Seiten

Donnerstag, 22. Mai 2025

Kulturbrief 27: Eine kleine Rede für Europa

Meine Heimatgemeinde Gallneukirchen feierte am 9.Mai ein Fest für Europa. Besonders erfreulich war, dass es von den vier Europa-Gemeinderäten (SPÖ, ÖVP, Grüne, FPÖ) gemeinsam gestaltet und verantwortet wurde. Ich nahm die Einladung, eine Festrede zu halten, gerne an.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Heute vor 75 Jahren, am 9. Mai 1950, schlug der französische Außenminister Robert Schuman vor, eine europäische Gemeinschaft zu gründen, deren Mitglieder ihre Kohle- und Stahlproduktion zusammenlegen sollten. Warum und wozu? Schumann war einer jener Politiker, die aus der Geschichte gelernt hatten, insbesondere aus der des Zweiten Weltkriegs. Fanatischer Nationalismus und imperialer Größenwahnsinn hatten Europa in eine Katastrophe geführt.

Schumanns kluge Überlegung erwies sich als haltbar. Durch die Zusammenlegung der wirtschaftlichen Produktion im Bergbau und in der Schwerindustrie wurde ein weiterer europäischer Krieg, vor allem zwischen den traditionellen Erzfeinden Frankreich und Deutschland, aus rein materiellen Gründen so gut wie unmöglich. Die EGKS mit ihren sechs Gründungsmitgliedern war die erste supranationale europäische Institution. Ihr sollten bald andere folgen, denn man erkannte, dass europäische Zusammenarbeit nicht nur den Frieden sicherte, sondern auch wirtschaftliche Erfolge ermöglichte.

Die 70-jährige Erfolgsgeschichte der Europäischen Union möchte ich am Beispiel einiger markanter Ereignisse würdigen.

·         Im November 1950 einigten sich die Mitglieder des Europarats auf die „Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ als einem völkerrechtlichen Vertrag.

·         Am 19. März 1958 trat in Straßburg zum ersten Mal die „Europäische Parlamentarische Versammlung“ zusammen. Dies gilt als Geburtsstunde des Europäischen Parlaments.

·         In den sechziger Jahren einigten sich die damaligen Mitgliedsländer auf eine gemeinsame Agrarpolitik, internationale Handelsabkommen wurden geschlossen und interne Zollschranken abgebaut.

·         Die ökonomischen Erfolge der damaligen EWG zogen in den Siebzigerjahren neue Mitgliedsländer an: Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich (Jänner 1973). Griechenland, Spanien und Portugal folgen in den Achtzigerjahren.

·         Und 1989 passiert etwas, das auch geeichte Politikexperten überrascht. In Russland und in den osteuropäischen Ländern bricht der Kommunismus zusammen. Dieses Jahrhundertereignis bringt eine Bewegung in die europäische Politik, in deren Sog auch Österreich gerät. Gemeinsam mit Schweden und Finnland tritt Österreich am 1. Jänner 1995 der Europäischen Union bei. Nie habe ich das Denken und Reden über Europa optimistischer erlebt als in den späten neunziger Jahren. Auch die Einführung des Euro 2002 fand noch vorwiegend positive Resonanz.

Warum ist es seither schwieriger geworden? Warum ist die Zustimmung zum gemeinsamen Europa gesunken, nicht nur bei uns in Österreich?

·         Erstes Stichwort EU-Erweiterung: Seit 2004 kamen elf mittel- und osteuropäische Länder zur EU (Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kroatien). Das Erfreuliche daran: die Spaltung Europas in Ost und West scheint damit überwunden zu sein. Das Schwierige: Hier müssen unterschiedliche politische Kulturen und unterschiedliche ökonomische Strukturen erst einmal zueinanderfinden. Die Entscheidungsfindung in der Kommission und im Rat wird schwieriger. Der Aufwand an Bürokratie wirkt bisweilen umständlich, bevormundend und zu teuer.

·         Zweites Stichwort: Die Finanzkrise von 2008, mit deren drastischen Folgen auch Europa jahrelang zu kämpfen hatte.

·         Drittes Stichwort: Migration. Im Jahr 2015 suchten mehr als eine Million Asylbewerber in Europa Zuflucht– mit allen bekannten Folgen und Herausforderungen. 2016 kam es nicht zuletzt deshalb zum Brexit, das Vereinigte Königreich erklärte seinen Austritt aus der EU und vollzog ihn vier Jahre später.

·         Viertes Stichwort: die Auswirkungen des Klimawandels. Darauf reagierte die EU 2019 mit einer Richtungsänderung in der Wachstumsstrategie, dem „Green Deal“ – sein Ziel: Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Eine Strategie, die nicht nur Zustimmung gefunden hat.

·         Am Beginn unseres Jahrzehnts machte uns die Corona-Pandemie große Sorgen, und seit mehr als drei Jahren müssen wir erleben, was die Gründergeneration der EU unbedingt verhindern wollte: In Europa wird wieder Krieg geführt. – Und wenn wir von Schwierigkeiten sprechen, dann können wir derzeit von gewissen US-amerikanischen Kuriositäten und ihren Auswirkungen auf die EU nicht schweigen.

Meine Damen und Herren, unser Leben im gemeinsamen Europa ist nicht einfacher geworden. Das sollte uns aber nicht dazu verführen, der europäischen Idee resignativ oder gar unversöhnlich den Rücken zuzukehren. Ein Zerfall der EU, ein Zurück zu nationalstaatlicher Eigenbrötelei wäre in unserer global vernetzten Welt kein tragfähiges Zukunftskonzept; weder ökonomisch, noch demokratiepolitisch, noch kulturell.

Ja, es gibt Probleme, und ja, die Meinungen, wie diese Probleme gelöst werden könnten, die gehen auseinander, zum Teil weit auseinander. Das ist aber normal in Demokratien. Sorgen wir dafür, dass diese unterschiedlichen Meinungen frei ausgesprochen, gehört und diskutiert werden; aber bitte nicht in geifernder Gehässigkeit, nicht in selbstherrlicher Überheblichkeit, sondern im Rahmen einer fairen, respektvollen Gesprächskultur unter erwachsenen Menschen – und mit dem Ziel, das gemeinsame Europa durch Kritik zu verbessern, nicht mit dem Ziel, es durch Dauerdiffamierung zu zerstören. Last but not least: Achten wir darauf, dass wir das politische System kultivieren (d.h. erhalten, pflegen, verbessern), das immer noch den besten Rahmen für politische Problemlösungen bietet: den Rechtsstaat und die parlamentarische Demokratie.