinsame Europa durch Kritik zu verbessern, nicht mit dem Ziel, es durch Dauerdiffamierung zu zerstören. Last but not least: Achten wir darauf, dass wir das politische System kultivieren (d.h. erhalten, pflegen, verbessern), das immer noch den besten Rahmen für politische Problemlösungen bietet: den Rechtsstaat und die parlamentarische Demokratie.


Samstag, 12. April 2025

Kulturbrief 26: Über Anna Weidenholzers neueste Kurzprosa

Ich mag Kurzgeschichten und kürzere Erzählungen, die künstlerische Idee mit handwerklicher Präzision verbinden. Wirkliche Meisterwerke dieser Art sind selten. Anna Weidenholzers neueste Prosa gehört für mich dazu! Dazu meine OÖN-Rezension:

Peter Bichsel, der Meister subtiler Kurzprosa, ist kürzlich knapp vor seinem neunzigsten Geburtstag gestorben. Aber sein literarisches Erbe lebt. Anna Weidenholzer setzt es fort, nicht im Sinne von Epigonentum, sondern als kreative, originelle Weiterentwicklung einer großen Tradition. In ihrem neuen Buch „Hier treibt mein Kartoffelherz“ bündelt die Autorin 26 Erzähltexte zu vier Blöcken, die den Jahreszeiten entsprechen. Es gibt aber auch andere Zusammenhänge, zum Beispiel Handlungsräume: ein Dorf in den Bergen, ein öffentliches Freibad. Auch Titel und daran gebundene Motive kehren mehrmals wieder: „Möglichkeiten der Zeitgestaltung“, „Formen der Kontaktaufnahme“.

Anna Weidenholzer erzählt Alltagsgeschichten der besonderen Art. Jedes Jahr, pünktlich am 21. Oktober, kommt ein Pensionsgast ins Gebirgstal, den die ehemalige Pensionswirtin den „Flachländer“ nennt. Es scheint ihm wichtig zu sein, dass nichts, aber auch gar nichts in seinem Zimmer Nr.6 verändert wird. Hat er einen Tic? Und wenn ja, ist er harmlos? Eines Tages kommt es zu Meinungsverschiedenheiten über den „richtigen“ Standort eines ausgestopften Eichhörnchens – und der Fachländer kommt nie mehr wieder.

Rätselhaft verhält sich auch die „Frau Künstlerin“, die nach einem längeren, durch ein Stipendium finanzierten Aufenthalt unfähig ist, ihr Zimmer für den nächsten Gast freizugeben. Und was treibt die Frau Magister an, die davon überzeugt ist, dass es ein grobes Versäumnis ist, den Gästen eines Freibads das Pflanzjahr der Bäume vorzuenthalten?

Jeder Mensch hat seine irrationalen Seiten. Das macht einerseits das Leben unserer Spezies abwechslungsreicher, bisweilen auch lustiger, andererseits ist die Grenzregion zwischen bloßer Skurrilität und problematischer Unheimlichkeit schmal. In diesen mehrdeutigen Zwischenräumen siedelt Anna Weidenholzer ihre Prosatexte an. Das Absurde bricht nahezu geräuschlos in den vermeintlich „normalen“ Alltag ein.

„An und für sich war es kein außergewöhnlicher Tag“. Mag schon sein, es könnte aber einer werden. Zum Beispiel dann, wenn Milan seine ehemalige Klavierlehrerin in ihrem Seniorenwohnheim besucht. „Die Gruber“ hat im Alter das Bedürfnis entwickelt, ihre Mitbewohner durch geschmacklose Scherzartikel zu erschrecken. Könnte sie dabei zu weit gegangen sein?

Der Prosaband „Hier treibt mein Kartoffelherz“ umfasst bescheidene 155 Seiten, die Leserinnen und Leser sollten sich aber viel Zeit für diese Kurz- und Kürzestgeschichten, Momentaufnahmen und Prosaminiaturen nehmen. Nur bei konzentrierter Lektüre entfalten sich der stilistische Reichtum, der feine Humor und die subtile Zeichendichte zu voller Wirkung. Es gibt viele gelungene Bücher in der Gegenwartsliteratur. Den Ehrentitel „Sprachkunstwerk“ verdienen trotzdem nicht alle. „Hier treibt mein Kartoffelherz“ gehört sicher dazu.

