Meine Heimatgemeinde Gallneukirchen feierte am 9.Mai ein Fest für Europa. Besonders erfreulich war, dass es von den vier Europa-Gemeinderäten (SPÖ, ÖVP, Grüne, FPÖ) gemeinsam gestaltet und verantwortet wurde. Ich nahm die Einladung, eine Festrede zu halten, gerne an.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Heute vor 75 Jahren, am 9. Mai 1950, schlug der französische
Außenminister Robert Schuman vor, eine europäische Gemeinschaft zu gründen, deren
Mitglieder ihre Kohle- und Stahlproduktion zusammenlegen sollten. Warum und
wozu? Schumann war einer jener Politiker, die aus der Geschichte gelernt
hatten, insbesondere aus der des Zweiten Weltkriegs. Fanatischer Nationalismus
und imperialer Größenwahnsinn hatten Europa in eine Katastrophe geführt.
Schumanns kluge Überlegung erwies sich als haltbar. Durch die
Zusammenlegung der wirtschaftlichen Produktion im Bergbau und in der
Schwerindustrie wurde ein weiterer europäischer Krieg, vor allem zwischen den traditionellen
Erzfeinden Frankreich und Deutschland, aus rein materiellen Gründen so gut wie
unmöglich. Die EGKS mit ihren sechs Gründungsmitgliedern war die erste
supranationale europäische Institution. Ihr sollten bald andere folgen, denn
man erkannte, dass europäische Zusammenarbeit nicht nur den Frieden sicherte,
sondern auch wirtschaftliche Erfolge ermöglichte.
Die 70-jährige Erfolgsgeschichte der Europäischen Union
möchte ich am Beispiel einiger markanter Ereignisse würdigen.
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Im
November 1950 einigten sich die Mitglieder des Europarats auf die „Konvention
zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ als einem völkerrechtlichen
Vertrag.
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Am
19. März 1958 trat in Straßburg zum ersten Mal die „Europäische
Parlamentarische Versammlung“ zusammen. Dies gilt als Geburtsstunde des Europäischen
Parlaments.
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In
den sechziger Jahren einigten sich die damaligen Mitgliedsländer auf eine
gemeinsame Agrarpolitik, internationale Handelsabkommen wurden geschlossen und interne
Zollschranken abgebaut.
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Die
ökonomischen Erfolge der damaligen EWG zogen in den Siebzigerjahren neue
Mitgliedsländer an: Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich (Jänner
1973). Griechenland, Spanien und Portugal folgen in den Achtzigerjahren.
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Und
1989 passiert etwas, das auch geeichte Politikexperten überrascht. In Russland
und in den osteuropäischen Ländern bricht der Kommunismus zusammen. Dieses
Jahrhundertereignis bringt eine Bewegung in die europäische Politik, in deren
Sog auch Österreich gerät. Gemeinsam mit Schweden und Finnland tritt Österreich
am 1. Jänner 1995 der Europäischen Union bei. Nie habe ich das Denken und Reden
über Europa optimistischer erlebt als in den späten neunziger Jahren. Auch die
Einführung des Euro 2002 fand noch vorwiegend positive Resonanz.
Warum ist es seither schwieriger geworden? Warum ist die
Zustimmung zum gemeinsamen Europa gesunken, nicht nur bei uns in Österreich?
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Erstes
Stichwort EU-Erweiterung: Seit 2004 kamen elf mittel- und osteuropäische Länder
zur EU (Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien,
Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kroatien). Das Erfreuliche daran: die Spaltung
Europas in Ost und West scheint damit überwunden zu sein. Das Schwierige: Hier
müssen unterschiedliche politische Kulturen und unterschiedliche ökonomische
Strukturen erst einmal zueinanderfinden. Die Entscheidungsfindung in der
Kommission und im Rat wird schwieriger. Der Aufwand an Bürokratie wirkt bisweilen
umständlich, bevormundend und zu teuer.
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Zweites
Stichwort: Die Finanzkrise von 2008, mit deren drastischen Folgen auch Europa jahrelang
zu kämpfen hatte.
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Drittes
Stichwort: Migration. Im Jahr 2015 suchten mehr als eine Million Asylbewerber in
Europa Zuflucht– mit allen bekannten Folgen und Herausforderungen. 2016 kam es nicht
zuletzt deshalb zum Brexit, das Vereinigte Königreich erklärte seinen Austritt
aus der EU und vollzog ihn vier Jahre später.
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Viertes
Stichwort: die Auswirkungen des Klimawandels. Darauf reagierte die EU 2019 mit
einer Richtungsänderung in der Wachstumsstrategie, dem „Green Deal“ – sein
Ziel: Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Eine Strategie, die nicht nur
Zustimmung gefunden hat.
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Am
Beginn unseres Jahrzehnts machte uns die Corona-Pandemie große Sorgen, und seit
mehr als drei Jahren müssen wir erleben, was die Gründergeneration der EU unbedingt
verhindern wollte: In Europa wird wieder Krieg geführt. – Und wenn wir von Schwierigkeiten
sprechen, dann können wir derzeit von gewissen US-amerikanischen Kuriositäten und
ihren Auswirkungen auf die EU nicht schweigen.
Meine Damen und Herren, unser Leben im gemeinsamen Europa ist
nicht einfacher geworden. Das sollte uns aber nicht dazu verführen, der
europäischen Idee resignativ oder gar unversöhnlich den Rücken zuzukehren. Ein
Zerfall der EU, ein Zurück zu nationalstaatlicher Eigenbrötelei wäre in unserer
global vernetzten Welt kein tragfähiges Zukunftskonzept; weder ökonomisch, noch
demokratiepolitisch, noch kulturell.
Ja, es gibt Probleme, und ja, die Meinungen, wie diese
Probleme gelöst werden könnten, die gehen auseinander, zum Teil weit
auseinander. Das ist aber normal in Demokratien. Sorgen wir dafür, dass diese
unterschiedlichen Meinungen frei ausgesprochen, gehört und diskutiert werden; aber
bitte nicht in geifernder Gehässigkeit, nicht in selbstherrlicher
Überheblichkeit, sondern im Rahmen einer fairen, respektvollen Gesprächskultur
unter erwachsenen Menschen – und mit dem Ziel, das gemeinsame Europa durch
Kritik zu verbessern, nicht mit dem Ziel, es durch Dauerdiffamierung zu
zerstören. Last but not least: Achten wir darauf, dass wir das politische
System kultivieren (d.h. erhalten, pflegen, verbessern), das immer noch den
besten Rahmen für politische Problemlösungen bietet: den Rechtsstaat und die parlamentarische
Demokratie.
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