Ich mag Kurzgeschichten und kürzere Erzählungen, die künstlerische Idee mit handwerklicher Präzision verbinden. Wirkliche Meisterwerke dieser Art sind selten. Anna Weidenholzers neueste Prosa gehört für mich dazu! Dazu meine OÖN-Rezension:
Peter Bichsel, der Meister subtiler Kurzprosa, ist kürzlich
knapp vor seinem neunzigsten Geburtstag gestorben. Aber sein literarisches Erbe
lebt. Anna Weidenholzer setzt es fort, nicht im Sinne von Epigonentum, sondern als
kreative, originelle Weiterentwicklung einer großen Tradition. In ihrem neuen Buch
„Hier treibt mein Kartoffelherz“ bündelt die Autorin 26 Erzähltexte zu vier Blöcken,
die den Jahreszeiten entsprechen. Es gibt aber auch andere Zusammenhänge, zum
Beispiel Handlungsräume: ein Dorf in den Bergen, ein öffentliches Freibad. Auch
Titel und daran gebundene Motive kehren mehrmals wieder: „Möglichkeiten der
Zeitgestaltung“, „Formen der Kontaktaufnahme“.
Anna Weidenholzer erzählt Alltagsgeschichten der besonderen
Art. Jedes Jahr, pünktlich am 21. Oktober, kommt ein Pensionsgast ins
Gebirgstal, den die ehemalige Pensionswirtin den „Flachländer“ nennt. Es
scheint ihm wichtig zu sein, dass nichts, aber auch gar nichts in seinem Zimmer
Nr.6 verändert wird. Hat er einen Tic? Und wenn ja, ist er harmlos? Eines Tages
kommt es zu Meinungsverschiedenheiten über den „richtigen“ Standort eines
ausgestopften Eichhörnchens – und der Fachländer kommt nie mehr wieder.
Rätselhaft verhält sich auch die „Frau Künstlerin“, die nach
einem längeren, durch ein Stipendium finanzierten Aufenthalt unfähig ist, ihr
Zimmer für den nächsten Gast freizugeben. Und was treibt die Frau Magister an,
die davon überzeugt ist, dass es ein grobes Versäumnis ist, den Gästen eines
Freibads das Pflanzjahr der Bäume vorzuenthalten?
Jeder Mensch hat seine irrationalen Seiten. Das macht
einerseits das Leben unserer Spezies abwechslungsreicher, bisweilen auch
lustiger, andererseits ist die Grenzregion zwischen bloßer Skurrilität und
problematischer Unheimlichkeit schmal. In diesen mehrdeutigen Zwischenräumen
siedelt Anna Weidenholzer ihre Prosatexte an. Das Absurde bricht nahezu geräuschlos
in den vermeintlich „normalen“ Alltag ein.
„An und für sich war es kein außergewöhnlicher Tag“. Mag
schon sein, es könnte aber einer werden. Zum Beispiel dann, wenn Milan seine ehemalige
Klavierlehrerin in ihrem Seniorenwohnheim besucht. „Die Gruber“ hat im Alter
das Bedürfnis entwickelt, ihre Mitbewohner durch geschmacklose Scherzartikel zu
erschrecken. Könnte sie dabei zu weit gegangen sein?
Der Prosaband „Hier treibt mein Kartoffelherz“ umfasst bescheidene 155 Seiten, die Leserinnen und Leser sollten sich aber viel Zeit für diese Kurz- und Kürzestgeschichten, Momentaufnahmen und Prosaminiaturen nehmen. Nur bei konzentrierter Lektüre entfalten sich der stilistische Reichtum, der feine Humor und die subtile Zeichendichte zu voller Wirkung. Es gibt viele gelungene Bücher in der Gegenwartsliteratur. Den Ehrentitel „Sprachkunstwerk“ verdienen trotzdem nicht alle. „Hier treibt mein Kartoffelherz“ gehört sicher dazu.
Anna Weidenholzer: „Hier treibt mein Kartoffelherz“, Matthes
& Seitz, 155 Seiten, 23,50 Euro