Anna Weidenholzer: „Hier treibt mein Kartoffelherz“, Matthes & Seitz, 155 Seiten, 23,50 Euro

Donnerstag, 13. März 2025

Kulturbrief 25: Peter Sloterdijk denkt über Europa nach

 Die Bücher von Peter Sloterdijk finde ich immer wieder anregend, so auch sein jüngstes. Worum es da geht und was ich daran gut finde, konnte man am 1. März in den OÖN lesen.

Peter Sloterdijk hat sein jüngstes Buch dem Großthema Europa in Geschichte und Gegenwart gewidmet, und man fragt sich, ob sich das auf knapp 300 Seiten ausgehen kann. Es ist nicht leicht, aber Sloterdijk schafft es, indem er Europa selbst mit einem dicken Buch vergleicht, in das er – natürlich an wohlüberlegten Stellen – das eine oder andere Lesezeichen einlegt.

Aufgrund seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit mag Europa wie ein „Kontinent ohne Eigenschaften“ erscheinen, ein unbestrittenes Erkennungsmerkmal ist aber die „Latinität“, die folgenreiche Herkunft aus dem Imperium Romanum. Jahrhundertelang griffen Herrschende auf Roms machtpolitische Inszenierungsformen zurück. Das gilt für Päpste ebenso wie für die deutschen Könige, die den römischen Kaisertitel immerhin bis 1806 trugen, wenn auch nur mehr symbolisch.

Aber auch der Mann, der das morsch gewordene „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ endgültig zum Einsturz brachte, bediente sich an dessen imperialer Symbolik. Napoleons ideologische Heimat mochte ursprünglich die Französische Revolution gewesen sein, als er sich mit einem goldenen Lorbeerkranz zum Kaiser der Franzosen krönte, triumphierte wieder einmal der altrömische Gestus. Von Imitaten imperialer römischer Inszenierungsformen wimmelt es auch in den nationalstaatlichen Machtkämpfen des 19. Jahrhunderts, die beim Wettlauf um außereuropäische Kolonien letztlich im Ersten Weltkrieg ankamen.

Europa als Lernprozess

Breiten Raum widmet Peter Sloterdijk dem europäischen Kolonialismus, der mit der Erweiterung nautischer Fertigkeiten einsetzte. Imperialer Wille und simple materielle Gier gingen mit der christlichen Missionsideologie eine unheilige Allianz ein. Manche Welteroberer bemühten sich gar nicht, ihre Raubüberfälle humanistisch zu verbrämen, andere inszenierten sich aber als Erlöser, die arme Heidenseelen der Hölle entrissen, oder als Zivilisationsvermittler, die in den Kolonien für ein höheres irdisches Niveau sorgen wollten.

Es wäre freilich eine Überraschung, würde Peter Sloterdijk ohne jedes Störgeräusch in die Selbstanklage postkolonialistischer Europakritik einstimmen. Er schaut auch auf die Haben-Seite der europäischen Geschichte, die er als jahrhundertelangen Lernprozess darstellt. Das europäische Geistesleben, das immer wieder auf seine Anfänge in der Antike zurückgriff, brachte nicht nur eine beeindruckende kulturelle Vielfalt und das Ideal der Menschenwürde hervor, es bezog aus der Kraft des Lernens und Verbesserns auch seine politischen Freiheits- und Friedenskonzepte. Mit der EU wurde erstmals ein großes politisches Gebilde geschaffen, das auf pompöse imperiale Inszenierungen verzichtet, sowohl auf kolonialistische Raumeroberung wie auch auf Tyrannei nach innen.

Dekadenz des Westens?

Gerade dieses postimperiale Europa sieht sich aber mit Herausforderungen konfrontiert, die auch als Folge der eigenen Machtreduktion interpretiert werden können. Das moderne China hat den Westen ökonomisch und technologisch kopiert, demokratiepolitisch allerdings nicht, und nicht nur in Taiwan kennt man China als Meister imperialer Gesten. Umgekehrt droht Donald „America first“ Trump militärische Interventionen in Grönland an, und Wladimir Putin bedient sich an panslawistischen Ideologien, die seit dem 19.Jh. Russlands sittliche Überlegenheit über den verwahrlosten, dekadenten Westen glorifizieren. Wie sich diese sittliche Überlegenheit in der Praxis auswirken kann, erfährt derzeit die Ukraine.

Peter Sloterdijk: „Der Kontinent ohne Eigenschaften. Lesezeichen im Buch Europa“, Suhrkamp, 296 Seiten, 28,80 Euro

Samstag, 22. Februar 2025

Kulturbrief 24: Warum ich "Die Verdorbenen" gut finde!

Über Michael Köhlmeiers neuen Kurzroman "Die Verdorbenen" ist sich die literaturkritische Szene nicht einige. Warum ich das Buch gut finde, habe ich in den OÖN (29.1.25) erklärt:

Michael Köhlmeier kennt die soziale Welt, in der er die Figuren seines neuen Romans „Die Verdorbenen“ durch ihr Leben stolpern lässt: Marburgs progressive Studentenszene der Siebzigerjahre. In den Hörsälen verkünden marxistische Visionäre selbstbewusst eine klassenlose Zukunft. Aber hinter den rhetorischen Fassaden schleudert es eine orientierungslose Generation durch ein gespenstisch freies Alltagsleben.

Johann, der Ich-Erzähler, Student der Germanistik und „wissenschaftlichen Politik“, stammt aus Vorarlberg, aus bürgerlichem, geistig anregendem Elternhaus. In den zeitgeistigen Kommunikationsräumen der Universität findet er sich ganz gut zurecht, in den Dingen des Geschlechtslebens ist er allerdings ein Spätentwickler – trotz oder wegen der Libertinage seines Milieus?

Johanns Entwicklungsschub wird von außen angestoßen. Die etwas jüngere Studentin Christiane teilt ihrem Tutor „Gianni“ verblüffend direkt mit, dass sie bei ihm einziehen wird, weil sie ihn liebt. Der Überraschungseffekt ist stark, zumal Christiane dafür ihren Freund Tommi verlässt, der seine Misere wie ein begossener Pudel beklagt, aber akzeptiert.

Einigermaßen befremdlich erscheint die langjährige Liebesbeziehung von Tommi und Christiane, die im Kindergarten begonnen hat. Die kindlichen Doktor-Spiele dürften in kaum durchschaubaren Folgeschritten in Erwachsenen-Sex übergegangen sein. Dass Christiane diese amouröse Seltsamkeit beenden will, wirkt plausibel, alles andere aber nicht. Tommi erduldet jede Demütigung im Austausch dafür, dass er in Christianes Nähe geduldet wird. So behauptet er sich als weinerlich-leidende, aber hartnäckige Klette, und die Folge ist eine bizarre Amour fou zu dritt.

Johann, Christiane und Tommi sind Menschen, die zwar volljährig, aber im Erwachsenenalter nicht angekommen sind. Eine tiefe Verwirrung der Gefühle beherrscht ihr Verhalten. Sei erproben Erwachsenenrollen, indem sie Musterbilder aus Literatur und Film nachahmen. Ihre Freiheit können sie nicht nützen, um glückliche Entscheidungen zu treffen, und was sie einander antun, wissen sie nicht. „Unschuldige Verdorbenheit“ ist in ihrem Fall ein treffendes Paradoxon.

Einerseits verwundert es nicht, dass unter solchen Bedingungen schlimme Dinge passieren, andererseits erscheint es aussichtslos, dafür eindeutige Ursache-Wirkung-Zusammenhänge zu erkennen und Schuldfragen zu klären. Das Absurde in bester existenzialistischer Tradition feiert hier seine überzeugende Renaissance. Was ist es, das den Menschen zum Bösen treibt? Unglückliche Dispositionen, Erlebnisse (vielleicht sogar unauffällige), oder einfach nur ein wirkungsmächtiges Wort, das am falschen Ort zur falschen Zeit ausgesprochen wurde? Michael Köhlmeier stellt unangenehme Fragen von anthropologischer Tragweite und verweigert beruhigende Antworten. Dass ihm dies auf gut 150 Seiten in dramatischer Verdichtung gelingt, beweist wieder einmal die Meisterschaft dieses großen Erzählers.

Michael Köhlmeier: „Die Verdorbenen“, Roman, Hanser, 158 Seiten, 24,50 Euro